Für den Zsolnay Verlag ist es "ein großer Fund". Getätigt wurde er freilich vor über 30 Jahren. Da fand der Journalist und Germanist Ulrich Weinzierl in New York unter nachgelassenen Manuskripten von Alfred Polgar (1873-1955) einen unveröffentlichten Text über Marlene Dietrich. Dieser ist nun als Büchlein erschienen, mit einem Nachwort, das deutlich lesenswerter ist als die eigentliche Hauptsache.

Was der Wiener Kritiker und Aphoristiker Polgar, dessen von Weinzierl und Marcel Reich-Ranicki in den 1980er-Jahren herausgegebene sechsbändige Ausgabe der "Kleinen Schriften" jene Meisterschaft der kleinen Form belegt, für die er zu Lebzeiten zu Recht gerühmt wurde, einst über Marlene Dietrich zu Papier gebracht hat, ist schwärmerisch, anbiedernd und unerheblich.

Die Zweite von links

Gleich zu Beginn rühmt sich Polgar, zu den Dietrich-Bewunderern der ersten Stunde zu gehören und sie bereits als eines von fünf "mit bestem Geschmack entkleideten" Broadway-Girls auf der Bühne der Wiener Kammerspiele näher ins Auge gefasst zu haben. "Die Zweite von links" nämlich war "von einer Schönheit, die den Eindruck weckte, als wäre da dem Künstlerwillen der Schöpfung, der sie geformt hatte, ein ganz besondere Absicht zugrunde gelegen".

Der Schriftsteller und Kritiker Alfred Polgar (1873-1955)
Der Schriftsteller und Kritiker Alfred Polgar (1873-1955) © KK

Mit derlei Kennerblick analysiert Polgar in der Folge Antlitz ("Das Gesicht der Dietrich ist - dies vor allem - ungewöhnlich. Man hat es wirklich noch nie gesehen, wenn man es zum ersten Mal sieht."), Spiel, Stimme und "die berühmt hohen, hoch berühmten Beine Marlenes". Sogar Handflächen, Augenfarbe oder Gewicht werden betrachtet, beschrieben und bewertet.

Nachwort

Weinzierls Nachwort, das mit Anmerkungen und Textvarianten gleich noch einmal so lang wie der Ausgangstext und die eigentliche Rechtfertigung für diese späte, eigenständige Publikation ist, enthüllt, warum Polgar sich nicht nur derart undistanziert als glühender Verehrer seinem Gegenstand näherte, sondern auch, warum der Stilist, der sonst mit knappen, treffenden Bemerkungen alles Nötige sagen konnte, sein "Bild einer berühmten Zeitgenossin" mit derart breitem Pinsel malte: Er hatte nichts anderes.

Marlene Dietrich war ihrem Verehrer freundschaftlich verbunden. Sie unterstützte ihn, der durch die Machtübernahme der Nazis seiner Existenzgrundlage beraubt war und in der Folge unter ständiger Geldnot litt, wiederholt und in großzügiger Weise. Sie gewährte ihm die Gunst, ihm (und nur ihm) die Rechte über ein Buch über sich einzuräumen. Aber sie gab ihm kaum Einblick in das, was für einen Biografen unentbehrlich ist: Hintergründe, Zusammenhänge, Details.

Die wenigen Gespräche für das geplante Buch, dessen Erscheinen durch den Siegeszug der Hitler-Truppen sich mehr und mehr verzögerte, zu denen Dietrich Polgar empfing, scheinen unergiebig gewesen zu sein. Sätze, die private Lebensumstände auch nur andeuteten, mussten gestrichen werden. Der geachtete und verehrte Kritiker, der sich dem Gegenstand seiner Verehrung eigentlich auf Augenhöhe nähern wollte, fühlte sich in die Rolle des Bittstellers gedrängt und litt sehr darunter.

"Dabei hat der Gedanke, in heutiger Zeit als Psalmodist einer Film-Diva 150 Seiten unter meinem Namen von mir zu geben etwas kaum Erträgliches, und ich hätte längst die (wie ich ja glaube, ganz aussichtslosen) Verhandlungen abgebrochen, wenn meine Lisl mir nicht erzählt hätte, Du wärest der Ansicht, in meiner Situation dürfe ich mir keinerlei litterär-moralischen Luxus erlauben", zitiert Weinzierl aus einem 1937 verfassten Brief Polgars. Es sind bittere Sätze wie diese, die das Büchlein zur interessanten Lektüre machen. Auf Sätze wie "Die Filmschauspielerin Marlene Dietrich ist dieser geheimnisvollen Anziehungskraft in hohem Maße teilhaftig" hätte man dagegen nicht 75 Jahre warten müssen.

WOLFGANG HUBER-LANG