Die geschichtliche Entwicklung des monistischen und dualistischen Verwaltungssystems bei Aktiengesellschaften

Von den Anfängen im 19. Jahrhundert bis zur Umsetzung bei der Europäischen Aktiengesellschaft


Seminararbeit, 2006

37 Seiten, Note: 15 gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

A) Einführung

B) Das monistische und dualistische System im Überblick
I. Das dualistische System am Beispiel Deutschlands
1. Vorstand: Leitungsorgan
2. Aufsichtsrat: Kontrollorgan
II. Das monistische System am Beispiel der Schweiz
1. „Vorstandsfunktionen“ des Schweizer Verwaltungsrats
2. „Aufsichtsratfunktionen“ des Schweizer Verwaltungsrats

C) Die geschichtliche Entwicklung beider Systeme in Europa
I. Die Entwicklung des dualistischen Systems in Deutschland
1. Anfänge des Aktienrechts vor dem 19. Jahrhundert
2. Verwaltungsratssystem im Preußischen Gesetz über Aktiengesellschaften von 1843
3. Schaffung eines fakultativen Aufsichtsrats durch das ADHGB 1861
4. Schaffung eines obligatorischen Aufsichtsrats durch das ADHGB 1870
5. Klare Aufgabentrennung durch die Aktienrechtsnovelle von 1884
6. Vom HGB bis zum Aktiengesetz von 1937
7. Das Aktiengesetz von 1937
8. Das Aktiengesetz von 1965
9. Weitere Reformen der Leitungsverfassung der Aktiengesellschaft
II. Die Entwicklung des monistischen Systems in der Schweiz
1. Das Aktienrecht des Zürcher Privatrechtlichen Gesetzbuches (PGB)
2. Vom Zürcher PGB zum Schweizer Aktienrecht
3. Heutige Fassung des Schweizer Aktienrechts: Obligationenrecht von 1991

D) Das monistische und dualistische System bei der Europäischen Aktiengesellschaft (SE)
I. Ein kurzer Überblick über die Entstehung der Europäischen Aktiengesellschaft
II. Auswahlmöglichkeit zwischen monistischem und dualistischem System
1. Europäische Aktiengesellschaft (SE) mit dualistischem System
2. Europäische Aktiengesellschaft (SE) mit monistischem System
a) Grundstruktur des monistischen Systems bei einer deutschen SE
aa) Verwaltungsrat: Leitungsorgan
bb) Geschäftsführender Direktor: Ausführendes Organ
b) Gestaltungsvarianten bei einer deutschen SE
aa) Die „kleine“ SE
bb) Die „mittlere“ SE
cc) Die „große“ SE
III. Kritik an der deutschen Umsetzung des monistischen Systems
1. Verdecktes dualistisches System
2. Komplexe Regelungstechnik
3. Fehlende Gestaltungsfreiheit

E) Schlussbetrachtung

A) Einführung

Die Geschichte des Aktienrechts ist eine Geschichte von Reformen. Schon kurz nach der Umsetzung einer Reform werden neue Forderungen über weitere Reformen des Aktienrechts laut und die Diskussionen beginnen erneut. Auf Grund seiner enormen wirtschaftlichen Bedeutung wird das Aktienrecht nicht nur durch große Reformen, sondern auch durch ständig stattfindende kleinere Anpassungen an neue nationale oder internationale Entwicklungen geprägt. Auch Änderungen der gesellschaftlichen Strömungen und Verhältnisse bleiben nicht ohne Auswirkungen auf das Aktienrecht. So will der Gesetzgeber in neuerer Zeit die großen börsennotierten Aktiengesellschaften durch den sog. „Corporate Governance Kodex“ zu mehr Transparenz zwingen, um somit die Rechte der Aktionäre zu stärken und potentiellen neuen Aktionären die Anlageentscheidung zu erleichtern. Aber auch wenn Unternehmen in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten, wird alsbald nach Verbesserungen der aktienrechtlichen Vorschriften gerufen und so Druck auf den Gesetzgeber ausgeübt. Neuerdings hat die Rechtsangleichung innerhalb der EG, insbesondere durch das Inkrafttreten der Verordnung zur Schaffung einer Europäischen Aktiengesellschaft[1] im Oktober 2004, besonders an Bedeutung gewonnen. So ist es nun möglich, Aktiengesellschaften nach Europäischem Recht – aber mit stark nationaler Prägung – zu gründen, was zusätzlichen Druck auf die bisher rein nationalen Aktienrechtsrechtssysteme ausüben wird.

Die Geschichte des Aktienrechts ist darüber hinaus aber auch geprägt vom Kampf des Gesetzgebers gegen Missbräuche, was im Laufe der Zeit zu einer gewissen rechtlichen Starrheit und Schwerfälligkeit des Aktienrechts geführt hat.[2] Die meisten Vorschriften des deutschen Aktiengesetzes sind im Interesse des Schutzes der Aktionäre und Dritter zwingendes Recht und geben den Aktiengesellschaften bei der Gestaltung ihrer inneren Ordnung nur wenig Spielraum. Sicherlich ist es dadurch nicht gelungen, jedem Missbrauch entgegenzutreten, aber bei der Vielzahl von Problemen wird dies auch in Zukunft nur schwer möglich sein.

Trotz dieser rechtlichen Starrheit in ihrer Struktur hat die Aktiengesellschaft jedoch nichts von ihrer wirtschaftlichen Bedeutung eingebüßt. Unternehmen ab einer bestimmten Größe müssen sich dieser Rechtsform bedienen, wenn sie ihre Entwicklung auch zukünftig über die großen Kapitalmärkte dieser Welt finanzieren wollen.

Gerade auch in Zeiten fortschreitender Globalisierung wird der Wettbewerb der verschieden Handelsrechtssysteme – insbesondere im Aktienrecht – schärfer werden und es wird sich zeigen, welches System diesen Anforderungen am ehesten gewachsen ist.

B) Das monistische und dualistische System im Überblick

Das monistische und dualistische System stellen die beiden momentan existierenden bedeutendsten Systeme zur „Verwaltung“ von Aktiengesellschaften dar.

I. Das dualistische System am Beispiel Deutschlands

Das dualistische System spielt heute in Kontinental-Europa eine wichtige Rolle - sei es als zwangsweise vorgeschriebenes Strukturmodell, wie in Deutschland, Österreich oder in den Niederlanden, oder sei es als Option wie in Frankreich oder in der Societas Europaea ("SE"). So ist die Verfassung einer Aktiengesellschaft und die Kompetenzverteilung ihrer Leitungsorgane in Deutschland, anders als bei der Personengesellschaft, weitgehend zwingend gesetzlich geregelt.[3] Kennzeichnend für die Aktiengesellschaft als juristische Person ist ihre körperschaftliche Organisation, d.h. sie besitzt zwar als juristische Person selbst die Rechtsfähigkeit, kann aber nur durch ihre Organe handeln. Den Organen sind bestimmte Aufgabenbereiche abstrakt zugeordnet, die von natürlichen Personen wahrgenommen werden müssen. Charakteristisch für das dualistische Leitungssystem im deutschen Aktienrecht ist, dass die Verwaltungsfunktionen einer Aktiengesellschaft auf zwei Organe, nämlich Vorstand und Aufsichtsrat, aufgeteilt sind. Mit dieser Zweiteilung zwischen Vorstand als dem allein geschäftsführenden Organ und dem Aufsichtsrat als Überwachungsorgan erteilt das deutsche Aktiengesetz dem einstufigen, monistischen Board-Sytem im angelsächsischen Rechtkreis und dem Verwaltungsratssystem im Schweizer Recht eine klare Absage.[4]

1. Vorstand: Leitungsorgan

Der Vorstand hat gemäß § 76 Abs. 1 AktG die Gesellschaft unter eigener Verantwortung zu leiten. Dem Vorstand wird hierbei eine starke, von den Aktionären weitgehend unabhängige Stellung eingeräumt, da ihm neben der alleinigen Leitungskompetenz im Rahmen von § 78 AktG auch die alleinige Vertretungsmacht für die Aktiengesellschaft zugewiesen wird. Aufsichtsrat und Hauptversammlung können lediglich in den für sie vorgesehenen verbleibenden Kompetenzbereichen tätig werden, ihnen stehen dabei keine Befugnisse zur Leitung der AG zu. Allein der Vorstand kann somit aus eigener Initiative die Geschicke der AG leiten.[5]

2. Aufsichtsrat: Kontrollorgan

Die Aufgabe des Aufsichtsrates besteht gemäß § 111 Abs. 1 AktG dagegen darin die Geschäftsführung des Vorstands zu überwachen. Die Rechte und Pflichten des Aufsichtsrates sind jedoch in dieser Vorschrift nicht abschließend geregelt[6].

So ist eine der wesentlichsten Kompetenzen des Aufsichtsrates, nämlich die Mitglieder des Vorstands zu bestellen und abzuberufen, ggf. einen Vorsitzenden des Vorstands zu ernennen und die Ernennung zu widerrufen sowie die Gesellschaft gegenüber Vorstandsmitgliedern zu vertreten, in § 84 AktG verankert.

Der Aufsichtsrat muss darauf achten, dass der Vorstand alles Erforderliche tut, um das Vermögen der Gesellschaft zu mehren und Schaden von ihr abzuwenden.[7] Zur effektiven Ausübung dieser Überwachungsaufgaben gewährt ihm das Gesetz in § 111 Abs. 2 AktG ein umfassendes Informations- und Prüfungsrecht, um auf diese Weise an die zur Beurteilung der Lage und Entwicklung des Unternehmens notwendigen Informationen zu gelangen.

Trotz der vorgesehenen Trennung zwischen Geschäftsführungs- und Überwachungszuständigkeit kann der Aufsichtsrat ausnahmsweise bei der Geschäftsführung beteiligt sein. So besteht gemäß § 111 Abs. 4 AktG die Möglichkeit, dass entweder in der Satzung Zustimmungsvorbehalte zu Gunsten des Aufsichtsrats verankert werden oder der Aufsichtsrat mehrheitlich beschließt, dass bestimmte Arten von Geschäften vom Vorstand nur mit seiner Zustimmung vorgenommen werden dürfen. Dieser Vorbehalt hat allerdings nur interne Wirkung, d.h. ein dennoch abgeschlossenes Geschäft begründet zwar eine Pflichtwidrigkeit des Vorstands, ist aber nach außen voll wirksam.[8]

II. Das monistische System am Beispiel der Schweiz

Das monistische System ist vor allem im angelsächsischen Rechtsraum weit verbreitet, wird aber auch in den meisten europäischen Nachbarstaaten wie in Frankreich als Option oder auch in der Schweiz als Pflichtmodell verwendet. Im monistischem System sind sämtliche Verwaltungsaufgaben bei einer Aktiengesellschaft in nur einem einzigen Organ konzentriert. So vereinigt der Schweizer Verwaltungsrat in sich die wichtigsten Aufgaben eines deutschen Vorstands und alle typischen Funktionen eines deutschen Aufsichtsrats.[9] Gemäß Art. 716b OR ist diese Aufgabenverteilung jedoch nicht zwingend, sondern es können Geschäftsführungsaufgaben – bis auf einen festgelegten Kernbestand[10] – auf einzelne Verwaltungsratsmitglieder oder auch auf Dritte übertragen werden, wenn dies im Statut der Aktiengesellschaft vorgesehen ist. Auf diese Weise ist die innere Organisation bei der Schweizer Aktiengesellschaft relativ flexibel und nach den jeweiligen Vorstellungen der Unternehmensleitung gestaltbar.

1. „Vorstandsfunktionen“ des Schweizer Verwaltungsrats

Der Verwaltungsrat hat gem. Art. 716a Abs. 1 Ziff. 1 OR[11], wie ein Vorstand, die oberste Führungsverantwortung ("Oberleitung" genannt), deren er sich auch durch die weitgehend zugelassene Delegation nicht entledigen kann. Daneben hat der Verwaltungsrat gem. Art. 718 OR[12] die umfassende Vertretungsbefugnis für die Gesellschaft. Allerdings ist die Vertretungsbefugnis in der Schweiz oft personell auf jene Mitglieder des Verwaltungsrates begrenzt, die im Unternehmen leitende Funktionen ausüben, nach neuerer Sprachregelung die "exekutiven Mitglieder".[13]

Der Verwaltungsrat gestaltet in eigener Kompetenz das Rechnungswesen, die interne Kontrolle, die Finanzplanung und die Jahresrechnung.[14] Die Generalversammlung kann die vom Verwaltungsrat vorgelegte Bilanz und Erfolgs- oder Konzernrechnung nicht selbst abändern, sondern sie nur entweder genehmigen oder nicht genehmigen,[15] d.h. sie an den Verwaltungsrat zurückweisen.

Der Verwaltungsrat hat ferner – wie ein Vorstand – den Führungsauftrag hinsichtlich der Ausschüttung der Dividenden, d.h. er hat über den diesbezüglichen Antrag an die Generalversammlung zu befinden. Die Generalversammlung kann zwar die Dividende gegenüber dem Antrag kürzen, erhöhen aber nur, wenn in der geprüften und von ihr genehmigten Bilanz ein hinreichender Betrag an verwendbarem Eigenkapital das erlaubt.[16] Der Verwaltungsrat hat ferner auch die Aufgabe, über die Gewinnausschüttung an die Aktionäre zu entscheiden und konzipiert somit die Divendenpolitik der Aktiengesellschaft.[17]

Der Verwaltungsrat, ebenso wie der Vorstand, hat außerdem weitgehend die Macht über die Tagesordnung der Generalversammlung zu entscheiden und beeinflusst deren Ablauf dadurch und durch seine Anträge in der Praxis in sehr hohem Maße.[18]

2. „Aufsichtsratfunktionen“ des Schweizer Verwaltungsrats

Wie ein deutscher Aufsichtsrat wählt der Schweizer Verwaltungsrat die Mitglieder der obersten Geschäftsleitung[19] und hat die Aufgabe die Geschäftsführung zu überwachen.[20] Zudem trägt er – ähnlich wie der Aufsichtsrat – die direkte Verantwortung für die Ordnungsmäßigkeit der Rechnungslegung und die Gesetzeskonformität des Jahresabschlusses (Bilanz- und Erfolgsrechnung).[21]

Darüber hinaus ist der Verwaltungsrat, nicht anders als der Aufsichtsrat, sehr häufig auch das Genehmigungsorgan für besonders weittragende Beschlüsse der Geschäftsführung. In Deutschland gründet sich eine solche Funktion auf Gesetz und Satzung (vgl. § 111 Abs. 4 AktG). In der Schweiz ist die Grundlage in der Befugnis des Verwaltungsrates zur Delegation zu suchen; diese erlaubt ohne weiteres den Vorbehalt der eigenen Zustimmung in bestimmten Punkten.[22] Die Regelung findet sich formell meist in der Geschäftsordnung des Verwaltungsrates.

C) Die geschichtliche Entwicklung beider Systeme in Europa

Die Geschichte der Aktiengesellschaft ist im Vergleich zu der anderer Gesellschaftsformen verhältnismäßig kurz. Zwar existierten im antiken Recht und im Recht des Mittelalters Rechtsformen, die mit der heutigen Rechtsform der Aktiengesellschaft eine gewisse Ähnlichkeit aufwiesen, ein unmittelbarer Einfluss auf die Entstehung der modernen Aktiengesellschaft lässt sich jedoch nicht nachweisen.[23]

I. Die Entwicklung des dualistischen Systems in Deutschland

1. Anfänge des Aktienrechts vor dem 19. Jahrhundert

Im allgemeinen wird der Anfang der Aktiengesellschaft mit dem Beginn des Baus von Eisenbahnen im 19. Jahrhundert in Zusammenhang gebracht. Doch sind schon vor 1800 auch in den deutschen Staaten, insbesondere in Preußen und Brandenburg, „Kompagnien“ auf Aktien errichtet worden, die vor allem dazu eingesetzt wurden, den überseeischen Handel mit den Kolonien zu fördern[24]. In diesen Handelskompagnien, denen per staatlichem Verleihungsakt (sog. „Octroi“) eine eigene Rechtspersönlichkeit gegeben wurde und denen auch Hoheitsrechte übertragen werden konnten,[25] waren die Aktionäre – wie beim holländischen Vorbild dieser Gesellschaft – nach Hauptpartizipanten und gemeinen Partizipanten eingeteilt.[26] Aus dem Kreis der Meistbeteiligten wurden die Direktoren und die „Aufsichtsräte“ ausgewählt, wobei darauf geachtet wurde, dass es sich dabei um „gute Kaufleute“ handelte. Obwohl bereits seit 1602 eine zunehmende Verbreitung dieser aktienrechtlich ausgestalteten Handelskompagnien stattfand, gab es keine umfassende gesetzliche Regelung des Aktienwesens, sondern nur Einzelfallgenehmigungen („Octrois“) für die Handelskompagnien.

Erstmals erwähnt wurde der Begriff der „Actien“ im Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 erwähnt, das zwar die „Actien“ in I 2 § 12 nannte,[27] aber keinerlei gesellschaftsrechtliche Bestimmungen des Aktienrechts enthielt. Erklären lässt sich dies dadurch, dass die Gründung immer noch durch staatliche Konzession geregelt wurde, so dass gesellschaftsrechtliche Regelungen einzelfallgerecht erfolgten und eine einheitliche Gesamtregelung (noch) nicht erforderlich war.

2. Verwaltungsratssystem im Preußischen Gesetz über Aktiengesellschaften von 1843

Die eigentliche Blütezeit der Aktiengesellschaften als charakteristischer Unternehmensform des Kapitalismus beginnt im 19. Jahrhundert. Geprägt durch den französischen Code de Commerce, der Anfang des 19. Jahrhundert in den von Frankreich besetzten Teilen der deutschen Staaten eingeführt wurde, beginnt das deutsche Aktienrecht mit dem Preußischen Gesetz über Aktiengesellschaften vom 9. 11. 1843.[28] Es besagte: „Aktiengesellschaften mit den im gegenwärtigen Gesetz bestimmten Rechten und Pflichten können nur mit landesherrlicher Genehmigung errichtet werden.“ Dem bis dahin bestehenden System aus Einzelzulassungen („Octroi“-System) war somit ein sich davon nicht wesentlich unterscheidendes Konzessionssystem gefolgt.

Die Verwaltung der Aktiengesellschaft sollte durch einen einheitlichen Verwaltungsrat erfolgen, so dass zu dieser Zeit in Preußen (noch) das monistische System Gesetz war.

3. Schaffung eines fakultativen Aufsichtsrats durch das ADHGB 1861

Zur Zeit des Liberalismus im 19. Jahrhunderts sollte die Generalversammlung das oberste Willensorgan sein, bei der in allen Fragen der Leitung und des Aufbaus der Gesellschaft die souveräne Entscheidung lag. Die Generalversammlung wählte zur Führung der laufenden Geschäfte den Vorstand, der ihren Weisungen unterstand. Von dieser Grundauffassung ging das Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch (ADHGB) von 1861[29] aus, das die bis dahin in den Deutschen Staaten bestehende Rechtszersplitterung im Bereich des Aktienrechts beseitigte.[30] Für viele damals noch agrarisch strukturierte Länder, in denen vor 1861 weder der französische Code de Commerce noch ein eigenes Aktiengesetz (wie in Preußen) gegolten hatte, bildete das ADHGB das erste schriftlich festgesetzte Aktienrecht.[31]

Mit Inkrafttreten des ADHGB wurde zugleich zum ersten Mal in der deutschen Aktienrechtsgeschichte ein unabhängiges Organ geschaffen, das die Verwaltung überwachen und die Rechnungsprüfung durchführen sollte. Allerdings hatte sich der Gesetzgeber bei der Aktiengesellschaft nicht wie bei der Kommanditgesellschaft auf Aktien dazu durchgerungen, den Aufsichtsrat zwingend vorzuschreiben, sondern machte ihn zu einem fakultativen Gesellschaftsorgan.[32] Zumeist entstand der Aufsichtsrat jedoch aus dem bei vielen Aktiengesellschaften bereits vorher bestehendem Verwaltungsrat, der wie im monistischen System nicht nur beratend, sondern mitentscheidend tätig war, jetzt aber seine Zuständigkeit in Verwaltungsangelegenheiten zu Gunsten der Generalversammlung und des Vorstandes verlor.[33] Damit waren die Zeiten eines quasi-monistischen Systems in den deutschen Staaten endgültig vorbei. Grund für die Einführung des Aufsichtsrates war die immer geringer werdende Möglichkeit des Staates, die Aktiengesellschaften im Rahmen des Konzessionsystems zu überwachen, da in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gestützt auf den wirtschaftlichen Liberalismus und die fortschreitende Industrialisierung die Zahl der Aktiengesellschaften unüberschaubar groß wurde und für Betrügereien Tür und Tor offen standen.[34]

4. Schaffung eines obligatorischen Aufsichtsrats durch das ADHGB 1870

Zwischen 1860 und 1870 zerbröckelte das Konzessionssystem zusehens. Das ADHGB sah zwar noch in Art. 208 den Grundsatz vor, dass Aktiengesellschaften nur mit staatlicher Genehmigung errichtet werden dürfen. Es ermächtigte aber in Art. 249 zugleich die Landesgesetzgeber, die Genehmigungspflicht ganz oder teilweise abzuschaffen. Etliche Länder[35] haben von dieser Ermächtigung Gebrauch gemacht, jedoch zum Teil mit Ausnahmen in bestimmten besonders betrugsanfälligen Bereichen (z.B. bei Versicherungsgesellschaften).[36]

Durch die Aktienrechtsnovelle vom 11. 6. 1870[37] wurde das Konzessionssystem als Grundsatz schließlich endgültig beseitigt und an seine Stelle trat das noch heute geltende System der Normativbedingungen mit Registerzwang. Danach erhält eine Aktiengesellschaft die eigene Rechtspersönlichkeit nach Erfüllung der gesetzlichen Bedingungen durch Eintragung in das Handelsregister. Diese weitreichende Änderung wurde u.a. damit begründet, dass das staatliche Konzessionssystem bei der stark gestiegenen Zahl von Aktiengesellschaften keinen hinreichenden Schutz gegen Schwindelgründungen mehr bieten könne und auch eine Sicherung des allgemeinen Wohlstands und der Landesindustrie gegen die Geldmacht der Aktiengesellschaft nicht mehr erforderlich sei, da auch andere Gesellschaftsformen zur Kumulation von Kapital geeignet seien.[38] Man war sich damals allerdings durchaus klar, dass dadurch eine „Periode des Aktienschwindels“ heraufbeschworen werden konnte und hat diese „vorübergehenden Nachteile“ im Interesse eines „dauernden besseren Zustands “ bewusst in Kauf genommen.[39]

Der Gesetzgeber war jedoch der Auffassung, dass nach Wegfall der Staatsaufsicht als notwendige Folge des abgeschafften Konzessionssystems eine umfassende Überwachung des Vorstandes notwendig sei und hat deswegen in Art. 209 Nr. 6 ADHGB 1870 die obligatorische Einführung eines Aufsichtsrates festgeschrieben.[40] Aufgabe des Aufsichtsrats wurde demnach, in erster Linie mögliches Fehlverhalten des Vorstandes aufzudecken.

5. Klare Aufgabentrennung durch die Aktienrechtsnovelle von 1884

Der Aktienschwindel blieb jedoch trotzdem nicht aus. Sicherlich wurde er auch durch den Ausgang des deutsch-französischen Krieges begünstigt, da viele der zu dieser Zeit gegründeten Gesellschaften zusammenbrachen und dadurch zahllose Sparer ihr Geld verloren, einige ihr gesamtes Vermögen.[41] Daraus entwickelte sich die Aktienrechtsnovelle vom 18. 7.1884.[42] Hauptziel dieser Reform war die erkannten Missstände zu bekämpfen und die in der Novelle von 1870 versäumten gesetzgeberischen Maßnahmen nachzuholen.[43] So sollten nun die Rechte und Pflichten der Organe schärfer abgegrenzt werden. Die Generalversammlung - mit erweiterten Kompetenzen - sollte Willensorgan der Aktiengesellschaft sein, der Vorstand - dessen Mitglieder jetzt wie die Aufsichtsratsmitglieder für Fehlverhalten hafteten - Ausführungsorgan und der Aufsichtsrat - in dem jetzt auch Nichtaktionäre sitzen konnten[44] - Kontrollorgan. Der Aufsichtsrat sollte demnach als obligatorisches Gesellschaftsorgan beibehalten werden, da das Versagen des Aufsichtsrats nicht in seiner Einrichtung selbst, sondern in seiner Ausgestaltung, insbesondere in der bisher unklaren Abgrenzung der Funktionen der Gesellschaftsorgane, gesehen wurde.[45] Die Reform des Aktienrechts von 1884 hat noch heute deutliche Spuren im Aktienrecht insofern hinterlassen, als durch sie die Gründungsvorschriften verschärft und die Minderheitsrechte (z.B. Sonderprüfung, Geltendmachung von Ersatzansprüchen gegen Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder, Beschlussanfechtungsrecht der Aktionäre) eingeführt wurden.

[...]


[1] Verordnung des Rates (EG) Nr. 2157/2001 vom 8. Oktober 2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE).

[2] Semler, in MüKo AktG, Bd. 1, Einleitung, Rn. 17.

[3] Hefermehl/Semler, in MüKo AktG, Bd. 3, Vorbemerkung, Rn. 1.

[4] Hefermehl/Semler, in MüKo AktG, Bd. 3, § 76, Rn. 2.

[5] Hüffer, AktG, § 76 Rn. 2; Hefermehl/Semler, in MüKo AktG, Bd. 3, § 76, Rn. 1.

[6] Hüffer, AktG, § 76 Rn. 1.

[7] Hefermehl/Semler, in MüKo AktG, Bd. 3, § 93, Rn. 23.

[8] Semler, in MüKo AktG, Bd. 3, § 111, Rn. 430.

[9] Böckli, S. 1724.

[10] Art. 716a Abs. 1 OR.

[11] Vgl. § 76 Abs. 1 AktG.

[12] Vgl. § 78 Abs. 1 AktG.

[13] Böckli, S. 1727f.

[14] Böckli, S. 1727.

[15] Art. 698 Abs. 2 Ziff. 4 OR; vgl. §§ 119 Abs. 1 Nr. 2, 173f. AktG.

[16] Art. 716a Abs. 1 Ziff. 6 OR; vgl. § 170 Abs. 2 AktG.

[17] Art. 716a Abs. 1 Nr. 7 OR.

[18] Art. 699 und 716a OR; vgl. §§ 121/124 AktG.

[19] Art. 716a Abs. 1 Ziff. 4 OR; vgl. § 84 AktG.

[20] Art. 716a Abs. 1 Ziff. 6 OR; vgl. § 111 Abs. 1 AktG.

[21] Art. 716a OR; vgl. § 171 AktG.

[22] Böckli, S. 1726.

[23] gemeint sind die seit der Antike bekannten Beteiligungen an einem kaufmännischen Unternehmen und die im Mittelalter verbreiteten Genossenschaften, vgl. Dippel, DRiZ 1965, 315.

[24] Dippel, DriZ 1965, 315f.

[25] Schnorr, S. 7f.

[26] Bösselmann, S. 58f.

[27] List, S. 18.

[28] Schumacher, S. 45ff.

[29] Art. 207 ff. ADHGB.

[30] Schnorr, S. 13.

[31] List, S. 27.

[32] Schnorr, S. 15.

[33] Ebd.

[34] Schnorr, S. 17.

[35] z.B. Hamburg, Bremen, Lübeck, Württemberg, Baden und Oldenburg.

[36] Semler, in MüKo AktG, Bd. 1, Einleitung, Rn. 20.

[37] BGBl. des Norddt. Bundes S. 375.

[38] Stenographische Berichte 1870, S. 650.

[39] BGBl. des Norddt. Bundes, S. 375.

[40] Schnorr, S. 20.

[41] Schnorr, S. 23.

[42] RGBl. I S. 213.

[43] Schnorr, S. 29.

[44] Vgl. Art. 224 i.V.m. Art. 191 ADHGB 1884.

[45] Schnorr, S. 30ff.

Ende der Leseprobe aus 37 Seiten

Details

Titel
Die geschichtliche Entwicklung des monistischen und dualistischen Verwaltungssystems bei Aktiengesellschaften
Untertitel
Von den Anfängen im 19. Jahrhundert bis zur Umsetzung bei der Europäischen Aktiengesellschaft
Hochschule
Bayerische Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Veranstaltung
Rechtshistorisches Seminar
Note
15 gut
Autor
Jahr
2006
Seiten
37
Katalognummer
V56724
ISBN (eBook)
9783638513395
ISBN (Buch)
9783638664820
Dateigröße
631 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Entwicklung, Verwaltungssystems, Aktiengesellschaften, Rechtshistorisches, Seminar
Arbeit zitieren
Ivo Holzinger (Autor:in), 2006, Die geschichtliche Entwicklung des monistischen und dualistischen Verwaltungssystems bei Aktiengesellschaften, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/56724

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