Von rechtswidrigen Inhaftierungen, fehlendem anwaltlichen Beistand und dringend nötigen Reformen in der Abschiebungshaft

von HANNAH FRANZ

Im Migrationskontext wird häufig von der „Festung Europa“ gesprochen. Zur Sicherung dieser „Festung“ kommen verschiedene Mittel zum Einsatz. Hierzu gehört u.a. die Abschiebungshaft; man könnte insoweit vom „Kerker der europäischen Festung“ sprechen. Jährlich werden in Deutschland zwischen 3.000 und 6.000 Personen in Abschiebungshaft genommen (hier; hier). Dabei stellen sich einige rechtsstaatliche Fragen.

Abschiebungshaft meint die Inhaftierung von Ausländern i. S. d. § 2 Abs. 1 AufenthG i. V. m. Art. 116 GG zum Zwecke der Sicherung der Durchführung der Abschiebung, vgl. § 62 Abs. 3 AufenthG. Damit stellt Abschiebungshaft einen Eingriff in die Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG dar. Anders als der Begriff „Haft“ vermuten lässt, handelt es sich bei Abschiebungshaft nicht um die Sanktionierung eines Fehlverhalten. Vielmehr liegt ihr Zweck allein darin, den Zugriff auf eine ausländische Person zu gewährleisten, deren Abschiebung andernfalls erschwert oder vereitelt würde.

Die Schicksale der von Abschiebungshaft Betroffenen sowohl während der Haft als auch während des gerichtlichen Anordnungsverfahrens fristen in der gesellschaftlichen wie politischen Öffentlichkeit seit jeher ein Schattendasein. Dabei gehen sie uns alle etwas an, denn sie bedrohen nicht nur die Freiheit Einzelner, sondern unseren Rechtsstaat als Ganzes.

Eine für einen Rechtsstaat nur schwer zu ertragende Quote an gerichtlichen Fehlentscheidungen ….

„Entscheidungen der Amtsgerichte in Freiheitsentziehungssachen haben sich jedenfalls bislang bei der Prüfung durch den BGH in einem bemerkenswert hohen Umfang – geschätzt 85 % bis 90 % – als rechtswidrig erwiesen.“, schrieb Johanna Schmidt-Räntsch, Richterin am Bundesgerichtshof a.D. im Jahr 2014 in Bezug auf die Abschiebungshaftverfahren. Auch Peter Fahlbusch, Rechtsanwalt aus Hannover, berichtet regelmäßig von einer hohen Rechtswidrigkeitsquote. Seit 2001 hat er bundesweit mehr als 2.458 Menschen in Abschiebungshaft vertreten. 1.283 von ihnen (und damit 52,2 %) waren laut den jeweils rechtskräftigen Entscheidungen rechtswidrig inhaftiert worden.

Solch hohe Rechtswidrigkeitsquoten sind ganz unabhängig ihrer genauen Größe für einen Rechtsstaat nur schwer zu ertragen und bedürfen dringend genauerer Untersuchung.

… die insbesondere auf die Missachtung von Verfahrensrecht zurückgeht

Die höchstgerichtliche Rechtsprechung zeigt immer wieder, dass die zuständigen Amtsgerichte sich weder mit der Materie selbst noch mit dem der Abschiebungshaft zugrunde liegenden Verfahren hinreichend auszukennen scheinen. So fehlt es in vielen Fällen an einem vollständigen Haftantrag der Verwaltungsbehörde (§ 417 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 FamFG). Ohne das Vorliegen eines solchen darf das Haftgericht die Haft jedoch nicht anordnen. Auch im Rahmen der Anhörung als dem „Kernstück der Amtsermittlung in Freiheitsentziehungsverfahren“ kommt es regelmäßig zu Fehlern, etwa wenn der Betroffene ohne die Beiziehung eines benötigten Dolmetschers oder ohne seinen Anwalt angehört wird. Hinsichtlich der Hinzuziehung eines Anwaltes gilt nach ständiger Rechtsprechung des BGH, dass grundsätzlich jeder Betroffene das Recht hat, sich in einem Freiheitsentziehungsverfahren von einem Bevollmächtigten seiner Wahl vertreten zu lassen und diesen zur Anhörung hinzuziehen. Vereitelt das Gericht dies durch seine Verfahrensgestaltung, so führt dies zur Rechtswidrigkeit der Haft. Zur ordnungsgemäßen Verfahrensgestaltung gehört es deshalb, dass das Gericht – soweit es Kenntnis von einem bestellten Rechtsanwalt hat oder während der Anhörung von einem Vertretungswunsch erfährt – die Teilnahme des Rechtsanwaltes am Termin gewährleistet.

Faktisch bedeutet dies, dass Betroffene anwaltliche Vertretung im Abschiebungshaftverfahren nur in Anspruch nehmen können, wenn sie dies klar fordern. Eine zusätzliche Hürde ist, dass sie für die Kosten selbst aufkommen müssen oder ein Antrag auf Verfahrenskostenhilfe erfolgsversprechend sein müsste. Anders als im Strafverfahren (vgl. §§ 140 ff. StPO) erfolgt keine Beiordnung von Amts wegen. In vielen Fällen stehen die Betroffenen der Abschiebungshaft daher ohne jegliche anwaltliche Vertretung gegenüber.

Möglichkeiten zur Verbesserung der Situation?

In den letzten Monaten wurde fleißig zur Verschärfung der Migrationspolitik verhandelt. Dabei steht stets eine Ausweitung der Abschiebungshaft im Raum; erweiterte Haftgründe, nahezu Verdreifachung der Höchstdauer für den Ausreisegewahrsam als eigentlich kurzzeitig geplante Maßnahme mit deutlich vereinfachten Voraussetzungen (hier).

Wenig Beachtung finden indes Möglichkeiten zur Bekämpfung der hohen Rechtswidrigkeit bei der Haftanordnung. Eine solche stellt insbesondere die Beiordnung eines anwaltlichen Beistandes von Amts wegen dar (hier). Diese würde es den oftmals mittellosen und der deutschen Sprache nicht mächtigen Betroffenen vor Gericht ermöglichen, ihre Grund- und Verfahrensrechte effektiv wahrzunehmen. Auch könnte so eine weitere Kontrollinstanz zur Wahrung eines ordnungsgemäßen, rechtsstaatswürdigen Verfahrens eingeführt werden.

Insoweit darauf verwiesen wird, für einen Pflichtanwalt bestehe aufgrund der derzeitig verfügbaren gesetzlichen Mittel (Verfahrenspflegerbestellung nach § 419 FamFG und Rechtsstandsbeiordnung im Sinne von Verfahrenskostenhilfe nach § 78 Abs. 2 FamFG) kein Bedarf, so ist darauf hinzuweisen, dass diese in ihrem Schutzgehalt weit hinter dem eines anwaltlichen Pflichtbeistandes zurück bleiben. Denn die Gewährung von Verfahrenskostenhilfe verlangt, dass ein entsprechender Antrag bei Gericht positiv entschieden wird. Die Antragsstellung wiederum erfordert eine so umfassende Begründung, dass eine rechtsunkundige Person diese ohne anwaltliche Unterstützung in der Regel gar nicht zu formulieren vermag. Bereits die Vorfinanzierung eines Anwaltes zur Stellung des Antrages auf Verfahrenskostenhilfe dürfte die finanziellen Mittel der von Abschiebungshaft Betroffenen jedoch bei weitem übersteigen.

Auch die Bestellung eines (juristisch nicht zwingend vorgebildeten) Verfahrenspflegers kann eine anwaltliche Pflichtbeiordnung nicht ersetzen. Denn die Anordnung eines Verfahrenspflegers erfolgt nach pflichtgemäßem gerichtlichem Ermessen. Weder sprachliche Barrieren noch die Komplexität der Sach- und Rechtslage rechtfertigen nach aktueller Rechtslage eine entsprechende Anordnung. Folglich kommt es in der Praxis kaum zur Bestellung, und selbst wenn, so ist diese in Art und Umfang des gewährten Beistandes nicht mit dem einer anwaltlichen Unterstützung gleichzusetzen.

Vorschlag für eine konkrete gesetzliche Formulierung

Logische Schlussfolgerung aus diesen Überlegungen ist eine gesetzlich normierte verpflichtende Beiordnung von Anwälten für das Haftanordnungsverfahren. Ein solches Erfordernis besteht nur dann nicht, wenn der Betroffene bereits für das Haftverfahren einen Rechtsbeistand hat. Allein das Vorhandensein eines Anwaltes in der aufenthaltsrechtlichen Sache darf das Erfordernis für einen Pflichtanwalt in der Abschiebungshaft nicht beseitigen, da der Verfahrensgang und die Verfahrensregelungen gänzlich unterschiedlich sind und nicht zwingend davon ausgegangen werden kann, dass der aufenthaltsrechtlich tätige Anwalt auch eine ausreichende Expertise für die Abschiebungshaftsache aufweist bzw. das Verfahren übernehmen und führen kann.

Die Anordnung eines solchen Rechtsbeistandes muss für alle Formen der Abschiebungshaft (insb. Sicherungshaft, (ergänzende) Vorbereitungshaft, Ausreisegewahrsam, Mitwirkungshaft, Dublin-Rücküberstellungshaft etc.) gelten. Auch muss es eine eigenständige gesetzliche Regelung geben. Ein bloßer Verweis auf die Anwendbarkeit der §§ 140, 141 StPO wäre nicht zielführend, da dies eine Parallele zwischen Strafhaft und Abschiebungshaft suggerieren würde, die bereits dem Haftzweck nach nicht gegeben ist.

Als geeigneter Standpunkt für die Regelung bietet sich eine Anknüpfung im Verfahrensrecht, also im FamFG an. Dies würde gewährleisten, dass die Regelung stets auf alle Formen der Abschiebungshaft (deren Verfahren sich stets nach dem FamFG richtet) Anwendung findet und so auch mögliche zukünftig zu schaffende Formen der Abschiebungshaft erfasst. Hier bietet sich insbesondere eine Ergänzung des § 10 Abs. 2 FamFG um einen neuen Satz 2 an. Zur besseren Sichtbarkeit kann auch eine zusätzliche Normierung im Aufenthaltsgesetz, etwa als § 62d AufenthG in Betracht gezogen werden, der ggf. auf die Regelung des FamFG verweist.

Ein Formulierungsvorschlag für den neu einzufügenden § 10 Abs. 2 S. 2 FamFG könnte wie folgt aussehen: „In den Fällen der gerichtlichen Entscheidung über die Anordnung einer freiheitsentziehenden Maßnahme bei Ausländern im Kontext der Vorbereitung bzw. Sicherung ihrer Ausreise (insb. Abschiebungshaft nach § 62 AufenthG, Ausreisegewahrsam nach § 62b AufenthG, ergänzende Vorbereitungshaft nach § 62c AufenthG, Mitwirkungshaft  nach § 82 Abs. 4 AufenthG, Verbringungshaft nach § 59 Abs. 2 AsylG, Zurückschiebungshaft nach § 57 Abs. 3 AufenthG, Zurückweisungshaft nach § 15 Abs. 5 und Abs. 6 AufenthG, Dublinhaft nach Art. 28 II, Art. 2 lit. n Dublin III-VO i.V.m. § 2 XIV 1 AufenthG i.V.m. § 62 Abs. 3 a oder Abs. 3 b AufenthG bzw. Art. 28 II, Art. 2 lit. n Dublin III-VO i.V.m. § 2 XIV 2 Nr. 1 oder Nr. 2 AufenthG, etc.), in denen der Betroffene noch keinen anwaltlichen Beistand für dieses Verfahren hat, bestellt das Gericht unverzüglich von Amts wegen einen solchen.“

Nicht nur für die von Abschiebungshaft Betroffenen, sondern auch für den Rechtsstaat wäre es ein Gewinn, wenn inmitten der stetigen Verschärfungen zumindest die Verfahrensrechte eine Korrektur erfahren würden.

 

Zitiervorschlag: Franz, Hannah, Von rechtswidrigen Inhaftierungen, fehlendem anwaltlichen Beistand und dringend nötigen Reformen in der Abschiebungshaft, JuWissBlog Nr. 4/2024 v. 16.01.2024, https://www.juwiss.de/4-2024/.

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Abschiebungshaft, Migrationsrecht, Pflichtanwalt, Rechtsbeistand, Rechtsstaat
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