Das Völkerrecht geht dem widersprechenden Verfassungsrecht vor

von HÜSEYIN CELIK

HueseyinCelikBesteht ein echter Normkonflikt zwischen Bundes- und Völkerrecht, so geht grundsätzlich die völkerrechtliche Verpflichtung der Schweiz vor. Der Vorrang besteht auch gegenüber späteren Bundesgesetzen. Die Schweiz kann sich nicht auf ihr innerstaatliches Recht berufen, um die Nichterfüllung eines Vertrags zu rechtfertigen. Entsprechend bleibt eine dem Völkerrecht entgegenstehende schweizerische Bundesgesetzgebung regelmässig unanwendbar. Mit solchen Argumenten anerkannte das Schweizerische Bundesgericht (BGer) in einem politisch spektakulären Urteil den Vorrang des Völkerrechts gegenüber dem widersprechenden Verfassungsrecht.

Hintergrundinformationen zum Urteil

Gegenstand des vorliegenden Urteils des BGer bildete die Beschwerde eines Ausländers „X“ gegen das Urteil des kantonalen Verwaltungsgerichts über den Widerruf der Niederlassungsbewilligung nach der Einführung der Ausschaffungsinitiative (Art. 121 Abs. 3-6 BV). Die Ausschaffungsinitiative sollte einen Ausschaffungsautomatismus ohne Verhältnismässigkeitsprüfung einführen und wirft deswegen verfassungs- und völkerrechtlich heikle Fragen auf.

In der materiellen Prüfung untersuchte das BGer vor allem die Rechtslage betreffend Widerruf der Niederlassungsbewilligung vor und nach der Einführung der Ausschaffungsinitiative unter Berücksichtigung ihrer eigenen Rechtsprechung und der Rechtsprechung des EGMR. Das Bundesgericht hielt den Widerruf der Niederlassungsbewilligung weder unter Berücksichtigung der Rechtslage vor der Ausschaffungsinitiative noch unter Berücksichtigung der neuen Rechtslage als verhältnismässig im Sinne von Art. 8 Ziff. 2 EMRK geboten (Erwägungen 3.2 und 4.1).

Vorrang des Völkerrechts bei Normkonflikten zwischen Bundes- und Völkerrecht – Praxisänderung?

Das Bundesgericht geht im Falle eines Normenkonflikts zwischen dem Völkerrecht und einer späteren Gesetzgebung grundsätzlich vom Vorrang des Völkerrechts aus; vorbehalten bleibt gemäss der „Schubert“-Praxis der Fall, dass der Gesetzgeber einen Konflikt mit dem Völkerrecht ausdrücklich in Kauf genommen hat (siehe die grundlegenden Urteile „Schubert“ und „PKK“). Dazu führt das Gericht nun aus:

„Besteht ein echter Normkonflikt zwischen Bundes- und Völkerrecht, so geht grundsätzlich die völkerrechtliche Verpflichtung der Schweiz vor […]; dies gilt selbst für Abkommen, die nicht Menschen- oder Grundrechte zum Gegenstand haben […]. Der dargelegte Vorrang besteht auch gegenüber späteren, d.h. nach der völkerrechtlichen Norm in Kraft getretenen Bundesgesetzen; die Lex posterior-Regel kommt im Verhältnis zwischen Völker- und Landesrecht nicht zur Anwendung […]. Die Schweiz kann sich nicht auf ihr innerstaatliches Recht berufen, um die Nichterfüllung eines Vertrags zu rechtfertigen (Art. 5 Abs. 4 BV; Art. 27 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge […]). Entsprechend bleibt eine dem Völkerrecht entgegenstehende Bundesgesetzgebung regelmässig unanwendbar […].“
(Erwägung 5.1)

Auch nach neuer Rechtslage ist das BGer an EMRK und EGMR-Rechtsprechung gebunden

Zum Art. 8 EMRK führte das Bundesgericht (in den Erwägungen 5.2.2 und 5.2.3) aus, die Konvention bzw. die diese verbindlich auslegende Rechtsprechung des EGMR verlange im Rahmen von Art. 8 Ziff. 2 EMRK eine Abwägung zwischen dem privaten Interesse der betroffenen Person am Verbleib im Land und dem öffentlichen Interesse an ihrer Entfernung.

Folglich sei das Bundesgericht auch bei Berücksichtigung der Ausschaffungsinitiative hieran gebunden. Denn gemäss Art. 190 BV habe das Gericht die sich aus der Rechtsprechung des EGMR ergebenden Vorgaben weiterhin umzusetzen. Der vom Verfassungsgeber zum Ausdruck gebrachten Wertung könne insoweit Rechnung getragen werden, als dies zu keinem Widerspruch zu übergeordnetem Recht führe, den der EGMR den einzelnen Konventionsstaaten bei der Umsetzung ihrer Migrations- und Ausländerpolitik zugestehe. (Erwägung 5.3)

Würdigung: Politisch spektakulär und juristisch revolutionär

Die in den letzten Jahren ergangenen umstrittenen Initiativen lancierten kontroverse Debatten über den Umfang der staatlichen Verpflichtungen zur Gewährleistung gewisser Freiheitsrechte. Deswegen ist das vorliegende Urteil in verschiedener Hinsicht und insbesondere für das Verständnis des Initiativrechts von grosser Bedeutung. Es wird innerstaatlich grosse Konsequenzen haben, was das Initiativrecht angeht. Denn wie die hier zur Debatte stehende Ausschaffungsinitiative betreffen auch die Verwahrungs- und Minarettinitiative völkerrechtlich heikle Fragen.

Die Umsetzung der Ausschaffungsinitiative wirft heikle verfassungs- und völkerrechtliche Fragen auf; den diesbezüglichen Ausführungen des Bundesgerichts ist in allen Punkten beizupflichten: denn, wie das Gericht feststellt, schliesst die Umsetzung von Art. 121 Abs. 3-6 BV (Ausschaffungsautomatismus) die völkerrechtlich gebotene Verhältnismässigkeitsprüfung der aufenthaltsbeendenden Massnahme im Einzelfall aus. Diesbezüglich steht die Ausschaffungsinitiative im Widerspruch mit den Geboten von Art. 8 EMRK bzw. Art. 13 BV und Art. 1 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK sowie von Art. 13 bzw. Art. 17 des UNO-Pakts II. Ferner können die Anforderungen aus dem Freizügigkeitsabkommen nicht mehr erfüllt und dem Kindeswohl kann nicht mehr im Sinne von Art. 3 der Kinderrechtskonvention Rechnung getragen werden.

Aus innerstaatlicher Sicht ist das Urteil politisch hoch spektakulär, weil es nicht zu erwarten war, dass sich das Bundesgericht zu einer solch politisch heiklen Frage so eindeutig äussert. Nicht zuletzt wegen der direktdemokratischen Tradition des Landes hat das Demokratieprinzip Vorrang vor dem Rechtsstaatsprinzip. In der Schweiz herrscht traditionell eine gewisse Skepsis gegenüber den Richtern und internationalen Gerichten sowie supranationalen Organisationen. Verglichen mit dem deutschen Bundesverfassungsgericht spielt das Schweizerische Bundesgericht deswegen eine eher zurückhaltende Rolle im System der Gewaltenteilung.

In dieser Hinsicht hat das Bundesgericht in diesem Urteil – für Schweizer Verhältnisse sehr ungewöhnlich – unzweideutig zum Ausdruck gebracht: das Völkerrecht geht der Verfassung in jedem Fall vor, auch wenn die Verfassungsbestimmung jünger ist. Das Urteil sollte deswegen als eine Vorwarnung des Bundesgerichts an Parlament und Volk qualifiziert werden, dass es ein völkerrechtswidriges Bundesgesetz nicht anwenden würde. Deswegen kommt der Gesetzgeber nicht darum herum, sich zukünftig bei der Konkretisierung der umstrittenen Initiativen an diesem Urteil zu orientieren.

Das Urteil ist aber auch juristisch revolutionär, was die unzweideutige Konkretisierung des Verhältnisses des Völkerrechts zu Landesrecht angeht; zum ersten Mal fällt das Bundesgericht ein konkretes Urteil über den Vorrang des Völkerrechts vor dem widersprechenden Verfassungsrecht. Dies wird sicherlich auch international eine Vorreiterrolle spielen.

Hüseyin Celik ist Doktorand bei Prof. em. Tobias Jaag (Zürich) und Gastforscher an der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, sowie Doc.Mobility-Stipendiat des Schweizerischen Nationalfonds (SNF).

Ausschaffung, Bundesgericht, Hüseyin Celik, Schweiz, Verfassungsrecht, Völkerrecht, Volksinitiative
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