La Nouvelle Héloise und die problematisierte Utopie der Ménage à trois - Julie zwischen ordre naturel und ordre social


Hausarbeit (Hauptseminar), 2006

27 Seiten, Note: 1.0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1. Über Jean-Jacques Rousseau
1.2. Thema der Arbeit
1.3. Der Briefroman – Eine literarische Sonderform

2. Der Kontext der Nouvelle Héloїse
2.1. Inhalt und Romanstruktur
2.2. Die Funktion der Einzelcharaktere im Romanverlauf
2.2.1. Julie
2.2.2. Saint-Preux
2.2.3. Wolmar

3. Die ménage à trois
3.1. Das Prinzip der transparence
3.2. Julie und Saint-Preux im Widerstreit zwischen Tugend und Leidenschaft
3.3. Das Ehepaar Wolmar: Totale Transparenz – totale Kontrolle?
3.4. Ménage à trois: Ein Leben in trügerischer Harmonie

4. Rousseaus Kulturtheorie am Beispiel des Lebensmodells von Clarens
4.1. Clarence als Raum der vertu
4.2. „Ordre naturel“ und „Ordre sociale »
4.3. Julie zwischen den Polen der „ordre naturel“ und der „ordre social“

5. Clarens – die perfekte Utopie?
5.1. Die Ambivalenz der Rousseauschen Kulturtheorie

6. Fazit

7. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

1.1 Über Jean-Jacques Rousseau

Jean Jacques Rousseau wurde 1712 in Genf geboren. Nach einigen Jahren des erfolgreichen Selbststudiums, vor allem der Philosophie und der Musik, siedelt er 1742 nach Paris über, wo er Beziehungen zu Diderot und den Enzyklopädisten aufnahm.[1] Ab dem Jahre 1750 entstanden Rousseaus wichtigste Werke. Er verfasste zahlreiche theoretische Traktate und philosophische Schriften, von denen Du Contrat Social (Über den Gesellschaftsvertrag) den größten Erfolg verzeichnete. Daneben gelten der Briefroman Julie ou La Nouvelle Héloїse (1761) und Émile ou De l’éducation (1762) als Rousseaus einzige große fiktionale Werke von Bedeutung.[2] Vor allem ersterer Roman hat ihm bereits zu Lebzeiten große Anerkennung verschafft. In ihm thematisiert Rousseau seine kulturtheoretischen Konzepte in Verbindung mit einer Liebesgeschichte.

Rousseau gehört zu den meistbeachteten Vordenkern der Aufklärung. Er starb im Jahre 1778 in Ermenonville in Frankreich.

1.2. Thema der Arbeit

Diese Arbeit hat zum Ziel, Rousseaus kulturphilosophische Theorien anhand seines Romans Julie ou La Nouvelle Héloїse zu erläutern. In diesem fiktionalen Werk entwickelt Rousseau unter anderem Theorien über Gesellschaft, Moral, Eigentum und Wirtschaft.[3] Schauplatz der Betrachtungen hierfür ist das Landgut Clarens, welches im Roman die Funktion eines utopischen Raumes innehat, in dem diese Ideen literarisch veranschaulicht werden. In Clarens finden sich, nach einem Wendepunkt in der Romanhandlung, die drei Hauptfiguren zusammen: Die adlige Julie, ihr ehemaliger Geliebter Saint-Preux sowie Julies Ehemann Wolmar. Im Folgenden wird für diese Personenkonstellation der Begriff ménage à trois verwendet werden. Es soll gezeigt werden, wie Rousseau seine Vorstellungen der auf Clarens verwirklichten Utopie literarisch darstellt sowie analysiert werden, auf welche Weise sich die Personen in dieser für sie heiklen Situation verhalten.

In einem ersten Schritt betrachte ich die ästhetische Form und Struktur des Briefromans. (Abschnitt 1.3.). Es schließt sich eine Analyse der interpersonellen Dynamik der ménage à trois an. (Kapitel 3). Am Leben der drei Hauptfiguren gespiegelt, lassen sich dann die für diese Arbeit relevanten Schlüsselbegriffe aus der Rousseau’schen Kulturtheorie herausfiltern (Kapitel 4). In einem letzten Schritt gehe ich auf die Ambivalenz dieser Kulturtheorie ein, wie sie sich an der Utopie von Clarens darstellt (Kapitel 5). Kann die ménage à trois unter Einhaltung der in Clarens geltenden Prinzipien der „vertu“ und der transparence funktionieren, und gelingt der Versuch einer Versöhnung zwischen der „ordre naturel“ und der „ordre social“, also den beiden Polen, zwischen denen der Mensch der Aufklärung sich befindet? Dies soll exemplarisch an der Figur Julie beleuchtet werden (Abschnitt 4.3.)

1.3. Der Briefroman – Eine literarische Sonderform

Der Briefroman ist eine Form des Romans, die im 18. Jahrhundert weit verbreitet gewesen ist. Mit dem Titel des Romans La Nouvelle Héloїse spielt Rousseau auf den berühmten

Briefwechsel des mittelalterlichen Theologen Abaelard und seiner Schülerin bzw. Geliebten Heloisa an und verweist damit auf die formale und thematische Ähnlichkeit der beiden Werke.[4]

Ein Charakteristikum des Briefromans ist das Fehlen eines herkömmlichen Erzählers und seine daraus resultierende Ambiguität. Da das Geschehen immer aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet wird, gibt es keine eindeutige Perspektive.[5] Der Erzähler „versteckt“ sich vielmehr hinter den Stimmen seiner Figuren. Im Falle der Nouvelle Héloise haben wir es zudem mit einer sogenannten Herausgeberfiktion zu tun: Rousseau gibt sich zwar zu erkennen, verleugnet sich jedoch als Autor und gibt sich im Vorwort stattdessen als Herausgeber einer Sammlung von Briefen aus. Damit strebt er einen hohen Grad an dokumentarischer Echtheit an.[6] Im Zuge dieser Herausgeberfiktion kokettiert Rousseau mit dem Wahrheitsgehalt der Briefe, und so liegt es beim Leser, ihm zu glauben oder nicht. Im Romanverlauf erinnert er nur hin und wieder durch Fußnoten an seine Gegenwart, in denen er eigene Positionen bezieht, mit denen er die Rezeptionsweise der Leser beeinflussen will. So soll der Leser dazu ‚erzogen’ werden, je nach Situation eine mitfühlende oder auch eine intellektuelle Haltung einzunehmen[7].

2. Der Kontext der Nouvelle Héloїse

2.1. Inhalt und Romanstruktur

Um den späteren Ausführungen folgen zu können, wird nachfolgend der Inhalt des Romans kurz zusammengefasst.

Rousseaus Roman Julie ou La Nouvelle Héloїse [8] schildert eine Dreiecksbeziehung, angesiedelt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Der Hauslehrer Saint-Preux verliebt sich in seine adelige Schülerin Julie d’Etange. Sie erwidert seine Liebe, aber die geplante Hochzeit wird von ihrer Familie verhindert, weil Saint-Preux bürgerlicher Herkunft ist. Daraufhin haben die beiden zunächst keinen Kontakt. Aber als Julie später, inzwischen mit dem Baron Wolmar standesgemäß verheiratet und Mutter von zwei Kindern, davon hört, dass der ehemalige Geliebte wieder in der Nähe ist, scheint ihre alte Leidenschaft erneut aufzuflackern. Sie fasst den Entschluss, ihrem Mann Wolmar von der vergangenen Liaison zu berichten. Dieser reagiert nicht schockiert, sondern lädt im Gegenteil Saint-Preux auf das Gut der Wolmars ein. Dort vollzieht sich „in einem Wechsel erotischer Anziehung und Zurückhaltung“[9], den die Figuren gleichzeitig in ihren Briefen protokollieren, unter der Führung Wolmars die Verwandlung ihrer Liebe in Freundschaft. Jedoch ist diese Transformation begleitet von Triebverzicht und letztendlich von Selbsttäuschung.

Insgesamt spiegeln die im Roman entwickelten Konzepte Rousseaus ambivalente Kulturtheorie wider. Das Leitmotiv des Romans ist die Liebesbeziehung zwischen Julie und Saint-Preux; thematisiert werden aber, so Karl-Heinz Stierle, immer die unauflösliche Widersprüchlichkeit zwischen Natur und gesellschaftlicher Konvention, die die Figuren zwischen den Polen hin und her pendeln lassen.[10] Er sieht die grundlegende Struktur des Romans in den Konzepten der “ordre naturel“ und der „ordre social“.[11]

Formal betrachtet ist der Roman in sechs Bücher und insgesamt 163 Briefe aufgeteilt, von denen allein 65 auf das erste Buch, also der geheimen Liebeskorrespondenz zwischen Julie und Saint-Preux, entfallen. Der Rest verteilt sich relativ gleichmäßig auf die übrigen Bücher II bis VI. Die Bücher I bis III unterscheiden sich von den Büchern IV bis VI dahingehend, dass im ersten Teil die Darstellung der Jugendliebe den Vorrang hat und im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Konventionen steht, die einen Fortgang des Verhältnisses verhindern. Im dritten Buch läutet die Heirat Julies mit Wolmar eine neue Ära ein. Diese ist für die vorliegende Arbeit relevant. Im vierten Buch wird dann die Utopie von Clarens aus der Sicht Saint-Preux’ dargestellt. Parallel dazu wird die Meisterung der Gefühle zwischen Saint-Preux und Julie unter der Aufsicht Wolmars beschrieben. Im fünften Buch wird das zumeist heitere und häusliche Familienleben in Clarens geschildert.[12] Das sechste und letzte Buch kulminiert in Julies Tod, der das Scheitern der Utopie nach sich zieht. Im Unterschied zu den ersten drei Büchern der Nouvelle Héloїse enthalten die nachfolgenden keinen Briefwechsel mehr zwischen Saint-Preux und Julie, da dieser durch ihr Zusammenleben und die ständige Nähe auf Clarens hinfällig geworden ist. Beide stehen jedoch in Korrespondenz mit ihren jeweils besten Freunden: Saint-Preux mit Lord Edouard, seinem väterlichen Freund und jahrelangem Reisebegleiter, und Julie mit ihrer Kusine Claire, die im Roman die Funktion einer klugen und umsichtigen Ratgeberin hat, insbesondere in Bezug auf Julies Umgang mit Saint-Preux.

Der Roman ist antithetisch konstruiert,[13] was sich sowohl in den Charakteren widerspiegelt (zum Beispiel in der Rivalität zwischen Wolmar und Saint-Preux) als auch in den übergeordneten, den Roman gliedernden Konzepten (wie der Gegensatz von Leidenschaft und Tugend bzw. „ordre naturel“/“ordre social“).

2.2. Die Funktion der Einzelcharaktere im Romanverlauf

In den folgenden Unterkapiteln soll ein kurzer Überblick über die Rolle und Funktion der Figuren gegeben werden, um danach ihre Rolle innerhalb der ménage à trois definieren zu können.

2.2.1. Julie

In den Büchern IV und V der Nouvelle Héloїse erleben wir Julie nicht mehr in der Rolle der Geliebten, sondern als pflichtbewusste Ehefrau und Mutter sowie Gutsherrin von Clarence. Sie sagt zu Claire : „Tu m’as vue successivement fille, amie, amante, épouse et mère. » (IV,1), und lebt nun unter dem moralischen Schutz ihrer bürgerlichen Existenz in der Sozialstruktur von Clarens. Bei ihrem ersten Wiedersehen nach acht Jahren stellt Saint-Preux fest, dass sie sich zum Positiven verändert hat. Er ist beeindruckt von ihrer neuen Sicherheit: „Au lieu de cette pudeur souffrante qui lui faisait autrefois sans cesse baisser les yeux,

on voit la sécurité de la vertu s’allier dans son chaste regard à la douceur et à la sensibilité (…), un air plus libre et des grâces plus franches(…).C’était une mère de famille que j’embrassais“ (IV, 6).

Julies Identitätswechsel, ausgelöst durch die standesgemäße Heirat, erscheint nun als ein Symbol für ihre Tugend. Ihr ganzes Leben steht, seit dem Ende der Liaison mit Saint-Preux, unter dem Vorzeichen der vertu statt unter der gelebten –wenn auch versteckten - passion. Sie liebt ihren Mann Wolmar nicht: „L’amour est éteint, il l’est pour jamais, et c’est encore une place qui ne sera point remplie.“ (IV,1) Aber ihr Leben an der Seite Wolmars scheint sie zu erfüllen, sie sehnt sich nicht nach den stürmischen Zeiten der Leidenschaft zurück: „Quand je vois mes enfants et leur père autour de moi, il me semble que tout y respire la vertu; ils chassent de mon esprit l’idée même de mes anciennes fautes.“ (IV,1) Jedoch ist die Angst davor, dass die alte Leidenschaft für Saint-Preux sich ihrer wieder bemächtigen könnte, ständig präsent. So erscheint ihr ihr Geständnis vor Wolmar als letzte Zuflucht. Die Verzeihung Wolmars soll sie von der alten Schuld befreien.[14] Julie ist sehr gläubig, was dem Atheismus Wolmars diametral gegenübersteht. Was ihr Religion im Zusammenhang mit ihrer Ehe und mit der Natur bedeutet, wird in der folgenden Textstelle deutlich, einem Gebet Julies:

«Je veux aimer l’époux que tu m’as donné. Je veux être fidèle, parce que c’est le premier devoir qui lie la famille et toute la société. Je veux être chaste, parce que c’est la première vertu qui nourrit toutes les autres. Je veux tout ce que se rapporte à l’ordre de la nature que tu as établi, et aux règles de la raison que je tiens de toi. » (III,18).

2.2.2. St. Preux

Saint-Preux, „ein schwärmerischer Moralphilosoph bürgerlicher Herkunft“[15], wird dargestellt als ein leidenschaftlicher, gefühlsbetonter Mensch (IV,7), der bisher unentschieden und richtungslos gelebt hat. Einen neuen Lebenssinn nach seiner langen Reise findet er auf Clarens. Er wird sich, je länger er auf Clarens lebt, darüber bewusst, dass der Preis, den er für das Zusammenleben mit Julie zu zahlen hat, in der Aufgabe seiner Leidenschaft sowie der Umwandlung dieser Leidenschaft in keusche Freundschaft besteht. Dies ist in der Folge sein höchstes Ziel, das er unter der Anleitung Wolmars erreichen möchte.

[...]


[1] Die Encyclopédie, an der außer Diderot noch viele andere Denker beteiligt waren, entstand zwischen

1751 und 1780 und gilt als maßgebendes Werk der französischen Aufklärung. (Quelle:

http://www.abaelard.de/abaelard/080009rousseau.htm).

[2] Vgl. Wuthenow (2000), S.57.

[3] Vgl Stierle (1980), S.176.

[4] Aus dem Vorwort der deutschen Ausgabe der Nouvelle Hélo їse, dtv klassik (1988).

[5] Vgl. Oster (2002), S. 234.

[6] Vgl. Picard (1971), S.73.

[7] Vgl. Moravetz (1990), S.204.

[8] Der vollständige Romantitel Julie ou La Nouvelle Héloїse bzw. Lettres de deux amants habitants

d’une petite ville au pied des Alpes wird im Folgenden verkürzt mit Nouvelle Héloїse wiederge-geben.

[9] Aus dem Vorwort der deutschen Ausgabe der Nouvelle Hélo їse, dtv klassik (1988).

[10] Vgl. Stierle (1980), S.182.

[11] Vgl. Stierle (1980), S.182. Die Begriffe werden an späterer Stelle der Arbeit vertieft werden.

[12] Moravetz (1998), S.85.

[13] Vgl. Meutehn (1994), S.146.

[14] Geller (1964), S.40.

[15] Meuthen (1994), S.147.

Ende der Leseprobe aus 27 Seiten

Details

Titel
La Nouvelle Héloise und die problematisierte Utopie der Ménage à trois - Julie zwischen ordre naturel und ordre social
Hochschule
Universität des Saarlandes
Veranstaltung
Der Ursprung der Kulturtheorie im 18. Jahrhundert: Jean-Jacques Rousseau
Note
1.0
Autor
Jahr
2006
Seiten
27
Katalognummer
V61541
ISBN (eBook)
9783638549769
ISBN (Buch)
9783656806882
Dateigröße
585 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Nouvelle, Héloise, Utopie, Ménage, Julie, Ursprung, Kulturtheorie, Jahrhundert, Jean-Jacques, Rousseau
Arbeit zitieren
Annette Langen (Autor:in), 2006, La Nouvelle Héloise und die problematisierte Utopie der Ménage à trois - Julie zwischen ordre naturel und ordre social, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/61541

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