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Studieren ohne Abitur: Ein Fleischermeister erzählt, wie er es an die Uni geschafft hat

Sven-Christoph Jung hat es dank seines Meistertitels an die Uni geschafft. Unserem Autor erzählte der Lehramtsstudent von seinem ungewöhnlichen Bildungsweg, verriet praktische Tipps fürs Studieren ohne Abitur und möchte Auszubildenden Mut machen, es ihm gleichzutun 
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Studieren ohne Abitur aber mit Meistertitel.Getty Images

Studieren ohne Abitur: Sven-Christoph Jung hat es mit einem Meistertitel an die Uni geschafft

“Ich habe das schon genau geplant.” Diesen Satz sagt Sven-Christoph Jung häufig. Der 28-Jährige freut sich so sehr auf seine Zukunft, dass er über sie spricht, als sei sie bereits Realität. Aus seinen Erzählungen ist herauszuhören: Diese Einstellung ist Teil seines Erfolgs. Bei jeder erklommenen Stufe, weiß er schon längst, was er als nächstes anpacken will – und arbeitet hart daran, dass es auch klappt. (Lesen Sie auch: Berufseinsteiger: So werden Sie von den Kollegen ernst genommen)

Es ist wohl diese Kombination aus früher Planung, Fleiß und Optimismus, mit der Jung etwas geschafft hat, das nur relativ wenige in Deutschland erreichen: Seit Oktober 2019 ist er einer von 64.000 Menschen ohne Abitur, die im Jahr von Jungs Studienstart an einer deutschen Universität eingeschrieben waren. Die Zahl stammt aus einer aktuellen Studie des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE). In Münster studiert er Deutsch, Englisch, Geografie und Geschichte auf Lehramt für die Sekundarstufe I. Seine Eintrittskarte in die Uni war nicht das Abitur, sondern der Meistertitel als Fleischer.

Nur 2,2 Prozent der Studierenden nutzen eine Ausbildung als Zugangsberechtigung zur Uni

“Das Studium über den beruflichen Weg hat sich als Alternative zum klassischen Abitur in Deutschland etabliert. Damit steht die hochschulische Bildung sehr viel mehr Menschen offen als noch zu Beginn der 2000er Jahre”, sagt Frank Ziegele, Geschäftsführer des CHE. Akademische und berufliche Bildung seien nicht mehr getrennt zu betrachten. Fakt ist jedoch: Auch wenn die Zahlen stetig steigen – zwischen 2018 und 2019 etwa um 1.750 Personen – gehen nur verhältnismäßig wenige Menschen den beschwerlichen Weg, ohne Abitur zu studieren. Gerade einmal 2,2 Prozent aller Studierenden nutzen ihre Ausbildung oder den Meister als Zugangsberechtigung.

Für Sven-Christoph Jung liegt das nicht etwa daran, dass es aufgrund fehlender Qualifikation nicht zu schaffen sei, ohne Gymnasialabschluss ein Studium zu meistern oder einen Platz an einer Uni zu bekommen. “Das Problem ist, dass viele Auszubildende und Realschüler gar nichts von ihren Möglichkeiten wissen, an einer Universität zu studieren”, sagt er. “Mir wurde das nie gesagt – weder in der Schule, noch auf der Berufsschule oder in meinem Ausbildungsbetrieb. Und das eine Mal, als mir ein Dozent während der Vorbereitung zu meiner Gesellenprüfung von meinen Studienmöglichkeiten erzählte, sagte mir sein Unterton: ‘Aber das machst du ja eh nicht.’ Da hatte er sich jedoch getäuscht.” (Lesenswert: Was soll ich studieren? Warum sich Geisteswissenschaften und eine Karriere in der Tech-Welt nicht ausschließen)

Dennoch war es eben jener Dozent, der Jungs Lebenspläne verändern sollte. “Von ihm erfuhr ich: Mit einem Meisterabschluss kann ich theoretisch jedes Fach studieren. Sofort wusste ich: Genau das will ich machen.” Er habe sich schon lange gewünscht, zu studieren. “Ich hielt das jedoch zuvor lange nicht für realistisch.”

Dass er die Arbeit als Fleischer nicht für immer machen möchte, stand für Jung früh fest: “Ich habe mich bereits zu Tode gelangweilt, als ich mit 22 mit meiner Ausbildung angefangen habe. Ich war zu jung, um von nun an 40 Jahre lang das gleiche zu machen.”

Die Entscheidung für den Wechsel in die akademische Welt bedeutete für Jung vor allem eines: Er musste lange recherchieren. “Zuerst war für mich alles neu”, sagt er. “Die Bezeichnung ‘Bachelor’ kannte ich erst einmal nur aus der Reality-Fernsehsendung. Das zeigt, wie wenig Berührung ich bis zu diesem Zeitpunkt hatte.”

Die Meisterschule ging in Jungs Fall nur sechs Monate. Nachdem er im Sommer 2019 seine Prüfung beendet hatte, schrieb er sich sofort an der Universität ein. Er habe nicht einmal eine Mindestnote erfüllen müssen: Einen NC habe es für ihn nicht gegeben. Er klingt stolz, wenn er von diesem Meilenstein erzählt: “Als ich meinen Uni-Ausweis bekommen habe, musste ich ihn immer wieder ansehen, weil ich so glücklich war. Ich hatte diese Karte in der Hand und dachte mir: ‘Ach, wie schön!’ Ich wusste: Es hat funktioniert.”

Ebenso stolz ist Jung auf seinen Meisterbrief. Dieser hängt nun prominent platziert in seiner Wohnung. An seinem ersten Tag in der Uni war Jung euphorisch. In der Geographievorlesung freute er sich: “Wahnsinn, ein echter Professor!” Er sei überrascht gewesen, wie menschlich dieser gewirkt habe – und verwundert, dass dieser sich während seiner Vorträge selbst zitierte. (Auch interessant: Jungpolitikerin Noreen Thiel will mit 18 in den Bundestag)

“Die Freude währte jedoch nicht lange”, sagt Jung. Er musste erstmal “das Lernen lernen”, wie er sagt, und verstand, “dass man jede Veranstaltung nacharbeiten muss.” Daher las und lernte er die gesamte zugehörige Literatur: Ein ungeheuerlicher Aufwand. “Niemand hatte mir gesagt, dass man nicht immer alles derart detailliert lernen muss. Ich musste selbst merken, dass hier Prioritäten gesetzt werden müssen.” Schwerpunkte muss Jung allein aus Zeitgründen setzen: Neben seinem Studium arbeitet er weiterhin als Fleischer.

Was Jung anfangs ebenfalls beschäftigte: Er fühlte sich als Studierender ohne Abitur oft nicht zugehörig. “Ich komme nicht aus einem Akadamikerhaushalt. Die meisten anderen in der Uni schon. Zudem bin ich durch meine Ausbildung deutlich älter als die meisten anderen.” Was dazukam: “Ich merkte, dass nicht alle, aber die meisten aus einem ganz anderen Milieu kommen als ich und schon von zuhause aus deutlich mehr Geld haben.”

Spätestens als er am ersten Vorlesungstag von Kommilitonen mit teuren Apple-Produkten umringt gewesen sei, habe er sich gedacht: „Es gibt da die Welt meiner Familie und der Menschen in meinem Betrieb – und die Welt der Uni und der Akademiker. Die zwei Welten, die ich kennengelernt habe, haben nichts miteinander zu tun.“ Er habe sich völlig neu orientieren müssen. (Lesen Sie auch: Wie Adam Harvey mit einem Algorithmus Menschenrechtsverletzungen in Syrien aufdecken will)

Und auch Jungs Art zu studieren unterscheidet sich sehr von der vieler anderen: Da er Bafög-Geld vom Staat bekommt, muss er im Semester eine gewisse Anzahl an Leistungspunkten erreichen. Schafft er das nicht, drohen Probleme. “Dadurch lastet ein immenser Druck auf mir, während andere angstfreier studieren können.”

Anderen Studieninteressierten ohne Abitur rät Jung, dass sie sich geeignete Unterstützung suchen und jede Art von Information zum Studium aufnehmen sollen, die sie bekommen können. Nur wer wisse, wie das akademische Leben funktioniert, könne sich an der Uni zurecht finden und den Abschluss schaffen.

Besonders große Hilfe habe er bei der Organisation “Arbeiterkind” erhalten: Dort wird Menschen, die nicht aus Akademikerfamilien kommen, schon während der Ausbildungszeit und darüber hinaus geholfen: Ehrenamtliche in lokalen Gruppen versorgen sie mit Informationen oder begleiten sie persönlich. Auch die Organisation “Netzwerk Chancen” könne er empfehlen.

Wichtig sei es, sich untereinander gut zu vernetzen. “Es gibt einfach nicht viele Studierende ohne Abitur”, sagt Jung. “Weitere Studierende, die ihre Zulassung über den Meister erhalten haben, kenne ich nicht einmal persönlich, weil es so wenige sind. Deshalb muss man in Kontakt bleiben, von einander lernen und sich gegenseitig helfen wenn man es schaffen möchte.” (Lesen Sie auch: “Reviving Home”: Wie ein syrischer Start-up-Gründer seine zerstörte Heimat wiederaufbauen will)

Schon vor der Uni ging Jung ungewöhnliche Wege

“Es gibt so viele tolle Möglichkeiten und Programme für Auszubildende und Studierende”, erklärt Jung. Das Problem sei hier jedoch, wie so oft: “Niemand erzählt einem davon!” Sobald man allerdings aktiv danach suche, werde man fast automatisch fündig.

So hat er selbst schon zum Ende seiner Ausbildung bei dem Erasmus-Programm der Europäischen Union teilgenommen. Erasmus kennen die meisten wohl von der Auslandsförderung von Studierenden aus Europa. Es werden jedoch auch Auszubildende unterstützt, die gerne Auslandserfahrung während und nach der Ausbildung und Meisterschule sammeln möchten.

Jung zog es damals in ein, wie er es nennt, “800-Seelen-Nest” in Doneraile, County Cork, Irland. Dort arbeitete er sechs Monate lang als Praktikant bei einer lokalen Fleischerei. Untergekommen war er bei einer Gastfamilie im Ort. “Es gab zwar noch Erasmus-Teilnehmer aus anderen Teilen Europas, mit denen ich zusammenlebte, aber ich war während meines Aufenthalts der einzige Deutsche in diesem Dorf. Das hat mein Englisch ungemein verbessert.” Sogar den irischen Dialekt könne er sehr gut verstehen und auch ein wenig imitieren. (Lesen Sie auch: Wie Jonas Muff den Zugang zu Gesundheitsversorgung durch künstliche Intelligenz fairer und globaler machen will)

Sein Karriere-Plan steht bereits

Die Zeit in Irland hat Jung derart geprägt, dass er fest damit rechnet, dort nach seinem Studium als Lehrer zu arbeiten. “Der Vorteil eines Studiums ist, dass ich danach frei bin, solche außergewöhnlichen Dinge zu erleben”, sagt Jung. Die harte Arbeit und das viele Lernen sollten sich auch lohnen. Ohnehin hat er sich schon einen genauen Plan überlegt: “Mit 33 Jahren sollte ich fertig mit dem Studium sein. Dann möchte ich gerne ins Ausland – um dann wiederzukommen und besonders durch meine dort gewonnen Sprachkenntnisse eine tolle Stelle zu bekommen. Nach meinem Plan bin ich dann mit 41 Jahren verbeamtet.”

Vorher nimmt er jedoch erneut an dem Erasmus-Programm teil: In wenigen Wochen wird er für einige Monate im italienischen Bologna studieren. Dafür lernt er schon seit Monaten fleißig Italienisch in einem Universitätskurs und im Selbststudium. Seine Italienischkenntnisse reichten bereits aus, um während einer Reise nach Bologna eine Wohnung zu mieten, die er nun in Kürze bewohnen wird. Das Lernen der Sprache hat auch ganz praktische Gründe: Um im Master weiterhin studieren zu dürfen, muss er bis dahin eine zweite Fremdsprache auf der Niveaustufe A2 beherrschen. (Lesenswert: Wie Marius Siegert mit KI die Finanzmärkte demokratisieren will)

Mit Blick auf seine Kariere macht sich Jung keine Sorgen. Er ist sich nämlich sicher, dass ihm sein außergewöhnlicher Bildungsweg weiterhelfen wird. “Bereits bei meinem Pflichtpraktikum habe ich gemerkt, dass meine Erfahrungen von großem Vorteil für die Arbeit als Lehrer sind. So konnte ich der Schulklasse, die ich dabei unterrichtet habe, beispielsweise im Detail erklären, wie die Arbeitswelt funktioniert. Das hat die Lehrer sehr beeindruckt.”

Jung hat nicht vergessen, dass ihm zu Schulzeiten niemand auch nur von seiner Möglichkeit zu studieren erzählt hat. Er möchte es anders machen – und sich zur Lebensaufgabe machen, Kindern und Jugendlichen damit zu inspirieren, ihnen alle erdenklichen Karrieremöglichkeiten aufzuzeigen. Denn er weiß ganz genau: "Besonders in einem nicht geradlinigen Bildungsweg liegen unglaubliche Chancen: Für mich und meine berufliche Zukunft, aber auch für die Gesellschaft ist es unglaublich nützlich, beide Welten zu kennen: Handwerk und Studium.“

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