Lesen Sie diesen Artikel auch auf Englisch.

Wir sind auf dem Weg in eine Zukunft, die von hohen Schulden geprägt ist. Der jüngste französisch-deutsche Vorschlag für einen europäischen Wiederaufbaufonds in Höhe von 500 Milliarden Euro lässt den Haushaltsplänen der EU-Mitgliedsstaaten wenigstens ein bisschen mehr Luft. Trotzdem wird sich bis 2021 die Schuldenlast Italiens voraussichtlich auf mehr als 150 Prozent des Bruttoinlandsprodukts belaufen, in Frankreich werden es 120 Prozent des BIP sein.

Können daraus Instabilität und langfristige Gefahren erwachsen? Das schlimme Erbe der Eurozonenkrise legt diese Vermutung nahe. Zwischen 2010 und 2015 wurde der politische Alltagsbetrieb in der EU mehrmals empfindlich gestört, und während man <link regionen europa artikel detail die-bittere-wahrheit-ueber-die-eurokrise-4145>verzweifelt versuchte, eine Staatsschuldenkrise abzuwenden, stürzte in weiten Teilen Europas die Wirtschaft in eine anhaltende Rezession.

Eine Erkenntnis, die sich aus dieser traumatischen Erfahrung ziehen lässt, ist, dass man am besten keine Schulden macht. Verbunden mit der Forderung, Einkommenssteuern progressiv zu erhöhen, Vermögen höher zu besteuern und massiv gegen Steuervermeidung vorzugehen, spricht vieles für diese Erkenntnis. Aber der Schuldenverzicht ist nicht nur unrealistisch, sondern wirkt auch blockierend. Staatsschulden sind, vernünftig gehandhabt, für moderne Staaten ein unverzichtbares Instrument. Europa sollte sie nicht vermeiden, sondern sich seinen Schuldendämonen stellen.

Die Anleihenkrise in der Eurozone war durchaus keine unvermeidbare Folge von Spannungen zwischen Demokratie und Kapitalismus, Bürgern und Markt, nationalen Steuerzahlern und ungebundenen Finanz-Kosmopoliten. Die Eurozone schuf vielmehr ihre eigene, sehr eigentümliche Staatsschuldenkrise. Nun hat sie es in der Hand, nicht nur die Bedingungen dieser früheren Krise aus dem Weg zu räumen, sondern auch eine neue Finanz- und Geldordnung aufzubauen: in der Steuerpolitik, der Ausgestaltung der Europäischen Zentralbank, aber auch in der Struktur des Anleihemarktes selbst.

Staatsschulden sind, vernünftig gehandhabt, für moderne Staaten ein unverzichtbares Instrument. Europa sollte sie nicht vermeiden, sondern sich seinen Schuldendämonen stellen

Generell agierten die globalen Anleihemärkte seit 2008 wie zahme Monster. Seit der Subprime-Hypothekenkrise leihen tief verunsicherte Anleger den relativ sicheren Staaten gern ihr Geld. Sogar Großbritannien, das mit seinem chaotischen „Brexit“ beschäftigt ist, konnte günstig Geld aufnehmen. Bei den besonders beliebten Kreditnehmern in Europa, etwa Deutschland, sind die Zinsen mittlerweile ins Minus gerutscht. Angesichts des Covid-19-Schocks setzt sich der Trend fort: Mit steigenden Schulden fallen die Zinsen. Gläubiger haben praktisch keinen Hebel mehr.

Dass auf dem Höhepunkt der Krise 2010 bis 2012 die Anleihemärkte in den schwächeren Mitgliedstaaten der Eurozone eine so beherrschende Rolle spielten, war alles andere als normal. In Griechenland war die Finanzlage sicher hoffnungslos, in Spanien, Irland und Italien schwierig. Doch der Druck wurde massiv verstärkt durch die selbst auferlegten institutionellen Zwänge, die strategische Untätigkeit wichtiger EU-Staaten, besonders Deutschland, und das gefährliche Katz-und-Maus-Spiel der EZB unter Jean-Claude Trichets konservativer Führung.

So agierten die Anleihemärkte als Vollstrecker, die nicht so sehr wie eine plündernde Bürgerwehr, sondern eher wie paramilitärische Killerkommandos mit stillschweigender Duldung der Zuständigen ihr Unwesen trieben. An die Stelle der schwachen kollektiven Fiskaldisziplin trat die Androhung von Terror durch den Anleihemarkt.

Wem nutzte eigentlich dieser seltsam dysfunktionale Umgang der Europäer mit dem Staatsschuldenproblem? In einer spekulativen Attacke werden Kauf und Verkauf von Profitstreben und der Flucht in die Sicherheit geleitet. Da liegt der Schluss nahe, dass Anleger und Finanzmärkte das Bild bestimmen. Doch niemand kann behaupten, dass der Scherbenhaufen, den die Eurozonenkrise anrichtete, allgemein im Interesse des Finanzkapitals war. Häufig kam das Gegenteil dabei heraus. Das elende Schicksal der europäischen Banken seit 2008 deutet jedenfalls nicht darauf hin, dass ihnen das Krisenmanagement zum Vorteil gereichte.

Die Funktionsstörung resultierte aus dem Scheitern der Politik und insbesondere dem Hang, in der unvollständigen Währungsunion Europas Politik durch „Marktdisziplin“ zu ersetzen. Man vermied es, kollektive Entscheidungen herbeizuführen und durchzusetzen und verließ sich stattdessen auf die Märkte. Unter den vielen Bestrebungen, die Politik unter dem Banner des „Neoliberalismus“ zu entlasten, war dies eine besonders gefährliche: In einer Krise herrscht auf den Märkten nicht etwa rationale und nachhaltige Disziplin, sondern Panik. Statt einer Entpolitisierung der Fiskal- und Geldpolitik entstanden Ressentiments auf allen Seiten. Fast ein Jahrzehnt nach der Krise ist der Europäische Stabilitätsmechanismus, der Rettungsfonds der Eurozone, immer noch so toxisch, dass ihn niemand anfassen mag.

Die Funktionsstörung resultierte aus dem Scheitern der Politik und insbesondere dem Hang, in der unvollständigen Währungsunion Europas Politik durch „Marktdisziplin“ zu ersetzen.

Das paradoxe Ergebnis dieser gescheiterten Strategie der Entpolitisierung war, dass auf dem Höhepunkt der Krise sogar die Investoren nicht etwa weniger, sondern mehr Politik forderten. Sie wünschten sich eine Zusage, den Euro in jedem Fall zu stützen, und genau die lieferte der damalige EZB-Präsident Mario Draghi mit seiner Zusicherung zu tun, „was auch immer notwendig ist“. Damals, im Jahr 2012 erhielt die Bank ihr erweitertes Mandat für Interventionen, auf das wir in der Covid-19-Krise immer noch setzen. Doch da wir uns in der Europäischen Union befinden, muss die Logik des „was auch immer notwendig ist“ mit dem eingeschränkten Mandat der EZB in Einklang gebracht werden. Dafür braucht es überzeugende wirtschaftliche und rechtliche Argumente.

Heute herrschen andere Bedingungen als 2012. Die Coronakrise und ihre Folgen, die Ökoenergiewende und die Überalterung der europäischen Bevölkerung stellen die EU vor massive Herausforderungen. Europa könnte diese Herausforderungen durch Improvisation bewältigen. Im besten Fall könnten wir dann hoffen, dass die EU dem Vorbild Alexander Hamiltons folgt und sich zu einheitlichen „Vereinigten Staaten“ weiterentwickelt. Aber warum gehen wir nicht gleich etwas mutiger heran und skizzieren, nur so als Gedankenexperiment, einen radikaleren Umbau des Fiskal-, Finanz- und Geldsystems? Einen Umbau, der damit beginnt, dass das planlose Durcheinander aus Politik und Finanzmarkt, das die Entwicklung bislang behindert hat, entworren wird?

Dafür müsste natürlich zunächst eine echte fiskalische Säule entstehen, die gemeinsame Kreditaufnahme mit robuster und einheitlicher Einnahmensteigerung verbindet. Hier könnte uns der deutsch-französische Vorschlag leiten, so er die Unterstützung der übrigen EU-Staaten erhält.

Die zweite Säule wäre ein erweitertes EZB-Mandat, das die tatsächlichen Verantwortungsbereiche einer Zentralbank abdeckt. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat geurteilt, dass Preisstabilität allein nicht ausreicht, sondern dass sie gegen andere wirtschaftliche und soziale Interessen abgewogen werden muss. Ganz oben sollten hier allerdings nicht die Sparer stehen, sondern das Mandat sollte auch ein Bekenntnis zu maximaler Beschäftigung und ökologischer Nachhaltigkeit umfassen und der Entkarbonisierung bis 2050 Priorität einräumen.

Anders als Hamiltons Weiterentwicklung der Fiskalpolitik würde diese Neudefinition der Rolle der Zentralbank nicht nur mit der Geschichte Europas brechen, sondern auch mit den Gepflogenheiten, die seit den 1980er Jahren weltweit die Wirtschaftspolitik beherrschen. Wenn plötzlich die Inflation nicht mehr im Mittelpunkt aller Überlegungen steht, so könnte das die Anleihemärkte schwer erschüttern. Sie könnten zu dem Schluss gelangen, dass eine EZB, die die Beschäftigungschancen junger Menschen in Europa zu berücksichtigen hat, durch höhere Zinssätze diszipliniert werden muss. Angesichts des Schuldenbergs, auf den wir uns zu bewegen, hätte eine solche Erpressung auf dem Anleihemarkt ruinöse Folgen. Deshalb braucht die radikale Vision einer neuen Finanzstruktur für Europa eine dritte Säule: die Wiederherstellung des Marktes für Staatsanleihen.

Wenn aus dem Finanzministerium oder aus einer Zentralbank jemand auf eine lukrative Position im privaten Sektor wechselt oder umgekehrt, sollten wir als Steuerzahler das Recht haben, es zu erfahren.

Vom deutschen Finanzminister kam im vergangenen Jahr der konstruktive Vorschlag, die Vorschriften dahingehend zu ändern, dass alle europäischen Banken „‚safe portfolios‘ an Staatsanleihen aufbauen“. Statt dass italienische Banken italienische Anleihen halten, sollen alle Banken über ein ausgewogenes Portfolio sämtlicher Staatsanleihen der Eurozone verfügen. Da so die europäischen Banken gemeinsam an die Staatsschuldner der Eurozone gebunden wären, könnte in der Tat ein „europäisches Team“ entstehen.

Diese Maßnahme wäre ein Schritt in die richtige Richtung, weil der Staatsschuldenmarkt damit tatsächlich gestärkt würde. Es geht hier um die Frage, wem welche Schulden gehören. In dieser Form gestellt, wird die Bankenregulierung in der Eurozone zum Thema für das Fiskal- und Finanzsystem.

In welche Richtung es auch geht: Wir sollten Transparenz einfordern. Wer hält welche Anleihen? Wer kauft, wer verkauft Staatsanleihen? Welche Firmen? Namen und Adressen bitte. Und wir müssen wissen, wer die Kontrolle hat und wer die wahren Nutznießer sind. Der Saldo aus den Zinszahlungen an die Endbegünstigten und den Einnahmen im Steuersystem entscheidet am Ende darüber, in welcher Richtung die Schuldenfinanzierung Einkünfte umverteilt.

Das hybride Netzwerk öffentlich-privater Macht, das Zirkulation und Besitz von Staatsanleihen bestimmt, muss in seiner gesamten Breite sichtbar gemacht werden. Es umfasst komplizierte rechtliche und technische Übereinkünfte, Computersysteme und Financial Engineering, aber auch Menschen.

Wer sind die Männer und Frauen, die an Kauf und Verkauf beteiligt sind? Zwischen öffentlicher und privater Finanzwirtschaft gibt es bekanntermaßen eine Drehtür. Wie funktioniert sie? Wenn aus dem Finanzministerium oder aus einer Zentralbank jemand auf eine lukrative Position im privaten Sektor wechselt oder umgekehrt, sollten wir als Steuerzahler das Recht haben, es zu erfahren.

Auch das weitere Umfeld sollte bekannt sein: die Strategen, die Analysten, die Fachleute am Anleihemarkt, die Ratingagenturen und ihre Anwälte. Die EZB macht Anleihekäufe von Bewertungen der Agenturen abhängig, die die neue Politik der Transparenz daher unmittelbar betrifft.

Wer mit Staatsanleihen handelt, handelt nicht mit x-beliebigen Schuldscheinen. Er oder sie handelt mit Schuldscheinen souveräner Staaten. Weil wir alle unsere Steuern zahlen müssen, sind die Zinszahlungen für diese Schulden besonders sicher. Wenn für die Zentralbank Preisstabilität als Ziel festgesetzt wird, ist das ein zusätzliches Entgegenkommen an die Anleihegläubiger. Im Gegenzug können wir zumindest erwarten, dass wir erfahren, wem wir was schulden und welche Bedingungen für diese Schulden gelten.

Ziel ist es, Klarheit in die Politik der Staatsverschuldung zu bringen, Panikmache und Mobbing durch Informationen und ernsthafte Kontrolle zu ersetzen.

Mit der radikalen Transparenz, die hier gefordert wird, geht natürlich einher, dass auch die Grenze zwischen öffentlich und privat, zwischen Finanzmärkten, Politik und Staat neu definiert werden muss. Könnte das Anleger abschrecken? Wären sie einer inakzeptablen Überprüfung ausgesetzt? Nun, jedenfalls würde eine Machtverschiebung damit einhergehen. Ziel der Sache ist es ja, das Gegenteil zu verhindern: die demütigende Unterwerfung der Politik und des Staates unter die private Finanzmacht.

Dabei sollen Anleihegläubiger und Fondsmanager keinesfalls verteufelt werden. Ziel ist es, Klarheit in die Politik der Staatsverschuldung zu bringen, Panikmache und Mobbing durch Informationen und ernsthafte Kontrolle zu ersetzen. Angesichts der hohen Schulden, auf die wir zusteuern, müssen wir das Wirrwarr, in dem wir uns befinden, dringend hinter uns lassen.

Und nicht nur Anleger sollten sich vor dem öffentlichen Pranger fürchten. Schließlich erledigen Fondsmanager und Ratinganalysten auch nur ihre Arbeit. Der wahre Skandal liegt woanders: in der kollektiven Bereitschaft Europas, auf „Marktdisziplin“ zu setzen statt auf politische und konstitutionelle Vereinbarungen. Dass die Staatsschulden der Eurozone an Sicherheit verloren haben, liegt an eben diesem Verzicht auf Politik.

In den Jahren 2010 bis 2012 richtete dieser Verzicht katastrophale Schäden an. Angesichts der finanziellen Folgen der Covid-19-Krise können wir uns eine Wiederholung nicht leisten. Ziel der radikalen neuen Transparenz für die Staatsschulden sollte es sein, jede weitere Ausflucht zu verhindern: indem wir die tatsächlichen Abläufe dessen, was wir Markt nennen, offenlegen und die Politik in die Verantwortung nehmen.

Aus dem Englischen von Anne Emmert

Dieser Artikel ist eine gemeinsame Veröffentlichung von Social Europe und dem IPG-Journal.