IMAGO / Addictive Stock
Die traditionelle Vorstellung von direktem, analogem Austausch als Bedingung für Tiefe in der qualitativen Forschung ist überholt. Diese Meinung vertreten Kerstin Gass und Désirée Gallisch von der qualitativen Einheit Ipsos UU. Qualitative Online-Communities ermöglichen ein vielfältigeres Abbild der Realität als ein zeitlich begrenztes Gespräch es leisten kann. Entscheidende Voraussetzung dafür ist, dass die Moderation sich nicht auf ein digitales Frage-und-Antwort-Spiel beschränkt, sondern gezielt den persönlichen Austausch fördert.
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Im Jahr 1993 warb ein Fernsehsender mit dem Slogan „mittendrin statt nur dabei“, um auszudrücken, dass eben dieser Sender ein echtes Erlebnis von Immersion bereithält. Aus heutiger Perspektive scheint es vermessen, bei analogem Fernsehen ein Erlebnis von „mittendrin“ zu versprechen, wo doch Streaming on demand und videorealistische Computerspiele mit VR-Brillen auf dem Vormarsch sind. User entscheiden dort nicht nur, welche Inhalte sie wann sehen wollen, sie können auch die Perspektive oder gar die Handlung bestimmen und sich so wirklich „mittendrin“ fühlen. Ein klarer Fall von „digital beats analog“.
In der Marktforschung sind es klassischerweise die qualitativen Methoden, die Immersion versprechen, das Eintauchen in die Lebenswirklichkeit von Menschen. Während quantitative Fragebögen wenig auf die individuelle Situation der Befragten eingehen, versuchen qualitative Forscherinnen und Forscher, das Individuum in den Mittelpunkt zu stellen und somit die allseits geforderte Consumer Centricity zu gewährleisten.

Die Interaktion spielt die entscheidende Rolle

Digitale Methoden spielen hierbei traditionell eine untergeordnete Rolle, stattdessen soll es möglichst „menscheln“: Die Interaktion zwischen Forschern und Befragten spielt die entscheidende Rolle.
Der Onlineforschung im Allgemeinen und Online-Communities im Besonderen hingegen wird das Menschliche gerne abgesprochen, weil der Austausch nicht direkt erfolgt, sondern über den Umweg einer technischen Plattform. Dabei hat uns doch die Pandemie gelehrt, dass wir hier umdenken müssen: In Zeiten von Lockdowns und Kontaktbeschränkungen hat sich nahezu aller menschliche Austausch zwangsweise in den digitalen Raum verlagert – so auch qualitative Forschung. Forschung hat dennoch stattgefunden und tiefgreifende Erkenntnisse gab es auch. Das wird wohl niemand anzweifeln. Und doch bewegt sich in diesen Tagen die qualitative Forschung aus dem digitalen Bereich zunehmend wieder hinaus. 

In die digitalen Lebenswelten eintauchen

Es stellt sich nun die Frage, ob dieses Zurück, weg von digitalen Methoden, in der qualitativen Forschung wirklich zeitgemäß ist. Wird nicht vielmehr eine stärkere Öffnung hin zum Digitalen benötigt? Wenn Menschen in Deutschland den größten Teil des Tages online sind, sich kaum einen Meter von ihrem Handy entfernen und die Smartwatch gar im Schlaf nicht ablegen, können wir ihre Lebenswirklichkeit dann noch vollumfänglich im Rahmen einer Gruppendiskussion abbilden, bei der die Smartphones „bitte unbedingt ausgeschaltet“ bleiben sollen? Unsere Meinung dazu lautet: Nein! Wenn qualitativ auch in Zukunft tiefschürfend und vor allem umfassend sein soll, dann muss auch der digitale Teil der Lebenswirklichkeit im Fokus der Betrachtung stehen. Und dies darf sich keinesfalls darauf beschränken, Menschen im Rahmen eines analogen Gesprächs über ihre digitalen Erfahrungen berichten zu lassen. Vielmehr müssen wir sie auch bei ihren Erlebnissen begleiten, in ihre digitale Lebenswirklichkeit eintauchen: Mittendrin sein, statt nur darüber reden. 

Online-Communities zeigen die Wirklichkeit

Online-Communities, die von erfahrenen qualitativen Forscherinnen und Forschern moderiert werden, bieten hierfür eine hervorragende Möglichkeit: Sie erlauben Menschen, so zu kommunizieren, wie es ihrer Wirklichkeit entspricht. Nicht vornehmlich mit geschriebenem Text, sondern mit Bildern, Emojis, Sprachnachrichten oder Kurzvideos. Teilnehmende können sich selbst mitteilen und die Posts anderer lesen oder kommentieren, so wie sie das durchschnittlich 89 Minuten pro Tag im Rahmen anderer Social-Media-Plattformen auch tun. Die Aufgabe der Moderation besteht darin, den natürlichen Austausch behutsam zu fördern, ohne in ein reines Frage-Antwort-Spiel zu verfallen.
Wenn qualitativ auch in Zukunft tiefschürfend und vor allem umfassend sein soll, dann muss auch der digitale Teil der Lebenswirklichkeit im Fokus der Betrachtung stehen. Und dies darf sich keinesfalls darauf beschränken, Menschen im Rahmen eines analogen Gesprächs über ihre digitalen Erfahrungen berichten zu lassen. Vielmehr müssen wir sie auch bei ihren Erlebnissen begleiten, in ihre digitale Lebenswirklichkeit eintauchen: Mittendrin sein, statt nur darüber reden.

Teilnehmende in Communities beantworten durchaus die Fragen der Forschenden, kreieren aber auch Ideen und entwickeln diese aufgrund des Feedbacks der Gruppe gemeinsam weiter. Sie tun dies inmitten ihres Alltags, wann immer sie offen dafür sind, nicht nur für 90 Minuten während eines vordefinierten Zeitfensters. Mithilfe einer maßgeschneiderten App-Lösung, die den Zugang besonders komfortabel macht, wird die Marktforschungsstudie so auch Teil des Alltags, statt lediglich in einem künstlich hergestellten Versuchsraum stattzufinden.
Dieser niedrigschwellige Zugang erweitert den Horizont der Forschenden, indem er Einblicke in Lebenssituationen zulässt, zu denen wir analog keinerlei Zugang hätten. Gerade in längerfristigen qualitativen Communities nehmen uns Menschen etwa mit auf Reisen und posten von unterwegs. Wenn das Fazit zum Produkttest in einer Schiffskabine aufgenommen wurde, dann beweist schon das sichtbare Schaukeln im Video, dass man am echten Leben des Gegenübers teilnimmt. Für einen Studiotest hätte die gleiche Person in diesem Zeitraum selbstredend nicht zur Verfügung gestanden.

An den Alltag der Community-Mitglieder anpassen

Wenn das Ziel hochwertiger Marktforschung eine Verankerung im echten Leben sein soll, mit fließenden Übergängen statt harten Cuts, dann heißt das für uns als Forschende aber auch, dass wir uns dem Alltag der Teilnehmenden anzupassen haben. Wir müssen Puffer einplanen, weil eben nicht alle das Testprodukt nach zwei Tagen vollumfänglich begutachtet und uns ihr Feedback dazu gegeben haben. Community-Teilnehmende sind keine stets verfügbare Ressource, keine Datenlieferantinnen, die allabendlich zuverlässig ihren Dienst tun. Eine Erkrankung in der Familie oder Stress im beruflichen Umfeld haben nicht nur wir, sondern auch unsere Gegenüber. Wir haben es mit Menschen zu tun, die bereit sind, uns ihre Bedürfnisse, Wünsche oder auch Herausforderungen mitzuteilen, damit wir darauf aufbauend Insights für unsere Kunden generieren können. Aber das ist keine Einbahnstraße: Offenheit setzt eine Reziprozität voraus, und damit ein Maß an persönlichem Austausch, der in der traditionellen Marktforschung eher unüblich ist.
Daher muss auch die Rolle der qualitativ Forschenden ein Stück weit neu definiert werden: Miterleben und Nahbarkeit stehen dabei im Mittelpunkt, viel mehr als das Fragenstellen. Die Kunst der erfolgreichen Moderation einer Online-Community besteht darin, sich so mit den Posts von Teilnehmenden auseinanderzusetzen, dass ein echter, persönlicher Austausch entsteht. Nur wenn Moderatorinnen sich ebenfalls öffnen, entsteht gegenseitiges Vertrauen und damit die Chance, die Lebenswirklichkeit des Gegenüber wirklich zu erfassen. Das bedeutet keinesfalls, die professionelle Objektivität zu vernachlässigen, sondern vielmehr, darüber hinaus eine persönliche Ebene des Austauschs zu addieren. Übrigens eine Kunst, die auch in analogen qualitativen Studien erforderlich ist, wenn Moderatoren den Teilnehmenden auf einer menschlichen Ebene begegnen wollen.

Nichts geht über den persönlichen Austausch

Die Förderung dieses persönlichen Austauschs erscheint banal, erfordert aber eine Reihe von wohlüberlegten Maßnahmen: Schon zu Beginn einer langfristig angelegten Community empfiehlt es sich unbedingt, sich den Teilnehmenden persönlich vorzustellen, und zwar mithilfe eines selbstgemachten Videos. Im heimischen Wohnzimmer, Badezimmer oder auf dem Balkon – am besten passend zum Thema der Community – erzählen unsere Moderatorinnen und Moderatoren möglichst spontan etwas von sich. Dieses kurze Video soll keinesfalls professionell produziert sein, sondern möglichst Spontanität ausstrahlen. Es erfordert ein bisschen Überwindung und vielleicht mehrere Anläufe, aber es zahlt sich aus: Denn gerade das Unperfekte nimmt den Teilnehmenden die Scheu, sich später selbst in Form von Videos zu äußern. Die Distanz wird verringert, die Moderatorinnen und Moderatoren werden nahbar.
Das Autorenteam
Kerstin Gass, Ipsos
FOTO: IPSOS
Kerstin Gass ist Diplom-Psychologin und seit über 20 Jahren in der qualitativen Marktforschung tätig. Bei Ipsos ist sie als Expertin für Online-Communities verantwortlich und fest davon überzeugt, dass die Methode sich auch für tiefe Insights eignet.

Désirée Gallisch, Ipsos
FOTO: IPSOS
Désirée Gallisch hat ihre Leidenschaft für die qualitative Forschung während ihres Masterstudiums in Soziologie und Sozialforschung entdeckt. In der qualitativen Abteilung bei Ipsos hat sie einen Fokus auf Online-Methoden – insbesondere Communities.


Außerdem haben in längerfristigen Communities neben den zielgerichteten Aktivitäten auch offene Diskussionsforen eine wichtige Funktion, in denen sich Forschende und Teilnehmende ganz ungezwungen, fast ziellos, austauschen: Da werden Grüße aus dem Garten mit Selfie gepostet, man wünscht sich gegenseitig ein schönes Wochenende oder teilt den Frust über die gerade eingefangene Erkältung. Meist dreht es sich um Fragen oder Themen, die normalerweise im Freundes- oder Familienkreis angesprochen werden. Entscheidend ist hierbei, dass auch wir als Moderatorinnen in diesen Foren aktiv sind: Ein Selfie auf dem Weg ins Büro, bei dem die Haare zu Berge stehen und man sich fragt, warum man am Morgen überhaupt Zeit vor dem Spiegel investiert hat. Als Antwort kommen, wenn auch zeitversetzt, verständnisvolle Kommentare, lachende Emojis, oder ebenfalls Selfies aus ähnlichen Situationen. Was aber zwischen den Zeilen zurückkommt, ist viel erheblicher: Ein Gefühl von Verbundenheit, Nähe und Vertrauen, das wiederum die Basis bildet für den kommenden Austausch.
Auch das Gemeinschaftsgefühl der Teilnehmenden untereinander wird gestärkt, durch eine insgesamt offene und persönliche Atmosphäre innerhalb der Community. Man gibt sich gegenseitig einen Vertrauensvorschuss, lernt sich intensiver kennen und verbringt gerne Zeit in diesem Kreis. Die Aufgaben, die natürlich auch zu erledigen sind, werden dabei fast zur Nebensache und erscheinen den meisten eher als kleiner Freundschaftsdienst. Im besten Fall werden sie fast unbemerkt in die täglichen sonstigen Social-Media-Aktivitäten integriert. Für die Teilnehmenden fügt sich unsere Marktforschungs-Community ein in ihren Instagram-, Facebook- oder Snapchat-Alltag.
Wir kennen den Inhalt der Vorratskammer von Menschen, denen wir nie begegnet sind. Wir haben Frauen dabei zugesehen, wie sie Pflegeprodukte ins nasse Haar einmassieren und eine unmittelbare Bewertung der Erfahrung gehört – mit Handtuchturban um die noch nasse Haarpracht. Erfahrungen aus erster Hand, die man sich nur schwerlich im Rahmen einer analogen Forschung vorstellen kann.

Wenn also eine Community durch eine einfühlsame qualitative Moderation zu einer Gemeinschaft im eigentlichen Wortsinn geworden ist, dann eröffnen Mitglieder auch ihren persönlichen Bereich. Mithilfe von digitalen Geräten wie Tablet, Smartphone oder Laptop laden sie uns zu sich ein, nehmen uns mit in ihr Badezimmer oder ihre Küche. Wir kennen den Inhalt der Vorratskammer von Menschen, denen wir nie begegnet sind, und verstehen, warum sie Produkte gekauft haben oder welche Aspekte bei der Auswahl wichtig waren, denn während sie diese in die Kamera halten, wird es ihnen oft wieder klar. Wir haben Frauen dabei zugesehen, wie sie Pflegeprodukte ins nasse Haar einmassieren und eine unmittelbare Bewertung der Erfahrung gehört – mit Handtuchturban um die noch nasse Haarpracht. Erfahrungen aus erster Hand, die man sich nur schwerlich im Rahmen einer analogen Forschung vorstellen kann und die diese perfekt ergänzen.
Natürlich bieten Online-Communities darüber hinaus die Möglichkeit, ohne großen Aufwand neue Produkt- oder Kommunikationskonzepte zu testen oder mit wenig Vorlauf Fokusgruppen oder Workshops – teilweise auch in analoger Form – aufzusetzen. Auch das tun wir und die Abwechslung macht sicher den Reiz für alle Beteiligten aus. Aber wenn die Mitglieder einer langfristigen Community uns am Ende ihrer Mitgliedschaft begeisterte Dankes- und Abschiedsnachrichten gespickt mit Herz-Emojis schicken, dann wissen wir, dass wir Teil ihres Lebens waren und dass tiefschürfend und digital in der qualitativen Forschung sicher kein Gegensatz sind, sondern vielmehr untrennbar verbunden.

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