Mehr Wissen über Waren

Kunden werden anspruchsvoller, gleichzeitig sinken die Margen im Handel – Echtzeit-Bestandsmanagement ist ein Ausweg aus diesem Teufelskreis. Bevor Unternehmen nun blind Daten erheben, sollten sie sich über Strategie und Ziele klar werden.

Torlinienkamera, Videobeweis: Während Fußball-Deutschland über die Vor- und Nachteile der „neuen“ Technik diskutiert, zeigt ein Blick über den Atlantik, was Technik im Sport heute wirklich zu leisten vermag. In der National Football League NFL tragen die Spieler RFID-Chips in den Schulterpolstern, so erfahren Trainer, Kommentatoren und Zuschauer alles über Laufwege und Tempo ihrer Stars. Neuerdings ist sogar der Ball gechippt und gibt 25-mal pro Sekunde Auskunft über seine Position, Geschwindigkeit und Rotation.

Schnellere Prozesse, zufriedenere Kunden

Die Datenerfassung in Echtzeit wurde nicht für die NFL erfunden, sondern für Unternehmen, die Waren verfolgen, Prozesse optimieren und zufriedenere Kunden haben wollen. Mittlerweile gibt es Lösungen aus Sensoren und Software für fast alle erdenklichen Anwendungen im Bestandsmanagement. Statt Spielzügen von Football-Spielern wird das Einkaufsverhalten von Kunden analysiert, statt des Balls werden Waren und Fahrzeuge verfolgt – in Echtzeit.

Das Potenzial der Echtzeitdatenerfassung für das Warenmanagement hat sich in den Unternehmen herumgesprochen und viele versuchen, ihr Geschäft echtzeitfähig zu machen, vor allem weil angesichts von Onlinehandel und Industrie 4.0 klassische Wertschöpfungsketten aufbrechen und sich Prozesse rasant beschleunigen, gleichzeitig steigen die Erwartungen der Kunden. Etliche Unternehmen machen dabei den Fehler, dass sie das Pferd von hinten aufzäumen: Sie denken erst über die notwendige Technik nach, dann über die Ziele und zuletzt über mögliche Anwendungsfälle. Genau umgekehrt wäre es aber sinnvoller. Bevor man auch nur einen Gedanken an Technik und Softwarewerkzeuge verschwendet, sollte man sich im Klaren sein, wo in den betrieblichen Prozessen überhaupt interessante Fragestellungen stecken, die man mittels Daten beantworten kann. Es ist nicht notwendig, hier gleich alle Prozesse bis in den hintersten Winkel zu durchdenken, es ist völlig o.k., erst einmal mit ein oder zwei Anwendungen zu starten, um Erfahrungen zu sammeln.

Daten sind kein Selbstzweck

Im nächsten Schritt gilt es die Ziele zu definieren, für die es sich lohnt, den ganzen Aufwand zu treiben. Dabei geht es nicht darum, welche Daten man erheben will, sondern welchen Mehrwert für das Unternehmen oder für Kunden man damit schaffen möchte. Denn Daten sind kein Selbstzweck, sie sind immer Mittel zum Zweck. Erst zuletzt macht es Sinn, sich über Hard- und Software Gedanken zu machen, also wie man die Daten misst und wie man sie verarbeitet.

Viele Anwender denken, dass der dritte Schritt der schwierigste ist. Doch die Technologien von Sensoren über Erfassungsterminals bis zu Auswertesoftware ist ausgereift und heute einfach zu bedienen. Tatsächlich ist der erste Schritt der schwierigste. Denn der erfordert, dass man alte Zöpfe abschneidet und Prozesse überdenkt. „Solche Strategien entwickelt man am besten mit Partnern, die sowohl etwas von der Technik verstehen als auch Branchenwissen haben“, empfiehlt Mark Thomson, Direktor für die Einzelhandelsbranche in Europa bei Zebra, einem Anbieter von Trackingtechnologien.

Nur noch einen Tag im Lager

Ein typisches Beispiel aus dem Bekleidungseinzelhandel: Viele Läden haben ein Lager, in dem sie Waren für etwa fünf Tage vorhalten. Gleichzeitig werden die Filialen aber jeden Tag mit neuer Ware beliefert. Das bedeutet, dass die Ware im Schnitt immer fünf Tage im Lager liegt, bevor sie nach vorne in den Verkaufsraum geräumt wird. Das ist Verschwendung, denn Lagerfläche kostet Geld und reduziert die Verkaufsfläche, außerdem sind Waren im Lager totes Kapital. Ziel müsste sein, dass die Waren höchstens einen Tag zwischenlagern und schon am nächsten Tag in den Verkaufsregalen liegen.

Vielen Händlern wird dabei mulmig zumute. Was, wenn das eine Schuhmodell, das sich diesen Sommer wie geschnitten Brot verkauft, in Größe 37 dann doch mal ausverkauft ist und gerade jetzt drei Kundinnen im Laden stehen, die genau diesen Schuh wollen? Das wäre dann ein spürbarer Umsatzverlust. Doch genau das ist so ein Anwendungsfall, den man mit Echtzeitdatenerfassung bewältigen kann. Das Ziel lautet, den Lagerbestand fast auf null zu reduzieren und trotzdem nie ausverkauft zu sein.

Kundenwünsche verstehen

Händler werden nun entgegnen, dass sie dies bereits heute können. Denn der Lagerbestand eines bestimmten Schuhmodells ist im Warenwirtschaftssystem bekannt und wenn an der Kasse diese Schuhe gekauft werden, reduziert sich der Bestand automatisch, sinkt er unter ein definiertes Level, wird automatisch nachbestellt. Das ist zwar ein guter Anfang, Echtzeitdatenerfassung kann allerdings noch mehr. So könnte man verfolgen, welchen Weg Kunden durch den Laden nehmen. Eine Kundin steht schon seit zehn Minuten am Regal mit den Blusen? Dann wird sie vermutlich keine Schuhe kaufen. Die Bluse, von der in dieser Größe nur noch eine im Laden hängt, ist nun mit der Kundin in der Umkleidekabine? Die Wahrscheinlichkeit, dass die Kundin die Bluse kauft, beträgt 50 Prozent. Zeit also, gleich eine neue Bluse aus dem Lager zu holen und auch schon die Nachbestellung in der Zentrale anzustoßen. Solche Informationsketten lassen sich beliebig ausdehnen, etwa auf den Lieferwagen, der in einem Stau steht und die Bluse erst 30 Minuten später liefern kann. Oder auf das Zentrallager, das auf Nachfragespitzen eher reagieren und beim Hersteller nachbestellen kann.

Strategie kommt vor Technik

Beim skizzierten Beispiel hilft die Technik, Abläufe zu beschleunigen und das Kundenerlebnis so zu verbessern, dass die Konsumenten dem Offline-Kauf treu bleiben und nicht zu Zalando und Co. abwandern. Echtzeitdatenerfassung hat noch weitere Vorteile, nicht nur im Einzelhandel, sondern in vielen anderen Branchen. Ein Beispiel: Ein Gabelstapler muss ein Fass mit einer Chemikalie übers Werksgelände fahren. Das Trackingsystem erkennt, wo sich das Fahrzeug befindet und lotst ihn auf der richtigen Route. Gleichzeitig signalisieren Leuchtzeichen, dass Fußgänger andere Wege nehmen sollen. Oder: Ein Kühltransporter mit Medikamenten hat einen Unfall. Sensoren melden, ob die kritische Temperatur überschritten wurde und neue Medikamente bestellt werden müssen.

Trotz der enormen Vielfalt von Einsatzmöglichkeiten, erschließt sich der Nutzen der Echtzeitdatenerfassung nicht sofort für jeden. Bevor man teure Technik anschafft, sollte man sich mit Experten zusammensetzen und Anwendung, Ziele und Technik klären.

kommentar field