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Klar, stringent und mit hintergründiger Ironie

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Stellen das Grundgesetz auf den Kopf: Jeff Pham, Micha Baum und Gustavo de Oliveira Leite (v.l.). Foto: Bils © Bils

Das Stück »in decent times« thematisiert ungeschriebene Regeln des Zusammenlebens im europäischen Raum, sucht nach Antworten und findet sie im Stadttheater Gießen auf seine spezielle Weise.

Gießen . Hohe schwarze Wände umgrenzen den Spielraum, dazwischen, scheinbar willkürlich und wahllos, liegen an den Rändern weiße Ytong-Steine, Stühle, Geschirr und Besteck verstreut auf grünem Kunstrasen, ein Tisch liegt zur Seite gekippt am Boden; dazwischen agieren kraftvoll und expressiv die vier Protagonisten Borys Jaznicki, Jeff Pham, Micha Baum und Gustavo de Oliveira Leite. Aus dem Anfangsszenario entwickelt sich das Physical Theatre »in decent times« von Constantin Hochkeppel, dem künstlerischen Leiter der Sparte Tanz des Stadttheaters Gießen, das am Freitagabend Premiere hatte.

Das Stück thematisiert die ungeschriebenen Regeln des Zusammenlebens im europäischen Raum, sucht nach Antworten und findet sie auf seine spezielle Weise: manchmal irritierend, manchmal zum Brüllen komisch, aber immer klar, stringent und mit viel hintergründiger Ironie in Szene gesetzt.

Die vier Männer, uniformiert gekleidet mit einer Art Springerstiefeln, Jogginghosen und T-Shirts, ordnen zunächst strukturiert das Chaos der Fläche, um schließend gemeinsam am Tisch sitzend sich die verschiedensten Sprichwörter an den Kopf zu schleudern. Sie sitzen nicht nur einfach dort, sondern essen gemeinschaftlich. Ein gesellschaftliches Ereignis, bei dem sehr viel schief laufen kann, wenn man die ungeschriebenen Regeln nicht kennt oder sie verletzt. Und genau das geschieht.

Sie schreien sich bekannte Sprichwörter wie »Liebe geht durch den Magen«, oder »Wer zuerst kommt, mahlt zuerst« gegenseitig ins Gesicht, reden mit vollen Mund, spucken und kotzen Getränke und Essen wieder aus: Genauso mühsam wie an dem vorgesetzten Essen arbeiten sie sich an den deutschen Regeln ab. »Hier wird deutsch gesprochen!« und auch so gehandelt, bis hin zum klassischen deutschen Volkstanz. Eine Karikierung der scheinbar klaren Regeln einschließlich der stillschweigenden Grenzüberschreitungen in Richtung Sexismus und Ausgrenzungen.

Ebenso kritisch hinterfragt wird das Grundgesetz. Kopfüber hängend unter dem Tisch, der so viel mehr bedeuten kann als ein reines Möbelstück, zitieren sie die ersten Artikel und stellen es sprichwörtlich auf den Kopf.

Den atmosphärisch dichten Klangteppich erstellte Marco Mlynek, unter Verwendung eines präparierten Pianos, das sich beinahe brutal in den sonst fast mystisch anmutenden Musikfluss einbrachte und damit seine eigene Zäsuren setzte. Dank der makellosen Leistungen von Borys Jaznicki, Jeff Pham, Micha Baum und Gustavo de Oliveira Leite eröffnete sich mit dem Stück ein kleines theatralisches Kleinod, dessen Ende in seiner Heftigkeit erstaunte, denn nur drei der Protagonisten überleben den Ritt durch die Regeln.

Bühnen- und Kostümbild wurden von Johann Brigitte Schirma gestaltet, die zuletzt auch beim Tanzabend »Die andere Seite« verantwortlich zeichnete. Beide Künstler hatten bereits an der Urfassung des Stücks 2019 ebenfalls mitgewirkt. Ein Zusammenarbeit, die sich lohnt. Und die vom Gießener Publikum zu Recht mit viel Applaus belohnt wurde.

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