Schneider-Serie

Die Schönheit der Gleichzeitigkeit

Vorarlberg
11.10.2022 12:30

In seiner Reihe „Hier war ich glücklich“ begleitete Robert Schneider unlängst Peter und Paul Winkler an den Lieblingsplatz ihrer Kindheit.

„Wie groß wird das in der Zeitung?“, fragt Peter, der eine Viertelstunde früher zur Welt gekommen ist als sein Zwillingsbruder Paul. „Eine Doppelseite“, sage ich. „Dann können du und deine Fotografin glatt wieder zusammenpacken“, äußert er. „So viel haben wir nämlich gar nicht zu erzählen.“ „Machen wir eben die Fotos größer“, kontere ich.

Beide grinsen gleichzeitig. Die Gleichzeitigkeit ist ein Phänomen, das mir noch öfters im Gespräch mit den beiden Herren auffallen wird. Wohl eine Eigenschaft unter Zwillingen. Aber bei Paul und Peter Winkler ist das gleichzeitige Empfinden so stark ausgeprägt, dass der eine den andern gar nicht sehen muss, um zu wissen, wie es ihm geht. Als nämlich Paul für Monate in Amerika war - es ist lange her -, ahnte Peter, dass es ihm dort verdammt gut ging. „Geht es ihm gut, geht es mir gut. Ganz einfach.“ Beide nicken. Und wieder simultan.

Ich treffe den Hochbautechniker (Paul) und den Elektromeister (Peter) in ihrem Elternhaus in Rankweil, dem ehemaligen Gasthof „Engel“. Der „Engel“ ist eines der ältesten Gebäude im Dorf, wohl über 700 Jahre alt und drückt sich an den Bergfelsen, darüber die Basilika steil emporschießend.

„Das hier unten war einmal das Gesindehaus für die da oben“, erklärt Peter, als er mit mir einen Rundgang durch das alte Gemäuer macht. Bei einer Sandsteinsäule in der ehemaligen Gaststube bleibt er stehen. „Auf die Säule wären einige besonders scharf. Aber die bleibt drin.“ In der Gaststube steht eine alte Hammond-Orgel. Man hat das Gefühl, der Barpianist hat sich gerade noch einen Letzten genehmigt und ist gegangen. Für alle Zeit.

Die Einrichtung wirkt intakt. Nur die Gäste fehlen. Ein wenig unheimlich ist es in diesem großen Haus, in dem nur der betagte Onkel und „Götte“ der Winkler-Zwillinge mausallein wohnt, um den sich aber die Brüder rührend kümmern. Die beiden leben schon lange nicht mehr im „Engel“. Sie haben ihre eigenen Häuser gebaut, ihre eigenen Familien mit erwachsenen Kindern.

Schneider: Habt ihr noch Erinnerungen an dieses Haus?
Natürlich! Wenn ich nachts im Bett lag - das Zimmer grenzte ja direkt an die Hauptstraße -, konnte ich die ganze Nacht lang die Lichtkegel der Autoscheinwerfer an der Decke und den Wänden sehen.

Euer Vater war Maurerpolier, die Mutter führte den „Engel“. Dann gibt es noch eine Schwester. Die hatte es wohl nicht einfach mit euch beiden.
(Peter) Stimmt. Wir waren immer von der härteren Gangart. Es fing schon damit an, dass unsere Mutter mit uns zum Psychiater ging, weil uns niemand verstehen konnte. Wir redeten in einer Phantasiesprache miteinander, die nur wir beide kannten. Das war in der Kindergartenzeit.

Ist euch noch ein Wort von dieser Sprache in Erinnerung geblieben?
(Paul) Zenzig.

Bedeutet ...?
(Peter) Buchstabe. Zenzig war der Buchstabe.

Wie war das, in einem Gasthaus aufzuwachsen?
Eigentlich hat die Großmutter auf uns aufgepasst, uns geweckt, Frühstück gemacht, weil die Mutter lange geschlafen hat. Die stand manchmal bis um Vier in der Gaststube. Und man musste immer angekleidet sein, weil man ja die Bahn der Gäste kreuzte. Gedrückt hat mich die Mutter nicht ein einziges Mal.
(Paul) Der Vater auch nicht. Schaffen war alles bei uns daheim. Krank sein gab es nicht. Da hätte der Arm schon 90 Grad wegstehen müssen.
(Peter) Deshalb umarme ich meine Kinder heute noch ganz bewusst. Weil wir das nie hatten. Das ist nämlich...

Die Tür zur Küche geht auf. Der alte Onkel, der sein Sprechorgan verloren hat, schaut herein. Peter bittet ihn wie selbstverständlich, am Tisch Platz zu nehmen. „Kreyer“, so nennen sie ihn - nach dem Mädchennamen der Mutter -, lächelt und sieht die Fotoalben auf dem Tisch liegen, fängt an, darin zu blättern.
Jetzt habe ich den Faden verloren.
Wir waren beim Umarmen.
Genau. Die Umarmung ist ein menschliches Grundrecht. Das wollte ich sagen.

Paul, du hast als junger Mann viel Zeit in Amerika verbracht. War das dein gelobtes Land, dein Traum?
Ein Traum war das nicht. Ich bin einfach rüber, weil zwei Kollegen nach Kalifornien ausgewandert sind. Das Land gefiel mir. Ich arbeitete bei einer Baufirma, in der ich es sehr schnell sehr weit bringen konnte.

So lange voneinander getrennt. Ging das gut?
Wieder antworten die Zwillingsbrüder fast gleichzeitig: Es hat mich einfach angeschissen.
(Peter) Damals war das Telefonieren nach Amerika noch schweineteuer. Ich erinnere mich. Es war irgendwann im November. Wir hatte keinen Bock mehr auf die Arbeit. Innerhalb von einer Viertelstunde haben wir einen Flug nach Amerika gebucht. Das war der schönste Trip meines Lebens. Wir fuhren zehn Tage lang durch das Land und haben kaum miteinander geredet. Einfach nur fahren und schauen.
(Paul) Und in den Raststätten fragten wir nur: „Was isst du?“ Worauf der andere antwortete: „Das, was du isst.“

Das muss für eure Frauen nicht immer einfach gewesen sein, diese tiefe, unzertrennliche Verbundenheit zweier Brüder.
Ist es bis heute nicht. Natürlich gab es Eifersüchteleien, was ich auch völlig verstehe. Gibt es manchmal noch immer. Das lässt sich nicht lösen.
(Peter) Hat rein gar nichts mit der Liebe zu unseren Frauen zu tun. Sie interpretieren es halt manchmal so. Das wird sich nie ganz auflösen lassen.

Peter, was ist für dich Glück?
Familie, und zu wissen, dass ich im Alter einen Platz habe, wo ich bleiben kann. Einen Platz, den ich mir selbst erschaffen habe.

Und für dich, Paul?
Familie und genau das Leben, das ich bis jetzt leben durfte.

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