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Essay

Antiparlamentarismus in Europa

von Prof. Dr. Andreas Schulz

Historische Perspektiven und aktuelle Tendenzen

Kritik an der angeblich mangelnden Repräsentation des Volkes begleitete den Parlamentarismus seit jeher. Als Hauptgegner etablierte sich seit dem 19. Jahrhundert der Marxismus, der Parlamente als Instrumente „bürgerlicher Klassenherrschaft“ abqualifizierte. Die Hoffnung, dass sich nach dem Ende des Systemkonfliktes während des Kalten Krieges die repräsentative Demokratie endgültig durchsetzen würde, erwies sich jedoch als Trugschluss. Aktuell ist eine problematische Tendenz zur Exekutivdominanz parlamentarischer Systeme zu beobachten, denn scheinbar handeln administrative Eliten „neutraler“ als die Vertreter politischer Parteien.

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Antiparlamentarismus – der Begriff klingt eindeutig, bezeichnet aber höchst unterschiedliche Vorstellungen, Akteure und Praktiken. Er setzt die Existenz repräsentativer Versammlungen voraus, die sich mit der Glorious Revolution 1688 zunächst in England und dann seit der der Französischen Revolution nach und nach in weiten Teilen Europas etablierten. Repräsentation und Parlamentarismus waren die Antwort auf das Demokratieversprechen von Gleichheit und Partizipation, Ergebnis und praktische Verwirklichung der revolutionären Forderung nach Volkssouveränität. Unvermeidlicher Weise konnte der Parlamentarismus nur als imperfekte Lösung gelten, weil eine Selbstregierung des Volkes nach dem Vorbild der antiken Demokratie sich im Maßstab der Nationalstaaten nicht verwirklichen ließ. Statt selbst Macht auszuüben, delegierte der Souverän in einem feierlichen Wahlakt die Verantwortung an eine Versammlung gewählter Vertreter. Das Parlament wurde damit zur politischen Körperschaft, zur Repräsentation des Volkswillens. Obgleich der Gedanke der Volkssouveränität also nur als Abstraktion existiert, blieb die Vorstellung, dass sich das Volk in dessen Vertretung verkörpere, konstitutiv für die Demokratiegeschichte. Weil die Präsenz des Souveräns nur simuliert werden kann, ist die parlamentarische Demokratie bis heute anfällig für Kritik. Wo immer diese ansetzt, welcher rhetorischen oder bildhaften Variante sie sich auch bedient, adressiert sie stets dieselbe Ausgangskonstellation: das Problem der Repräsentation.

 

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Inszenierung von Repräsentation

Um die Distanz zwischen Volksvertretung und Volk zu überwinden, ist der Parlamentarismus auf Öffentlichkeit und Kommunikation existentiell angewiesen. Persönliche Begegnungen der Abgeordneten mit ihrer Wählerschaft sind selten, umso wichtiger ist die Präsenz des Parlamentarismus im öffentlichen Raum. Sichtbarkeit und Nahbarkeit entsteht durch die Architektur und symbolische Sprache der Parlamentsgebäude, durch Offenheit und Transparenz parlamentarischer Beratungen, durch die Berichterstattung der Medien. Die kommunikative und performative Seite, die Darstellung parlamentarischer Politik sind von elementarer Bedeutung. Nicht von ungefähr erinnern Raumkonstruktion, Ausstattung und Choreografie parlamentarischer Abläufe an Theateraufführungen. Das parlamentarische Repräsentationstheater gleicht einer einstudierten Inszenierung mit Haupt- und Nebendarstellern, von den Abgeordneten wird rhetorisches und darstellerisches Talent erwartet. Theatralität und Dramaturgie parlamentarischer Politik erregen leicht den Verdacht, dass hinter den Kulissen der politischen Bühne im Bereich der »Hinterzimmer« die »eigentlichen« Verhandlungen und Abmachungen stattfinden.

Ein populärer Topos ist die Vorstellung von einer verborgenen Seite der Politik – als ob die Abgeordneten-Darsteller ein Stück aufführten, über dessen Besetzung eine unsichtbare Regie entscheide. Parlamentarismus erscheint so als unwirkliches Spektakel, zumal dann, wenn die Qualität der Darstellung, wenn Glaubwürdigkeit und Relevanz der politischen Aufführung nicht gegeben sind. Destruktiver Parlamentarismuskritik eröffnet das Bühnenschauspiel immer wieder Gelegenheit Politik als Illusionstheater vorzuführen, die Repräsentativität und Legitimität parlamentarischer Politik prinzipiell in Frage zu stellen: auf der Bühne regieren demnach Täuschung und Inszenierung, Palaver und Parteienstreit, während die Interessen des Volkes nicht zur Geltung kommen. Immer wieder aufs Neue lässt sich auf diese Weise das Fundamentalproblem der Repräsentation, die unaufhebbare Distanz zwischen Volk und Volksvertretern adressieren. Sie ist die immanente Schwachstelle repräsentativer Demokratien, Ansatzpunkt antiparlamentarischer Systemkritik.

Themen, Konjunkturen und Strömungen des Antiparlamentarismus bildeten von Anfang an einen gesamteuropäisch-transatlantischen Diskussionskomplex. Die Ursprünge liegen in der Französischen Revolution, als sich die konservative Adelsopposition überall in Europa gegen die Freiheits- und Gleichheitsparole der Republik verbündete. Nirgendwo aber war der Gegensatz schärfer ausgeprägt als in Frankreich, wo sich Aristokratie und Jakobiner auf Leben und Tod bekämpften. Ultra-Royalisten und Königsmörder begegneten sich im Parlament, und der Bürgerkrieg fand erst mit der Beseitigung der Thronansprüche der Bourbonen und ihrer Nebenlinien in der Dritten Republik ein Ende. Unter dem Eindruck der Kämpfe in Frankreich gab der Adel in den meisten Ländern Europas seine Fundamentalopposition auf. Im Vereinigten Königreich etablierte sich der Verfassungstypus der parlamentarischen Monarchie, gestützt auf eine landbesitzende Sozialschicht der adlig-bürgerlichen Gentry. Die Repräsentation des Adels und der Gentry im britischen Parlament und dessen exponierte parteipolitische Position gaben das Vorbild für eine politische Integration der Adelsopposition in Europa. In den konstitutionellen Monarchien des Deutschen Bundes, in der Habsburgermonarchie und weiten Teilen Ostmitteleuropas allerdings blieb die politische Privilegierung der Aristokratie zunächst bestehen. Aber auch dort wurde der Adel in der konservativen Opposition allmählich parlamentarisiert und für den politischen Machtverlust materiell entschädigt.

 

Parlamentarische Sicherheitszonen

War die adlige Systemopposition bis 1918 pazifiziert, so blieb der radikaldemokratische Gegenentwurf zum Parlamentarismus virulent. Von den Pariser Clubs und Sektionen war 1789 das politische Fanal demokratischer Selbstregierung ausgegangen, dort hatte das plebiszitäre Mandat der Sans-Culotten die Herrschaft der Kommune legitimiert. Mit der Revolution wurden öffentliche Versammlungen und Manifestationen zu einer alltäglichen Erscheinung, die Straße zum Aktions- und Partizipationsraum der Volksmassen. Obgleich sich die revolutionären Bewegungen in Europa wiederholt auch gegen demokratisch gewählte Volksvertretungen richteten, waren sie dennoch nicht per se antiparlamentarisch. Volksversammlungen, Massenpetitionen und die Vereinsbewegung bildeten in ganz Europa die politische Unterströmung für Parlamentarismus und Demokratie. Die Revolutionsparlamente von 1848 wurden von einer breiten Volksbewegung getragen, die ihren gewählten Vertretern demonstrativ Unterstützung signalisierte – von der Parlamentstribüne aus, vor den Parlamentsgebäuden, durch Umzüge und Festbankette. Die physische Präsenz des Souveräns auf der Straße nahm oft bedrohliche Dimensionen an und konnte sich gegen parlamentarische Mehrheitsentscheidungen richten, sie baute aber umgekehrt auch machtvolle Druckkulissen auf zur Abwendung gewaltsamer Gegenaktionen antiparlamentarischer Gegenspieler. Dies war etwa der Fall, als ein Volksauflauf vor dem Parlament der russischen Unionsrepublik im August 1991 einen Putsch gegen den gewählten Präsidenten und die von Streitkräften bedrohte Duma beendete.

Fundamental in Frage gestellt ist die politische Legitimität parlamentarischer Systeme immer dann, wenn der geschützte Binnenraum des Parlaments flagrant verletzt wird, durch das Eindringen größerer Menschenmengen in Gebäude und Räume, die Okkupation der Rednertribüne, erzwungene Resolutionen und die Anwendung körperlicher Gewalt gegen Abgeordnete. Mit der Einrichtung von Bannmeilen und Sperrbezirken definieren parlamentarische Demokratien Sicherheitszonen, an deren Grenzen eine imaginäre Scheidelinie zwischen legitimer Volksbewegung und angemaßter Pöbelherrschaft verläuft.

 

Herausforderung durch den Marxismus

Einen tiefen Einschnitt in der Geschichte des Parlamentarismus markiert der Aufstand der Pariser Kommune 1871. Die revolutionäre Stadtregierung und ihre bewaffneten Bürgergarden riefen offen zum Umsturz der Nationalversammlung auf, die darauf mit der Eliminierung der Kommunarden reagierte. Die revolutionäre Selbstverwaltung der Pariser Kommune hatte den Parlamentarismus und die repräsentative Demokratie grundsätzlich herausgefordert. Sie stellte eine neue Form demokratischer Selbstregierung durch kleine politische Organisationseinheiten dar, von deren Vorbild große Attraktion auf die sich formierende Arbeiterbewegung ausstrahlte. Der marxistischen Theorie lieferte die Niederschlagung der Kommune einen wichtigen Ansatzpunkt, dem Parlamentarismus jegliches emanzipatorische Potential abzusprechen und ihn als Instrument bürgerlicher Klassenherrschaft zu disqualifizieren. In der durch staatliche Repressionen bedrängten Sozialdemokratie löste sich der daraus entstandene Widerspruch zwischen Theorie und Praxis in einer politischen Doppelstrategie auf: dem passiven Erwarten der kommenden Weltrevolution einerseits, einem aktiven Reformismus in der parlamentarischen Arena andererseits. Parlamentarische Mandatsgewinne und der zunehmende politische Einfluss der Arbeiterpartei bestätigten diesen sozialdemokratischen Pragmatismus. Die »Negativintegration« einer anfangs dezidiert antiparlamentarischen Bewegung erscheint rückblickend als Erfolg einer geradezu dialektischen Vereinnahmungslogik parlamentarischer Systeme: durch ihr Mitwirken wurden antagonistische Kräfte gebändigt und schließlich vollständig parlamentarisiert.

Hatte sich der Parlamentarismus als funktionales Anerkennungs- und Belohnungssystem gegenüber der reformistischen Sozialdemokratie bewährt, versagte dieser Mechanismus jedoch gegenüber der sozialrevolutionären Radikalopposition. Der Protagonist dieser Strömung war der russische Sozialdemokrat Lenin. Er präsentierte seinen Kampfgenossen in der 1902 publizierten Schrift »Was tun?« den diametralen Gegenentwurf zur repräsentativen Demokratie: die »Partei neuen Typs«, deren absolutes Machtmonopol der Autor aus dem historischen Auftrag der Weltrevolution herleitete. Als revolutionäre Handlungsanleitung zur Ausschaltung aller konkurrierenden Gewalten wurde die Theorie durch die Praxis eindrucksvoll bestätigt. Dem Parlamentarismus wiesen die am Ende siegreichen Bolschewisten im Übergangsstadium zur Diktatur des Proletariats die Funktion einer Kampfarena revolutionärer Agitation zu, nach der Vollendung der Revolution war ihm der Platz auf dem Kehrichthaufen der Geschichte gewiss. Da dem Volk jegliches Bewusstsein seiner historischen Aufgabe als Akteur der Weltrevolution abgesprochen wurde, blieb die Hauptrolle der durch Intellekt und radikale Entschlossenheit legitimierten Avantgarde vorbehalten. In der Selbstermächtigung der Bolschewisten war nicht mal mehr ein formaler Bezug zum Volkswillen vorhanden – der Führungsanspruch der Partei der Revolutionäre verkörperte die Antithese zum Repräsentationsprinzip schlechthin.

Sozialistische Volksdemokratien als Gegenentwurf

Unter dem Regime des demokratischen Zentralismus war auch kein Raum für die Demokratiebewegung der Arbeiter-, Soldaten- und Bauernsowjets. Nach dem Vorbild des Petrograder Sowjets und ganz unabhängig vom Bolschewismus entstanden, bildete die russische Rätebewegung eine machtvolle Gegenstruktur revolutionärer Selbstverwaltung. Die von Lenin ausgegebene Parole »Alle Macht den Sowjets« war nur ein taktisches Zugeständnis, um Parlament und provisorische Regierung zu eliminieren. Anders als von ihm beabsichtigt, setzten sich die Sowjets jedoch 1917 für die Wahl einer verfassunggebenden Versammlung ein. Allein durch ihre selbständige Existenz gefährdeten sie die Autorität der Bolschewisten und mussten deshalb verschwinden. Obwohl die Sowjets in eine politisch bedeutungslose staatliche Institution transformiert wurden, blieb die Idee einer »Rätedemokratie« in ganz Europa bis in die 1970er Jahre ein von der außerparlamentarischen Opposition propagierter Gegenentwurf zur repräsentativen Demokratie. Als reale Alternative zu dieser etablierte sich aber stattdessen in den »Volksdemokratien« Ost- und Ostmitteleuropas Lenins Modell der straff zentralisierten Kaderpartei. Den sozialistischen Volksvertretungen wurde die Aufgabe zugewiesen, sich als organische Vollstrecker des Volkswillens scharf gegenüber dem »bürgerlichen Parlamentarismus« zu profilieren. Tatsächlich konnten sich die sozialistischen Parlamente darauf berufen, einen breiten sozialen Querschnitt der Bevölkerung zu repräsentieren. Doch stellte der demokratische Zentralismus das Repräsentationsprinzip auf den Kopf, indem die Kandidaten durch die Partei nominiert und dem Volk auf Einheitslisten ohne personale Wahlalternative präsentiert wurden.

Die nur durch Repression aufrechterhaltene Fiktion der »Einheit von Partei und Volk« scheiterte am Ende an der Verweigerung von Wahlfreiheit und Partizipation. Einheitsparole, Volksverbundenheit und Führungsauftrag wurden durch oppositionelle Gewerkschafts- und Bürgerbewegungen fundamental in Frage gestellt. Mit dem Ruf »Wir sind das Volk!« karikierte die Straßenopposition in der DDR die von der Staatspartei jahrzehntelang als Volksdemonstrationen inszenierten Aufmärsche und Loyalitätsbekundungen des Parteivolks. Der Souverän okkupierte selbst den politischen Raum und transferierte die Macht auf die Volksvertretung. In der Volkskammer der DDR und auf ähnliche Weise in der Föderativversammlung der Tschechoslowakei vollzog sich das revolutionäre Schauspiel der Parlamentarisierung einer machtlosen Volksvertretung − die Abwicklung des regierenden Antiparlamentarismus und Demokratisierung des politischen Systems in einem Akt.

 

„Repräsentationstheater“ faschistischer Regime

Es ist ein interessantes Phänomen, dass dezidiert antiparlamentarische Systeme auf Parlamente nicht glauben verzichten zu können. Bei den in den 1920er Jahren sich formierenden faschistischen Parteien war der Antiparlamentarismus Programm, die Feindschaft gegenüber Repräsentation und Parteienkonkurrenz nirgendwo schärfer ausgeprägt. Durch permanente Bewegung und Mobilisierung der Anhängerschaft, durch Gewalt und Repression, per Akklamation und Appell an die Gefolgschaft wurde eine Gegenstruktur zur parlamentarischen Mehrheitsentscheidung der Demokratie etabliert.

Dennoch nutzten faschistische Regime nicht nur während der pseudo-parlamentarischen Mitmachphase, sondern auch nach der Machteroberung die parlamentarische Bühne, um vor der Weltöffentlichkeit die Einheit von Führer und Volksgemeinschaft zu inszenieren. Im Parlament der uniformierten Statisten fand das Parteivolk Repräsentation und Anerkennung, das Regime formelle Legitimation durch parlamentarische Verfahren. Auch der Faschismus spielte Repräsentationstheater, um dem Publikum die Anwesenheit des Souveräns auf der politischen Bühne zu suggerieren.

Krise der Repräsentation in der Gegenwart?

Nach dem Untergang der totalitären Regime schien ein Siegeszug parlamentarischer Demokratien bevorzustehen. Tatsächlich hat sich diese Vision jedoch weder im globalen Maßstab noch in den postsozialistischen Demokratien Europas erfüllt. Die wachsende Komplexität gesellschaftlicher Problemstellungen begünstigt die Tendenz zur Verlagerung politischer Entscheidungen in den Verantwortungsbereich der Exekutive. Das dort aggregierte Fach- und Spezialwissen begründet nicht nur einen Informationsvorsprung, es verleiht administrativen Eliten auch den Anschein einer von Sachinteresse geleiteten »Neutralität«. Effizienz und Entscheidungskraft der Exekutive stehen im Kontrast zur Schwerfälligkeit der Legislative. Während die gesellschaftliche Akzeptanz parlamentarischer Mehrheitsentscheidungen erodiert, wachsen Gewicht und Bedeutung extraparlamentarischer Institutionen.

Die historische Entwicklung zur Exekutivdominanz parlamentarischer Systeme lässt sich in Europa sich bis in das späte 19. Jahrhundert zurückverfolgen. In Frankreich weitete sich der Kompetenz- und Regelungsbereich der Kriegskabinette seit 1914 sukzessive aus, und die instabilen parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse der Dritten Republik in der Zwischenkriegszeit begünstigten die pouvoir réglementaire der Exekutive. Einen qualitativen Sprung bedeuteten schließlich die personelle Herrschaft der Exilregierung des France Libre und die Einführung des Präsidialsystems der Fünften Republik. Der Gaullismus etablierte sich in seiner dirigistischen Staatsauffassung als politisch-ideologisches Gegengewicht zu Parlamentarismus und Parteiendemokratie.

In den postsozialistischen Demokratien Ostmitteleuropas ist die Tradition präsidialer Dominanz besonders ausgeprägt. Kaum vom Parlament ins Amt gewählt, setzte sich der erste Staatspräsident der tschechoslowakischen Republik als volksnaher Führer über dem parlamentarischen Parteienhader in Szene. Václav Havels Nachfolger trieben die Missachtung des Parlaments bis an den Rand des Verfassungsbruchs. Auf eine generelle Repräsentationskrise auch in den westlichen Demokratien deuten demoskopische Erhebungen aus jüngerer Zeit hin. Diesen zufolge rangiert das Prestige der unabhängigen Richterschaft der Verfassungs- und Staatsgerichtshöfe weit vor demjenigen der gewählten Volksvertreter. Überall zeigt sich die Tendenz, Institutionenvertrauen an Parlamenten vorbei an populäre Staatspräsidenten, an einzelne Ministerien und Fachbehörden, nicht zuletzt auch an extra-parlamentarische wissenschaftliche Expertenkreise und professionelle Beratungsagenturen zu delegieren. Für den »postrepräsentativen Zustand« der Demokratie hat der französische Historiker Pierre Rosanvallon den prägnanten Begriff der contre-démocratie gefunden. Kontrovers bleibt, ob der Vertrauenstransfer vom Parlament in die Institutionen der »Gegendemokratie« einen funktionalen Systemwandel oder eine Krise der repräsentativen Demokratie anzeigt.

Gegenwartsdiagnosen wie diese lenken den Blick zurück auf die Ursprünge des Antiparlamentarismus in der Französischen Revolution. Dort wurde das bis heute populäre Herrschaftskonzept einer pouvoir neutre geboren. Kaiser Napoleon I. und in dessen Nachfolge sein Neffe Louis Napoleón Bonaparte als Napoleon III. inszenierten sich erfolgreich als personale Alternative zur Selbstblockade einer von Parteikämpfen zerrissenen Republik. Der rhetorische Appell an das Volk und verordnete Referenden suggerierten pseudo-demokratische Legitimation. Auch moderne Protagonisten autoritärer Herrschaft operieren mit persönlichem Charisma, Volksverbundenheit und technokratischer Effizienz. Regime wie diejenigen Recep Erdoğans oder Viktor Orbáns erwecken den Eindruck von Durchsetzungsfähigkeit und Entscheidungskraft, die der parlamentarischen Langsamkeit überlegen scheint. Sie kombinieren formaldemokratische »bonapartistische« Herrschaftstechniken mit politischer Repression, Korruption und sozialem Protektionismus. Zivilgesellschaft und Parlamentarismus können in dem eingehegten Bewegungsraum gelenkter Demokratien allenfalls rudimentäre Partizipationsrechte behaupten, gleichwohl  finden deren Repräsentanten  in der Bevölkerung durchaus breite Resonanz. Die gegenwärtige Herausforderung der repräsentativen Demokratie besteht weniger in der Bedrohung durch antagonistische Kräfte als vielmehr in der Konkurrenz antiparlamentarischer Formen demokratischer Herrschaft.

 

Andreas Schulz ist Apl. Professor für Neuere Geschichte an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Generalsekretär der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien e.V., Berlin. 

 

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