Organisationspflichten der Unternehmensleitung zur Vermeidung der Produkthaftung


Masterarbeit, 2011

61 Seiten, Note: 2,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

A. Einleitung

B. Fundament der Organisationspflichten des Vorstandes
I. Ableitung der gesellschaftsexternen Organisationspflichten
II. Ableitung der gesellschaftsinternen Organisationspflichten
1. Zuordnung der Organisationspflichten zu der Sorgfaltspflicht
2. Abgrenzung der Organisationspflichten von der Leitungspflicht
III. Einfluss technischer Normen und Unfallverhütungsvorschriften auf die Organisationspflichten

C. Konkretisierung der Organisationspflichten der Vorstandsmitglieder
I. Pflicht zur Einrichtung der Organisation
1. Pflicht zur Aufgabenverteilung innerhalb des Unternehmens
2. Pflicht zur Aufgabenverteilung innerhalb des Gesamtvorstandes
3. Einzel– und Gesamtverantwortung
II. Pflicht zur Aufsicht und Kontrolle innerhalb des jeweiligen Geschäftsbereiches
1. Auswahlpflicht
2. Einweisungspflicht
3. Überwachungspflicht
4. Handlungspflicht
III. Pflicht zur Aufsicht und Kontrolle innerhalb des Gesamtvorstandes
1. Gegenseitige Informationspflicht
2. Überwachungspflicht
3. Handlungspflicht
4. Interventionspflicht
IV. Pflicht zur Übernahme der Herstellerpflichten aufgrund mangelnder Delegation
1. Konstruktionspflicht
2. Fabrikationspflicht
3. Instruktionspflicht
4. Produktbeobachtungspflicht

D. Entlastungsmöglichkeiten der Vorstandsmitglieder
I. Dezentralisierter Entlastungsnachweis
II. D&O-Versicherung

E. Fazit

Literaturverzeichnis

Ehrenwörtliche Erklärung

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

A. Einleitung

Unzählige Unternehmen bringen Produkte in den Verkehr und sind arbeitsteilig organisiert. Das Verhalten jedes einzelnen Mitarbeiters, der in irgendeiner betrieblichen Funktion mit dem Produkt zu tun hat, wird in den größeren betrieblichen Zusammenhang eingebettet. Den Mitgliedern der Unternehmensleitung obliegt die Pflicht zur Organisation des Unternehmens.

In der vorliegenden Untersuchung wird die Unternehmensleitung durch den geschäftsführenden Vorstand einer Aktiengesellschaft verkörpert. Unter dem Hersteller ist grundsätzlich die AG selber zu verstehen. Die hier dargelegten Grundsätze sind auch nahezu auf die Geschäftsführer einer GmbH übertragbar.

Die AG ist als juristische Person selber nicht handlungsfähig. Der Vorstand ist das Leitungsorgan der Aktiengesellschaft und ist im Innenverhältnis zur Geschäftsführung sowie im Außenverhältnis zur Vertretung der AG berufen. Gemäß § 76 I AktG übt der Vorstand seine Leitungsfunktion unter eigener Verantwortung aus. Die Leitungsaufgaben stellen nur einen Teil der Maßnahmen der Geschäftsführung des Vorstandes dar. Gemäß § 93 I AktG haben die Vorstandsmitglieder bei ihrer Geschäftsführung die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters anzuwenden. Nach dem Prinzip der Fremdorganschaft können auch Nichtgesellschafter als geschäftsführende Organe fungieren, sodass Vorstandsmitglieder nicht selber Aktionäre sein müssen.

Für die Ausarbeitung der Organisationspflichten des Vorstandes zur Vermeidung der Produkthaftung bedarf es zunächst folgende Differenzierungen: Es wird zwischen der zivilrechtlichen und straf-rechtlichen Produkthaftung unterschieden. Die Haftung nach dem ProdHaftG wird als die zivilrechtliche Produkthaftung im engeren Sinne verstanden. Die zivilrechtliche Produkthaftung im weiteren Sinne umfasst neben der Produkthaftung nach dem ProdHaftG auch die deliktische Produzentenhaftung nach dem BGB.[1] Die Schadensersatzansprüche nach dem ProdHaftG und der deliktischen Produzentenhaftung nach § 823 I BGB stehen gemäß § 15 II ProdHaftG nebeneinander, sodass der Geschädigte seinen Anspruch auf die für ihn jeweils günstigere Anspruchsgrundlage stützen kann. Gemäß § 4 ProdHaftG haftet der Hersteller und nicht die Unternehmensleitung oder ein sonstiger Mitarbeiter für einen Produktfehler.[2] Da die persönliche Haftung der Vorstandsmitglieder für die Verletzung ihrer Organisationspflichten gegenüber den geschädigten Dritten im Fokus der Untersuchung steht, wird die Haftung des Unternehmens nach dem ProdHaftG nur am Rande erwähnt. Die Gesellschaft kann die Vorstandsmitglieder in Regress nehmen, wenn sie selber haften müsste und die Vorstandsmitglieder ihr gegenüber eine Organisationspflicht verletzt haben. Daher wird im folgenden Kontext zwischen den gesellschaftsexternen und gesellschaftsinternen Organisationspflichten der Vorstandsmitglieder differenziert.

Anhand der BGH-Entscheidung „Baustoffgroßhändler“[3] ist die Haftung von Vorstandsmitgliedern für eine Organisationspflichtverletzung gegenüber den geschädigten Dritten von der Haftung gegenüber der Gesellschaft wie folgt zu trennen: Wenn ein Vorstandsmitglied bei der Erfüllung von Pflichten versagt, die der Gesellschaft gegenüber Dritten auferlegt sind, trifft die Einstandspflicht die Gesellschaft gemäß § 31 BGB. Das Vorstandsmitglied haftet bei Pflichtverstößen in erster Linie gegenüber der Gesellschaft, da seine gesellschaftsinternen Organisationspflichten gegenüber der Gesellschaft und nicht gegenüber Dritten bestehen. Das soll nicht gelten, wenn mit den Pflichten aus der Organstellung gegenüber der Gesellschaft Pflichten einhergehen, die das Vorstandsmitglied aus besonderen Gründen persönlich gegenüber dem Dritten treffen. Der BGH führt für den außervertraglichen, deliktischem Bereich die Garantenstellung zum Schutz fremder Schutzgüter i.S.d. § 823 I BGB an. Das Vorstandsmitglied hat in seinem Aufgabenbereich die Verantwortung für seine persönliche Einflussnahme auf die Gefahrenabwehr bzw. -steuerung gegenüber Dritten zu tragen. Diese Verantwortung begründet eine persönliche Haftung des Vorstandsmit-gliedes bei Verletzung seiner Organisationspflichten und liegt in den Produkthaftungsfällen besonders nahe.[4] Nach dem BGH kann eine gesellschaftsinterne Organisationspflicht des Vorstandsmitgliedes eine Verhaltenspflicht i.S.d. § 823 I BGB verkörpern, wenn es sich um den Schutz der dort genannten Rechtsgüter vor einer vom Produkt ausgehenden Gefahr handelt.[5] In diesem Falle wird von einer gesellschaftsexternen Organisationspflicht des Vorstandsmitgliedes gesprochen.

Unabhängig von der Schadensausgleichsfrage stellt sich die Frage nach einer Strafbarkeit des Vorstandes für das Inverkehrbringen fehlerhafter Produkte z.B. aufgrund von Tötungsdelikten nach §§ 212, 222 StGB und Köperverletzungsdelikten nach §§ 223 ff. StGB. Der Vorstand hat auch eine strafrechtliche Verantwortung bei der Verwirklichung von Straftatbeständen des Nebenstrafrechts, wie beispielsweise des GPSG oder des MPG.[6] Mögliche Rechtsfolgen der Strafhaftung sind die Freiheits- und Geldstrafe nach §§ 38 ff. StGB. Die Rechtsfolgen des deutschen Strafrechts treffen nur natürliche Personen. Eine Ausnahme stellt § 30 OWiG dar. Wenn das Vorstandsmitglied eine Straftat oder Ordnungs-widrigkeit begangen hat, kann dem Unternehmen eine Geldbuße auferlegt werden.[7] Nach dem BGH-Urteil „Lederspray“[8] scheinen die Pflichten, die für die deliktische Produzentenhaftung maßgebend sind, auch Grundlage strafrechtlicher Produkthaftung zu sein. Die schadensersatzorientierten Haftungsprinzipien des Zivilrechts dürfen aber nicht leichtfertig zur Bestimmung strafrechtlicher Verantwortlichkeit herangezogen werden. Der strafrechtliche Verschuldensbegriff und der Verschuldungsmaßstab des Deliktrechts haben gemeinsam, dass trotz innerbetrieblicher Arbeitsteilung der Vorstand bei der Produktion eine besondere Verantwortung trägt. Im Deliktsrecht wird die Frage nach den obliegenden Verkehrspflichten des Vorstandsmitgliedes ähnlich wie die Frage im Strafrecht nach seinen Sorgfaltspflichten beantwortet.[9] Der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit liegt bei der durch die Verletzung der Verkehrspflichten begründeten deliktischen Produzentenhaftung des Vorstandes. Auf die Rechtsprechung zur strafrechtlichen Produkthaftung wurde bei der Untersuchung der gesellschaftsexternen Organisationspflichten teilweise zurückgegriffen.

In Kapitel B werden die gesellschaftsexternen und gesellschaftsinternen Organisationspflichten getrennt voneinander abgeleitet. Die gesellschafts-externen Organisationspflichten folgen unmittelbar aus den Verkehrs-sicherungspflichten i.S.d. § 823 I BGB. Die gesellschaftsinternen Organisationspflichten folgen unmittelbar aus der Sorgfaltspflicht nach § 93 I AktG. Im Rahmen der Produkthaftung wird der Einfluss technischer Normen und Unfallverhütungsvorschriften auf die Organisationspflichten gesondert betrachtet.

In Kapitel C werden die Organisationspflichten des Vorstandes zur Vermeidung der Produkthaftung erörtert. Die gesellschaftsexternen Organisationspflichten zeichnen sich gegenüber den gesellschaftsinternen Organisationspflichten durch das zusätzliche Element der Gefahrenabwehr gegenüber Dritten ab. Innerhalb der beiden Pflichtenkreise sind keine Differenzierungen der einzelnen Organisationspflichten zu finden, da die gesellschaftsinternen Organisationspflichten zur Bestimmung der gesellschaftsexternen Organisationspflichten herangezogen worden sind. Die behandelten Organisationspflichten gelten sowohl gesellschaftsintern als auch gesellschaftsextern.

In Kapitel D werden Entlastungsmöglichkeiten der Vorstandsmitglieder vorgestellt. Das Vorstandsmitglied kann sich durch den Nachweis der ordnungsgemäßen Aufsicht und Kontrolle der Aufsichtsperson auf der nachgeordneten Ebene entlasten. Durch eine D&O-Versicherung können die Schadensersatzansprüche geschädigter Dritter gegenüber den Vorstandsmitgliedern abgedeckt werden.

B. Fundament der Organisationspflichten des Vorstandes

Die Vorstandsmitglieder haben bei ihrer Geschäftsführung bestimmte gesellschaftsexterne und gesellschaftsinterne Organisationspflichten zu erfüllen. Zunächst werden die gesellschaftsexternen Organisations-pflichten von den Verkehrspflichten nach § 823 I BGB abgeleitet. Die gesellschaftsinternen Organisationspflichten sind Teil der Verhaltenspflichten der Vorstandsmitglieder. Sie werden anschließend von der Sorgfaltspflicht nach § 93 I AktG abgeleitet. Die Organisationspflicht als gesellschaftsinterne Verhaltenspflicht i.S.d. § 93 I AktG wird der Organisationspflicht als gesellschaftsexterne Verhaltenspflicht nach § 823 I BGB gegenübergestellt. Aufgrund der gewählten Thematik wird der Einfluss von technischen Normen und Unfallverhütungsvorschriften auf die Organisationspflichten gesondert betrachtet. Diese Grundlagen dienen der Konkretisierung der Organisationspflichten im Kapitel C.

I. Ableitung der gesellschaftsexternen Organisationspflichten

Für die Pflichten zur Abwehr von Schäden aus Gefahrenquellen für Dritte hat sich in der Rechtsprechung und Literatur die Bezeichnung „Verkehrspflichten“ als Oberbegriff durchgesetzt.[10] Die Verkehrs-pflichten sind nicht im Gesetzestext zu finden, da sie ein reines „Produkt der Rechtsprechung“[11] zur Schließung einer Lücke im Haftungssystem des BGB sind. Die Rechtsprechung ist bemüht, sich den Änderungen der Rechtswirklichkeit anzupassen. Seit dem Inkrafttreten des BGB hat sich die Welt durch soziale, technische und politische Umwälzungen tiefgreifend geändert. Für jedes Missgeschick soll es einen Verantwortlichen geben, der zum Schadensersatz verpflichtet ist. Diese Vorstellung wurde mit Hilfe des Deliktsrechts erreicht, dem die Verkehrspflichten in § 823 I BGB zugeordnet worden sind.[12]

Die Verkehrspflichten differenziert man grundsätzlich in Warn-, Verbots- und Instruktionspflichten sowie Gefahrenverhütungs-, Gefahrenvermeidungs- und Gefahrenbeseitigungspflichten. Die erste Gruppe an Verkehrspflichten ermöglicht den Dritten sich auf die Gefahr einzustellen und ihr zu begegnen (Selbstschutz). Die Verkehrspflichten der zweiten Gruppe werden als Verkehrssicherungspflichten bezeichnet, da sie den Gefahrenherd verändern bzw. entschärfen.[13] Diesem Komplex lassen sich alle Gefahrenkontrollpflichten, Organisationspflichten, Auswahl- und Aufsichtspflichten, Erkundungs- und Benachrichtigungspflichten sowie Obhut- und Fürsorgepflichten zuordnen. Verkehrssicherungspflichten stellen somit einen Unterfall des Sammelbegriffs Verkehrspflichten dar.[14] Zwischen diesen beiden Verkehrspflichtkomplexen gibt es kein Rangverhältnis.[15]

Als einfaches Beispiel für eine Pflicht zur Sicherung des Verkehrs dient die im BGH-Urteil vom 30.01.1961[16] konkretisierte Verkehrspflicht zur regelmäßigen Überprüfung der Grabsteine auf Standfestigkeit. Durch eine solche Kontrolle wäre die von dem lockeren Grabstein ausgehende Gefahr für Dritte erkannt worden. Die Verantwortung für die Verkehrssicherheit trägt in einem solchen Falle die Gemeinde, da diese den Friedhof angelegt hat und unterhält („Eröffnung des Verkehrs“[17] ). Wenn man eine Gefahrenquelle im Verkehr schafft oder andauern lässt, muss man grundsätzlich alle nach der Lage der Dinge erforderlichen Sicherungsmaßnahmen ergreifen, damit Dritte nicht zu Schaden kommen.

Der Umfang der geschuldeten Verkehrs(-sicherungs-)pflichten wird am Beispiel des BGH-Urteils „Sprudelflasche“[18] wie folgt eingegrenzt: Der Verkehrspflichtige muss im Rahmen des ihm wirtschaftlich Zumutbaren und technisch Möglichen Gefahren im Umgang mit seinem Produkt möglichst ausschalten, die zu schweren Verletzungen Dritter führen können. Der Verkehrspflichtige hat sich an den berechtigten Sicherheitserwartungen des Verkehrs zu orientieren und dem ihm zumutbaren Aufwand zu betreiben.[19] Im Umkehrschluss sind Vorkehrungen als unzumutbar zu betrachten, deren Kosten in einem offensichtlichen Missverhältnis zur wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Verkehrspflichtigen oder zu Größe und Häufigkeit der Gefahr stehen.[20]

Im Fokus der weiteren Betrachtung stehen die Organisationspflichten, die aus den Verkehrssicherungspflichten folgen. Eine Verkehrs-sicherungspflicht qualifiziert sich erst dann zu einer Organisationspflicht, wenn dem Verkehrspflichtigem bzw. der Gesellschaft bei einem Verstoß nicht primär vorgeworfen wird, die erforderliche Gefahrenvermeidung selber herbeigeführt zu haben sondern die mangelnde Gestaltung seiner Rechtsphäre den Schwerpunkt des Vorwurfs bildet.[21]

Als Beispiel für die Differenzierung der Organisationspflichten von den Verkehrssicherungspflichten dient folgendes BGH-Urteil[22]: Der Kläger war Gast an einem Baggersee. Er sprang von einer schwimmenden Plattform in den See, schlug mit dem Kopf auf den Grund auf und ist seitdem querschnittsgelähmt. Dem Erstbeklagten, Betreiber der Freizeitanlage konnte kein Verstoß gegen die Verkehrssicherungspflicht vorgeworfen werden, da er nicht Träger der Verkehrssicherungspflicht bezüglich der Plattform gewesen ist. Die Betreiber von Sportstätten müssen innerhalb ihrer Rechtssphäre für die Sicherheit und Gefahrlosigkeit der Anlagen sorgen. Der Erstbeklagte hatte der Ortsgruppe G. des zweitbeklagten Landesverbandes der DLRG dieses Floß i.S.d. § 929 BGB übertragen, sodass der DLRG das Eigentum und damit die Pflicht zur Sicherung des Verkehrs an der Sache übernahm. Die Zweitbeklagte, der Landesverband der DLRG, sollte aufgrund Organisationsverschuldens haften. Gemäß § 31 BGB sollte der Verein als juristische Person für den Schaden des Vorstandes haften, dem eine mangelhafte Organisation vorgeworfen wurde. Der Vorstand sei nicht in der Lage gewesen, die sich aus dem Überlassungsvertrag ergebenden Verkehrssicherungspflichten zu erfüllen. Es gehört jedoch nicht zu seinen Aufgaben i.S.d. §§ 30, 31 BGB, die Sicherung eines von einer seiner Ortgruppen benutztes Floß zu überwachen. Die Haftung der Zweitbeklagten schied demnach aus. Ein Verstoß des Vorstandes wäre in diesem Sachverhalt anzunehmen, wenn dieser die Aufsicht des Floßes an die Ortsgruppe G. delegiert hätte und seiner eigenen erforderlichen Überwachungssorgfalt nicht nachgekommen wäre. Dazu hätten dem Vorstand ein an Selbständigkeit und Eigenverantwortung gemessener Aufgabenbereich mit mehr Umfang und Bedeutung eingeräumt werden müssen. Dann wäre eine Haftung des Vorstandes wegen Organisationsverschuldens gemäß §§ 823 I, 31 BGB möglich. In diesem Falle müsste der Verein für den Schaden gemäß § 31 BGB haften und könnte sich beim Vorstand entlasten.[23]

Im Unterschied zu den Verkehrssicherungspflichten führt bei den Organisationspflichten der Verkehrspflichtige seine Pflicht nicht selber aus. Der Verkehrspflichtige delegiert seine Pflicht an einen Dritten und stellt durch „Installation eines entsprechenden Gerüstes“[24] die Pflichterfüllung sicher. Die Delegation von Verkehrssicherungspflichten bedingt also die laufende Aufsicht und Überwachung der Gehilfen. An dieser Stelle muss zwischen den Begriffen Delegation und Übertragung differenziert werden: Eine Delegation beinhaltet den Übergang von Zuständigkeiten, Aufgaben oder Ähnliches. Eine Übertragung gemäß § 929 BGB beinhaltet neben dem Wechsel der Aufgabenwahrnehmung auch einen Rechtsträgerwechsel.[25]

Als eine weitere Quelle der Organisationspflichten ist neben der Delegation von Verkehrssicherungspflichten der unmittelbare Anwendungsbereich der Verkehrspflichten heranzuziehen. Die der AG als Hersteller obliegenden Verkehrspflichten müssen erfüllt werden. Der Vorstand muss die Verkehrspflichten der Gesellschaft selber erfüllen, wenn er diese nicht delegiert (Allzuständigkeit der Geschäftsführung).[26] Die Forderung nach Verkehrssicherheit verpflichtet den Vorstand, alle dafür erforderlichen Anordnungen zu treffen und eine entsprechende Organisation einzurichten, die erst die Delegation der Verkehrspflichten möglich macht.

In der Gesamtbetrachtung verkörpern Organisationspflichten aus der Verkehrssicherheit abgeleitete Pflichten der Unternehmensleitung.

II. Ableitung der gesellschaftsinternen Organisationspflichten

Die gesellschaftsinternen Organisationspflichten gehören zu den Verhaltenspflichten der Vorstandsmitglieder bei ihrer Geschäftsführung. Diese Verhaltenspflichten der Vorstandsmitglieder sind Teil der Sorgfaltspflicht gemäß § 93 I AktG. Verstöße gegen die gesellschafts-internen Verhaltenspflichtens führen gemäß § 93 II AktG zu einer Schadensersatzhaftung des Vorstandes gegenüber der Gesellschaft.

Im Folgenden werden die allgemeine Sorgfaltspflicht der Vorstands-mitglieder bei ihrer Geschäftsführungstätigkeit gemäß § 93 I 1 AktG und die Konkretisierung des Sorgfaltsmaßstabes nach § 93 I 2 AktG erörtert. Die Organisationspflicht als gesellschaftsinterne Verhaltenspflicht i.S.d. § 93 I AktG wird der Organisationspflicht als gesellschaftsexterne Verhaltenspflicht nach § 823 I BGB gegenübergestellt. Abschließend werden die Organisationspflichten als eigenständiger Pflichtenkreis von der Leitungspflicht nach § 76 I AktG abgegrenzt. Die Verantwortlichkeit der Vorstandsmitglieder für die Organisation der Gesellschaft beruht auf ihrer Leitungspflicht. Aber die aus der Verantwortung für die Organisation der Gesellschaft resultierenden Organisationspflichten werden nur § 93 I AktG zugeordnet.

1. Zuordnung der Organisationspflichten zu der Sorgfaltspflicht

Gemäß § 93 I 1 AktG haben die Vorstandsmitglieder bei ihrer Geschäftsführung die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters anzuwenden. Es handelt sich um eine generalklausel-artige Umschreibung der den Vorstandsmitgliedern obliegenden Sorgfaltspflicht. Dahinter steckt die Denkfigur vom hypothetisch richtigen Verhalten des Geschäftsführers. Als Maßstab wird der Fremdvergleich herangezogen. Die Rechtsprechung hat keinen eindeutigen Maßstab entwickelt, mit dessen Hilfe man das Bestehen dieses Fremdvergleiches garantieren könnte.[27] § 93 I 1 AktG ist nur eine Generalklausel und überlässt die Ausprägung der Verhaltenspflichten des Vorstandes der Rechtsprechung und der Literatur. Die Richtlinien für sein Handeln entnimmt der ordentliche und gewissenhafte Geschäfts-führer dem Gesetz, der Satzung und den rechtmäßigen Vorgaben anderer Gesellschaftsorgane sowie den durch die Rechtsprechung konkretisierten Anforderungen an das Unternehmensmanagement.[28]

[...]


[1] Martinek/Semler/Habermeier/Flohr, § 6 Rn. 10.

[2] Kullmann, § 4 Rn. 3.

[3] BGH 05.12.1989 – VI ZR 335/88, NJW 1990, 976 (977).

[4] Westphalen, § 25 Rn. 216.

[5] BGH 13.04.1994 – II ZR 16/93, NJW 1994, 1801 (1803).

[6] Kühne, NJW 1997, 1951 (1954).

[7] Achenbach/Ransiek – Kuhlen, Kap. II Abschn. 1 Rn. 6.

[8] BGH 06.07.1990 – 2 StR 549/89, NJW 1990, 2560 (2562).

[9] Westphalen, § 25 Rn. 220.

[10] Hagenbucher, NJW 1985, 177 (178).

[11] Geigel – Wellner, Kap. 14 Rn. 1.

[12] Hagenbucher, NJW 1985, 177.

[13] Geigel – Wellner, Kap. 14 Rn. 9.

[14] Matusche-Beckmann, S. 83.

[15] Bamberger/Roth – Spindler, § 823 Rn. 233.

[16] BGH 30.01.1961 – III ZR 225/59, NJW 1961, 868 (870).

[17] Hagenbucher, NJW 1985, 177 (178).

[18] BGH 07.06.1988 – VI ZR 91/87, NJW 1988, 2611 (2612).

[19] Bamberger/Roth – Spindler, § 823 Rn. 484.

[20] Hagenbucher, NJW 1985, 177 (179).

[21] Matusche-Beckmann, S. 88.

[22] BGH 16.02.1982 – VI ZR 149/80 NJW 1982, 1144.

[23] BGH 16.02.1982 – VI ZR 149/80 NJW 1982, 1144 (1145).

[24] Matusche-Beckmann, S. 91.

[25] Emmerich/Habersack – Emmerich, § 308 Rn. 16.

[26] Schmidt-Salzer, Band I, Rn. 1.242.

[27] Birle, Verdeckte Gewinnausschüttung, Rn. 34.

[28] Hölters, § 94 Rn. 2.

Ende der Leseprobe aus 61 Seiten

Details

Titel
Organisationspflichten der Unternehmensleitung zur Vermeidung der Produkthaftung
Hochschule
Helmut-Schmidt-Universität - Universität der Bundeswehr Hamburg
Veranstaltung
Risikomanagement im Bereich der Produkthaftung/-sicherheit
Note
2,7
Autor
Jahr
2011
Seiten
61
Katalognummer
V179231
ISBN (eBook)
9783656016335
ISBN (Buch)
9783656016458
Dateigröße
871 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
organisationspflichten, unternehmensleitung, vermeidung, produkthaftung
Arbeit zitieren
B.Sc. Christian Lau (Autor:in), 2011, Organisationspflichten der Unternehmensleitung zur Vermeidung der Produkthaftung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/179231

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Organisationspflichten der Unternehmensleitung zur Vermeidung der Produkthaftung



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden