Im Sprechzimmer des Arztes Edmund Müller Junior - Historiker und Museumsleiter Manuel Menrath.
Religion anders

Er interessiert sich für Glaube, Heilung, Geschichte und Geschichten

Der Luzerner Historiker Manuel Menrath hadert mit der katholischen Kirche, sieht sich als «kritisch-loyal». Die Jubla ist für ihn ein Herzensanliegen – genauso wie die Indigenen in Kanada. Ein Besuch im Haus zum Dolder in Beromünster, wo es auch um Spiritualität und Heilung geht.

Ueli Abt

Das Kalenderblatt für den 27. Mai 1976 riss Edmund Müller Junior nicht mehr ab. Landarzt Müller starb an einem Herzinfarkt. Es war der Auffahrtstag, an dem jeweils der Umritt stattfindet, für den Beromünster unter anderem bekannt ist. Müller sei im Ort beliebt gewesen, heisst es. Kurz nach 14 Uhr, zu seinem Todeszeitpunkt, stürzte das Blumenbouquet aus dem Auffahrtskranz im Ortszentrum auf die Strasse herunter. Der Vorfall sei belegt, sagt Historiker Manuel Menrath auf einem Rundgang durchs Haus.

Hier praktizierte zuletzt der bestens vernetzte Landarzt Edmund Müller Junior.
Hier praktizierte zuletzt der bestens vernetzte Landarzt Edmund Müller Junior.

Der Landarzt war spezialisiert auf Gynäkologie und Geburtshilfe. Er selbst blieb ohne Nachwuchs. Ein paar Jahre vor seinem Tod übergab er das Familienvermögen einer Stiftung. Im Haus blieb weitgehend alles so erhalten, wie es Müller zuletzt eingerichtet hatte, mitsamt seinem ärztlichen Sprechzimmer. Und auch dem Abreisskalender an der Wand. 

Rund 7000 Bände starke Hausbibliothek

Seit fast zwei Jahren ist Menrath Museumsleiter des Hauses zum Dolder in Beromünster. Für ihn als Historiker sei es ein «wunderbar interessantes Haus» mit seiner Einrichtung, den historisch wertvollen Büchern der rund 7000 Bände umfassenden Bibliothek, sowie zahlreichen Sammelobjekten. Jeder der Kunstschätze erzähle eine Geschichte.

Manuel Menrath im Haus zum Dolder in Beromünster.
Manuel Menrath im Haus zum Dolder in Beromünster.

Beim Rundgang durch das Haus gibt Menrath diese Geschichten gern weiter. «An diesem Tisch sass auch schon ein Bundesrat», sagt er im früheren Empfangszimmer des damals hervorragend vernetzten Landarzts. Oder: «Jetzt stehen Sie übrigens gerade auf dem Teppich des Schahs von Persien.» In der Bibliothek gebe es unter anderem Bücher, die gedruckt wurden, als Paracelsus noch lebte.

Seiteneingang für Patientinnen und Patienten

Das Wohnhaus war auch zugleich die Arztpraxis. Die Patienten kamen über einen Seiteneingang ins Haus. Im damaligen Sprechzimmer riecht es bis heute nach Arzt.

Menrath deutet auf einen Block mit Zetteln, der neben einer Garnitur von Stempeln und einer urtümlichen Schreibmaschine steht. Darauf sind die Sprechstunden-Zeiten notiert. «Morgens empfing er hier Patienten, am Nachmittag war er unterwegs auf Hausbesuch.» 

Das Haus zum Dolder in Beromünster ist voller kirchlicher Kunstgegenstände.
Das Haus zum Dolder in Beromünster ist voller kirchlicher Kunstgegenstände.

Als Arzt im doch eher ländlichen Beromünster war Edmund Müller Jun. einerseits ein naturwissenschaftlich gebildeter Akademiker. Andererseits behandelte er auch volksfromme Menschen, die Heilung zugleich auf spirituellem Weg suchten.

Zahlreiche Sammelobjekte im Haus zeigen: Der Arzt war offen für heilende Kräfte, die sich aus der Spiritualität ergeben können. «Heute würde man dieser Haltung wohl ganzheitlich sagen», sagt Menrath.

Amulette aus Tierzähnen - Haus zum Dolder Beromünster.
Amulette aus Tierzähnen - Haus zum Dolder Beromünster.

In einer Vitrine liegen Schabmadonnen, Votivgaben aus Wachs oder Silber, mit denen man sich Heilung für das jeweilige Organ erbat, eiserne Skulpturen zum Schutz des Viehs und ein am Karfreitag gelegtes Ei, das Schutz gegen allerlei Ungemach bieten soll. Eine andere Vitrine ist voll von Amuletten: so etwa Ketten mit Tierzähnen oder roten Korallen.

Die Sammlung hatten schon Edmund Müllers Vorgänger, sein Vater und dessen Schwiegervater, während ihrer ärztlichen Tätigkeit begonnen. Menrath geht davon aus, dass ein Teil der Patienten den jeweiligen Arzt bei mangelnder Liquidität auch einmal mit Kunst- und anderen Gegenständen entschädigte. Sie dürften auch Kunstschätze aus entweihten Kirchen gerettet haben. Die Sammlung enthält allein rund 80 Heiligenstatuen.

Beromünster vom Transistorradio her gekannt

Zunächst sei er durch eine Anstellung als Sekundarlehrer eher zufällig nach Beromünster gekommen. «Beromünster war mir zunächst ein Begriff wegen der Aufschrift auf den alten Transistorradios, die wir als Kind im Brockenhaus kauften in den 1970er-Jahren», erzählt er.

Bald lernte der Historiker die spannende Geschichte des Orts mit seinem Chorherrenstift kennen. Zunächst zog ihn der Stiftungsrat des Hauses zum Dolder als Berater hinzu, vor knapp zwei Jahren erhielt er die Stelle als Museumsleiter. Bisher habe er im Hintergrund gewirkt. Er kümmerte sich um die Updates der digitalen Datenbank und schuf eine neue Website. Das habe ein Stück weit auch die Pandemie mit sich gebracht. Für dieses Jahr hat er eine erste Ausstellung geplant. 

Bibliothek mit Büchern aus der Zeit von Paracelsus - Manuel Menrath im Lesezimmer.
Bibliothek mit Büchern aus der Zeit von Paracelsus - Manuel Menrath im Lesezimmer.

Er sei liberal-katholisch im luzernischen Malters aufgewachsen. Vater und Mutter unterrichteten Religion. «Bei uns zu Hause gingen Muslime und Buddhisten ein und aus. Einmal hatten wir orthodoxe Juden bei uns zu Besuch.»

Fahne in Kirchturm hinausgehängt

Und Menrath war auch Ministrant. «Ich habe das geliebt. Ich war der, welcher an Pfingsten und anderen Feiertagen die Fahne im Kirchturm hinaushängen durfte.» Er habe den Schlüssel zum fast 100 Meter hohen Kirchturm gehabt. «Manchmal ging ich mit Kollegen dort hinauf – ungesichert. Heute geht das nur noch mit Klettergeschirr.» Zudem war er Jungwächtler und wurde später Leiter. Menrath engagiert sich bis heute als Präses der Jungwacht Horw in der kirchlichen Jugendarbeit.

Heute nimmt er gegenüber der Kirche eine kritisch-loyale Haltung ein. «Den Kirchenaustritt habe ich mir auch schon überlegt, mich aber dann bewusst dagegen entschieden», sagt er. Die Kirche habe sich immer auch um Obdachlose und Süchtige gekümmert und versucht, Not zu lindern, leiste in Spitälern Seelsorge, begleite Sterbende.

Joseph Ratzingers Reaktionen auf den Münchner Missbrauchsbericht seien für ihn allerdings schwierig nachzuvollziehen. Es sei wohl etwas spezifisch Katholisches, dass so manchem Würdenträger die Bitte um Entschuldigung schwerfalle, sagt Menrath.

Im Haus zum Dolder in Beromünster ist alles noch so, wie es Edmund Müller Junior hinterliess.
Im Haus zum Dolder in Beromünster ist alles noch so, wie es Edmund Müller Junior hinterliess.

Menrath, der an der Uni Luzern zur indigenen Geschichte Nordamerikas forschte und zahlreiche Reservate bereiste, hält insbesondere eine Entschuldigungsbitte von Papst Franziskus gegenüber den kanadischen Indigenen für angezeigt.

An der Hudson Bay aus erster Hand von Internaten erfahren

Längst vor den Medienberichten über Knochenfunde in der Nähe der «Residential Schools»- Internate zur Umerziehung von indigenen Kindern wurde Menrath aufs Thema aufmerksam. In Kanada forschte er, nachdem er sich bereits in den USA mit dem dortigen Wirken der aus der Zentralschweiz stammenden Missionare in Indianerreservaten befasst hatte.

Unter anderem habe ihn auch Entdeckungslust dorthin geführt. Die Hudson Bay, die man auch als Eisbären-Hotspot kennt, habe ihn schon seit längerem fasziniert. «Ich bemerkte, dass es in der scheinbar menschenleeren Gegend ein Dutzend Dörfer gab. Das hat mich neugierig gemacht.»

Für ihn sei klar gewesen, dass er nicht einen klassischen Forschungsansatz wählen wollte, sondern sich die Geschichte der Indigenen von ihnen selbst erzählen lassen wollte. Dabei habe er teils sehr offene Fragen gestellt.

Flucht, Suizid, Unfälle

So habe er auch einige Berichte über die erschreckenden Zustände in den staatlich gewollten und von Kirchen geführten Umerziehungsinternaten gehört. «Die Kinder starben an Krankheiten, weil sie einen ungenügenden Immunschutz hatten. Oftmals waren sie unterernährt, waren nicht an die Ernährung der Einwanderungskultur gewohnt. Manche versuchten zu flüchten, andere erhängten sich. Ich hörte auch Berichte von Kindern, die schlecht beaufsichtigt waren, im Eis einbrachen und ertranken.»

Durch seine Studien in Kanada hat Menrath auch einiges über indigene Kultur und Spiritualität erfahren. «In den Berichten taucht immer wieder die Vorstellung der vier Körper auf», sagt Menrath. Demnach bestehe der Mensch aus vier Körpern, dem spirituellen, physischen, emotionalen und dem geistigen. Gehe einer davon zugrunde, sterbe der Mensch.

Heilung: Kontakt zum Land herstellen

Elders, also erfahrene Indigene mit Verdiensten zugunsten der Gemeinschaft, versuchten von den Residential Schools direkt Traumatisierte oder deren Nachkommen zu heilen. Dies, indem sie versuchen, den Kontakt zum Land herzustellen. Denn das Land sei die Identität – und somit auch die Heilung. Das Land, das sei der Fluss, der Wind, die Kälte. Der Ort, wo die Ahnen sind.

Medizinbeutel aus Dakota - Sammlung Haus zum Dolder, Beromünster
Medizinbeutel aus Dakota - Sammlung Haus zum Dolder, Beromünster

Doch auch ohne tiefere Kenntnisse der indigenen Vorstellungswelt müsste laut Menrath unmittelbar klar sein: Ein Papstbesuch in Kanada und ein Schuldeingeständnis analog zu jenem von staatlicher Seite im Rahmen der historischen Aufarbeitung könnte durchaus ein Stück weit Heilung bringen.

«…des berühmten Indianerhäuptlings Sitting Bull»

Für Heilkunst ausserhalb Europas interessierte sich auch Edmund Müller jun. Im Treppenhaus steht ein ganzer Schrank voller Gegenstände, die von Heiltraditionen in Übersee erzählen. Darunter befindet sich auch ein mit kleinen Glasperlen bestickter Medizinbeutel. «Als ich noch ein Knabe war und schon eifrig Briefmarken und seltene Siegel sammelte, schenkte mir ein Grossonkel, Missionar bei den Dakota-Indianern, … krallenverzierte Ausrüstungsgegenstände des berühmten Indianerhäuptlings Sitting Bull», heisst es in einer Aufzeichnung des Landarzts.

Ob der Beutel zum Aufbewahren des spirituell bedeutsamen Tabaks tatsächlich vom berühmtesten aller Chiefs stamme, wisse er nicht, sagt Menrath. Möglich sei es aber schon.

Selbst in der Wissenschaft bleibe eben manchmal etwas offen. Dem gegenüber stehe der Volksglaube, von dem viele Objekte im Haus zeugten. «Das Vertrauen, welches daraus spricht, fasziniert mich.»

Führungen nach Vereinbarung möglich. Am 13. Mai 2022 nimmt das Haus zum Dolder an der Erlebnisnacht in Beromünster teil.


Im Sprechzimmer des Arztes Edmund Müller Junior – Historiker und Museumsleiter Manuel Menrath. | © Ueli Abt
12. März 2022 | 05:00
Lesezeit: ca. 6 Min.
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