Graue Schatten in Köln - Torben Stamm - E-Book
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Torben Stamm

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Beschreibung

Urban Fantasy aus der Rheinmetropole: Als man Armin Kern den Job seines verstorbenen Bruders Norik anbietet, sich um die Systemsicherheit eines multinationalen Konzerns zu kümmern, ist er erstaunt. Nicht nur, weil er selbst vollkommen talentfrei in diesen Dingen ist, sondern auch, weil Norik eigentlich studierter Historiker und kein Informatiker war. Als Armin herausfindet, dass hinter der menschlichen auch noch eine magische Welt existiert, muss er sein Weltbild neu ordnen. Gleichzeitig versuchen die Grauen Schatten, Armins neu entdeckte Welt an sich zu reißen und zu zerstören.

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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Teil 1: Findung

Die Kiste unter der Erde

Das boomende Geschäft

Deutsches Klischee

Nachtschicht

Vor-Ort-Service

Der erste Tag

Der Telefonanruf

Tag 1 des Lernens

Zeitgleich

Abend

Geschwisterfreuden

Das Gespräch

Das große Netz

Teil 2: Unterricht (bis) zur Eskalation

Unterricht

Blance

Umzug

Praktische Anwendung

Prävention

Yusuf

Nachfragen

Vertiefende Fragen

Hausbesuch

Konsequenzen

Die Nachricht

Alte Macht

Die Nacht

Weiteres Suchen

Unterredung

Finale Recherche

Besuch

Konsequenz

Hausarrest

Der Präsident

Einsatz

Besuch

Teil 3: Recherchen

Biographieforschung

Zentrale

Einsatz

Sackgasse

Teil 4: Die Zusammenkunft der Magier

Die Falle

Das Ende

Danksagungen

Impressum

Texte und Bildmaterialien Copyright © by Torben Stamm

Im Sundern 47

48431 Rheine

[email protected]

Covergestaltung: Tim Rybus

Alle Rechte vorbehalten.

Teil 1: Findung

Die Kiste unter der Erde

Zuspätkommen ist immer scheiße.

Zumindest als Deutscher: Andere Nationen haben da nicht so die Probleme mit. Die Italiener haben die sprichwörtliche südeuropäische Ruhe, die Franzosen genießen das Leben und die Anarchie im Straßenverkehr… Und die Engländer? Die sind sowieso eine Stunde später dran, haben also aufgrund ihrer geographischen Lage einen natürlichen Puffer.

Deutsche hingegen neigen dazu, Uhrzeiten nicht als groben Rahmen oder Richtschnur, sondern verbindliche Größen anzusehen: Ein Zug fährt 600 km quer durchs Land und kommt 3 Minuten zu spät: Skandal!

Armin Kern empfand ein gewisses Gefühl der Scham, als er die Tür aufstieß und atemlos den Saal betrat.

Zuspätkommen: Schlecht.

Zu einer Beerdigung zu spät kommen: Super schlecht und moralisch verwerflich (Und das, obwohl die Deutschen in ihrer Geschichte die allgemeinen moralischen Parameter nicht gerade hochgehängt haben).

Zu spät zur Beerdigung des eigenen Bruders kommen: Man kann sich der bösen Blicke gewiss sein.

Hier lag das nächste Problem: Wenn die Kirche, in die man atemlos zu spät reinstolpert, gut gefüllt ist, wird der eine oder andere einem einen vernichtenden Blick zuwerfen.

Wenn man selbst aber 50% der erwarteten Gäste darstellt, muss man sich um die bösen Blicke zwar keine Sorgen machen, aber die moralische Problematik potenziert sich exponentiell…und wird nur dadurch getoppt, dass die anderen 50% der Besucher (also eigentlich der Besucher) in Form von Yusuf Ates in der ersten Reihe sitzt und man selbst folglich 100% der christlichen Trauergemeinde darstellt.

Armin atmete tief durch: Er hatte sich fest vorgenommen pünktlich zu sein. Er war kein ignoranter Mensch, dem die Beerdigung seines Bruders egal war. Auch wenn er mit Norik nicht viel zu tun hatte.

Armin wusste: Das ist dein Bruder, da musst du hingehen – und zwar pünktlich.

Er war also extra früh aufgestanden, hatte sogar abends schon alle Sachen rausgelegt. Dabei hatte er sich zu seiner eigenen Umsicht beglückwünscht, denn es war nicht so einfach gewesen, zwei passende schwarze Socken zu finden: Eine Klippe erfolgreich umschifft.

Aber dann hatte heute alles länger gedauert. Er konnte noch nicht einmal sagen, was genau es gewesen war. Es war nichts dazwischengekommen.

Er hatte auch nicht getrödelt.

Es war einfach passiert.

Dieses „einfach passiert“ passierte Armin ständig: Er kam zu spät, vergaß Dinge oder brachte sie durcheinander. Seine Eltern (zu deren Beerdigung er dank Norik pünktlich gekommen war) hatten während der Schulzeit Zustände bekommen und ihn auf diverse Störungen testen lassen, bis ein Arzt ihnen eines Tages die einfache Wahrheit klargemacht hatte: „Ihr Sohn ist ein Schussel.“

Enttarnt.

Keine Gegenargumente möglich – keine Medikamente erhältlich.

Jetzt hastete Armin durch den Mittelgang der kleinen Kapelle, dem bestimmt tadelnden Blick des Pfarrers ausweichend.

Bloß nicht hinsehen!

Er ließ sich neben Yusuf fallen, der nur: „Alter!“, zischte und für das Sprechen im Ghetto-Slang einen bösen Blick von der Kanzel erntete.

Armin atmete tief durch.

Jetzt war er da.

Kirchen und Kapellen faszinierten ihn. Hatten sie schon immer. Weniger wegen der baulichen Kunst oder der mehr oder weniger kunstvollen Schmuckarbeiten.

Armin ging es um die Atmosphäre: Immer wenn er eine Kirche oder einen anderen sakralen Bau betrat, kam es Armin so vor, als würde er in einen Schwamm hineinlaufen. Es herrschte eine tiefe Ruhe, die in seinen Körper eindrang und ein Gefühl von Geborgenheit weckte.

Es war ein paar Grad kühler als draußen (derzeit im Frühjahr kein Problem).

Die Zeit schien langsamer zu vergehen…

Was sie natürlich nicht tat. Dieser Gedanke machte Armin wieder schmerzlich bewusst, was er sich heute geleistet hatte. Er sah auf seine Uhr: 35 Minuten! Wahrscheinlich ist gleich schon alles vorbei.

Er warf Yusuf einen Blick zu, den dieser registrierte, aber bewusst ignorierte: Armin kannte Yusuf schon seit der Grundschule. Sie waren praktisch Brüder, wobei Yusuf die Rolle des intelligenten, organisierten großen Bruders übernahm.

Armin sah sich um.

Überrascht kniff er die Augen zusammen: In der letzten Bankreihe saß eine blonde Frau, die er beim hastigen Betreten der Kirche nicht bemerkt hatte. Sie war vollkommen in schwarz gekleidet und somit offensichtlich nicht zufällig hier.

Er versuchte, ihr Gesicht zu erkennen, aber die Frau schaute konsequent auf ihre Füße.

Oder ihr Handy. Die Hände waren durch die davorstehende Bank nicht zu erkennen.

Wenn sie auf ihr Handy schaute, hatte sie Armins Verspätung vielleicht gar nicht bemerkt, und wenn doch, konnte sie ihm nicht wirklich böse sein, wo sie selbst doch das Datenvolumen ihres Internetanbieters malträtierte.

Hoffentlich guckt sie auf ihr Handy!

Yusuf stieß ihn in die Seite. Armin wandte den Kopf wieder nach vorne und lächelte den Pfarrer schuldbewusst an. Der klappte seinen kleinen Aktenordner zu, in dem er die Predigtunterlagen abgeheftet hatte und strebte würdevoll dem Mittelgang zu. Orgelmusik donnerte in Moll von der Empore nieder und verlieh dem Augenblick eine erhabene Spur von Depressivität.

Armin wusste, dass jetzt der unvermeidliche Moment gekommen war.

Er musste sich den Sarg ansehen.

Er hatte es bisher vermieden, hatte dieses Symbol des Todes und des Unumgänglichen nicht sehen wollen.

Der Sarg war groß, wuchtig, aus dunklem Holz. Vier Männer positionierten sich an seinen Ecken: Die Sargträger, die das Bestattungsunternehmen gegen eine kleine Servicepauschale stellte.

Armin erhob sich und folgte dem Sarg, nachdem ihn dieser passiert hatte.

Sein Blick suchte die geheimnisvolle Frau, aber ohne Erfolg: Sie musste die Kirche in dem Moment verlassen haben, als der Pfarrer seine Unterlagen zuklappte.

Die kleine Prozession (Ab wie vielen Menschen spricht man von Prozession?) verließ die Kirche. Als sie unter freiem Himmel waren, fragte Yusuf leise: „Wo warst du?“

„Sorry, ich weiß auch nicht. Ich bin extra früh aufgestanden, aber…“

„Er war dein Bruder!“

„Ich weiß, was er war. Ich kenne ihn schon eine ganze Weile.“

Armin ärgerte sich, auch wenn er natürlich wusste, warum Yusuf so genervt war: Armin kam ständig zu spät und meistens musste Yusuf es ausbanden. Sie führten gemeinsam ein kleines IT-Unternehmen, wobei „Unternehmen“ vielleicht ein irreführender Begriff für ihren Broterwerb war: Sie unterhielten einen kleinen Raum auf der Rückseite einer Dönerbude, wo sie Rechner reparierten. Ihr Kundenstamm rekrutierten sie fast ausschließlich durch den Besitzer der Dönerbude, Herr Durmus, der eine klischeemäßig riesige Familie und an Yusuf und Armin einen Narren gefressen hatte: „Silicon Valley!“, rief er ihnen immer begeistert zu, sobald er sie sah. Er war der Meinung, der kleine Raum sei sowas wie eine Garage im Silicon Valley und irgendwann würden die Leute zu seiner Dönerbude pilgern, um die heilige Halle der Tech-Welt zu besichtigen - und natürlich würden sie alle bei ihm Mittag essen. Bis es aber soweit war, kümmerten sich Yusuf und Armin um die fehlerhaften Drucker der Familie Durmus und da diese so riesig war und Herr Durmus nur eine geringe Miete verlangte, kamen sie einigermaßen über die Runden, auch wenn sie es sich nicht leisten konnten, Bioprodukte zu kaufen oder sich sonst wie gesund zu ernähren. Allerdings hätte gesunde Ernährung auch im Widerspruch zu ihrem Geschäftsstandort gestanden, wie Yusuf einmal resigniert festgestellt hatte.

Die „Prozession“ hatte ihr Ziel erreicht. Der Pfarrer sprach die letzten Worte, die Armin kaum wahrnahm, weil er auf das Loch in der Erde starrte, in dem gerade der Sarg versenkt worden war.

Jeder kommt mal in so ein Loch. Egal was du leistest oder verbrichst, du landest im Loch. Der Tod als Gleichmacher, vielleicht der einzig wahre Kommunist.

Armin nahm das Schüppchen und warf etwas Erde auf den Sarg: Ein Geräusch, bei dem er innerlich zusammenzuckte, auch wenn es nicht laut war. Aber die Erde auf dem Holz hatte eine inhaltliche Grausamkeit: ICH BEGRABE DICH JETZT.

„Es tut mir leid“, sagte Armin dem Pfarrer, nachdem der offizielle Teil vorbei war und sie auf dem Weg beieinander standen. „Mir fällt es immer schwer mit der Pünktlichkeit. Ich habe alles versucht, aber…“

Der Pfarrer nickte nur: „Meine Herren“, sagte er und wandte sich ab.

War das christliche Nächstenliebe? Armin war sich nicht sicher, hatte aber eine Ahnung davon, wie die Antwort lauten könnte.

„Wollen wir?“, fragte Yusuf.

„Klar.“ Sie gingen schweigend den Weg entlang zum Parkplatz. Armin hatte einen Tisch in einer Pizzeria bestellt, wo der „Leichenschmaus“ stattfinden sollte. „Hast du die Frau gesehen?“, fragte er, bevor jeder in sein Auto stieg. „Welche Frau?“

„Die Frau in der Kirche.“ Yusuf verzog das Gesicht: „Ich habe keine Frau gesehen. Nur einen Pfarrer, der den Türken in der ersten Reihe böse angestarrt hat.“ „Was?“, fragte Armin erstaunt. „Letzte Reihe. Blond, schwarze Klamotten.“

„Sicher?“

„Natürlich!“, gab Armin verärgert zurück. „Ich weiß doch wohl, was ich gesehen habe.“

„Na ja, beim Reingehen war sie nicht da, beim Rausgehen auch nicht… Und am Grab selbst habe ich sie auch nicht gesehen. Von daher bin ich mir nicht sicher, was du gesehen hast.“

Armin zuckte mit den Schultern: „Gut, wie du meinst. Wir sehen uns.“

Er stieg in den Wagen und schloss die Tür.

Die beiden Wagen fuhren vom Parkplatz.

Die Sonne schien auf die Bäume, die den Parkplatz umgaben. Alte Eichen, die schon manche Träne hatten fließen sehen.

Ein Schatten löste sich von einem der Bäume. Er schien den Wagen einen Moment nachzublicken, dann eilte er einem unbekannten Ziel entgegen.

***

Armin hatte die Pizzeria aus keinem besonderen Grund ausgewählt, etwa, dass er mit Norik oft hier gewesen wäre oder so. Vielmehr war ihm einfach nichts Anderes eingefallen. Hinzu kam, dass er die Tradition des Leichenschmauses generell in Abrede stellte. Allein den Namen fand er schon sehr irreführend und er wunderte sich, dass noch kein Beauftragter für gewaltfreie Sprache sich dieses Missstandes angenommen hatte.

Oder ein Vegetarier, Veganer oder Fruktarier, falls es sowas denn gab.

Nachdem sie sehr kreativ eine Thunfisch- und eine Salamipizza nebst zwei schwarzen Softdrinks bestellt hatten, fiel die Anspannung langsam von Armin ab. Er löste seine Krawatte und öffnete den obersten Knopf seines Hemdes.

„Und wie geht es dir jetzt?“, fragte Yusuf. Er wusste, dass Armin kein schlechtes, aber auch kein enges Verhältnis zu seinem Bruder gehabt hatte. Die beiden hatten sich alle paar Monate gegenseitig angerufen oder eine SMS geschrieben.

Das war schon in der Schule so gewesen: Norik war vier Jahre älter und hatte, was vollkommen normal war, kein Interesse daran, sich mit seinem kleinen Bruder abzugeben. Freundlicherweise verzichtete er aber auf die Große-Bruder-Tradition, Armin zu quälen, zu ignorieren oder sonst wie abzuwerten.

Armin war da.

Das war OK.

Und fertig.

Als Armin Yusuf von Noriks Tod berichtet hatte, war Armin sehr kühl gewesen. Man hätte auch auf den Gedanken kommen können, Norik sei einfach ein ehemaliger Kumpel gewesen, den man seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Allerdings gehörte Armin auch nicht zu den Leuten, die ihre Gefühle nach außen trugen. Selbst Yusuf gegenüber behielt er sein innerstes Innenleben lieber für sich.

„Na ja“, sagte Armin. „Es ist schon…traurig. Ich meine, er war mein Bruder und alles, was ich an Familie noch hatte.“ Armins Eltern waren vor einigen Jahren verstorben: Er bei einem Autounfall und sie wenige Wochen später an gebrochenem Herzen.

Zumindest sagten das ihre Freunde, von denen sich sehr schnell niemand mehr meldete.

Armin wusste, dass seine Mutter Krebs gehabt hatte und in Behandlung war. Nachdem sein Vater gestorben war, hatte sie nicht mehr die Kraft, zum Arzt zu gehen.

Vielleicht hatten die Freunde also Recht.

„Mhmmm“, machte Yusuf. „Wann hast du ihn das letzte Mal gesehen?“

„Das letzte Mal habe ich ihn heute gesehen. Ein weiteres Mal wird es wohl nicht geben.“ Armin rang sich ein Lächeln ab: „Ich weiß, was du meinst“, sagte er schnell. „Das war an Weihnachten. Bin vorbeigefahren und habe ihm sein Geschenk gebracht.“ Sein Blick wanderte in die Vergangenheit, jene Zeit, die definiert, was wir heute sind: „Ich habe es ihm an der Tür in die Hand gedrückt. Er hat noch gefragt, ob ich nicht reinkommen wolle, aber ich hatte keine Lust und habe so getan, als hätten wir im Geschäft noch viel zu tun.“ Er schüttelte den Kopf und damit den Gedanken ab: „Na ja.“

Der Kellner kam und brachte das Essen.

„Was steht heute noch im Geschäft an?“, fragte Armin, um das Thema zu wechseln: Scheiß Leichenschmaus-Tradition. Im Internet stand, sie solle dazu dienen, sich nochmal über den Verstorbenen auszutauschen. Nette Geschichte, Anekdoten…

Der Verfasser ging offensichtlich davon aus, dass man mit dem Verstorbenen irgendwie dicke war und was zu erzählen hätte.

Da stand aber nicht, was man machen soll, wenn man ihn quasi nicht kannte.

„Na ja, ich muss einen Laptop zusammenschrauben“, sagte Yusuf gelangweilt. Er hatte Informatik studiert, mit den besten Noten abgeschlossen und wofür?

Nach hunderten von Bewerbungen kam er zu dem Schluss, dass niemand einen Yusuf wollte. Er hatte sich den Spaß gemacht, einer Firma seine Bewerbung unter dem Namen Armin Kern zu schicken. Die Firma hatte ihn sofort eingeladen. Yusuf hatte überlegt, ob er sie irgendwie verklagen sollte, aber was hatte er davon? Yusuf war kein Name, mit dem man in der heutigen Zeit etwas reißen konnte. Die Leute hatten Angst, schmissen in einer auf Individualität und Selbstverwirklichung getrimmten Welt alle in eine Schublade.

Also hatte sich Yusuf mit Armin zusammengetan, der von dem ganzen Mist leidlich was verstand, und sich „selbstständig“ gemacht. Sein Vater war begeistert/entsetzt gewesen. Die Bandbreite hatte von „Deutscher Unternehmergeist! Sehr gut!“ bis „Und dafür hast du studiert?“ gereicht.

„Hab ich irgendwas zu tun?“, wollte Armin wissen und riss Yusuf aus seinen Gedanken. Der schüttelte den Kopf: „Ich glaube nicht. Willst du denn heute noch reinkommen? Wenn du möchtest, kannst du dir etwas Zeit für dich nehmen.“

Armin lächelte: Yusuf war ein sehr sachlicher Mensch.

Mathematiker!

Aber er hatte eine sehr empathische Seele, auch wenn er es damit manchmal etwas übertrieb. Nehir, Yusufs Zwillingsschwester, machte sich deswegen immer über ihren Bruder lustig.

„Nein, danke. Ich denke, ich fahre nach dem Essen nochmal zum Grab, aber dann werde ich ins Geschäft kommen.“

Yusuf biss sich auf die Unterlippe.

„Was ist?“, fragte Armin. Er kannte Yusuf und wusste, wann ihm noch was auf der Seele brannte.

„Meine Eltern…“, sagte Yusuf. Armin verdrehte die Augen.

„Ja, sie wollen, dass du heute Abend zum Essen kommst.“

„Warum das denn?“, fragte Armin. Er mochte Yusufs Eltern, aber sie waren…intensiv.

„Meine Mutter meint, du hättest bestimmt keinen Kopf, dich ums Essen zu kümmern und deswegen möchte sie dich versorgen. Wenn du heute kommst und sie sieht, dass du nicht verhungerst, ist das vielleicht…taktisch…keine so blöde Entscheidung.“

„Und dein Vater?“

„Der findet, es gehört sich.“

Armin grinste: „Dann habe ich wohl keine Chance. Ich denke, um sechs?“

Yusuf nickte.

***

Als Armin das Grab seines Bruders erreichte, war er nicht allein.

Die blonde Frau in Schwarz stand am Grab.

Als Armin auf sie zutrat, wischte sie sich mit der Hand schnell über die Augen, aber da diese aufgequollen waren, war es offensichtlich, dass es nicht nur eine flüchtige Träne gewesen war, die der Wind ihr entlockt hatte.

Wie lange ist sie schon hier?

Der Gottesdienst war längst vorbei - Armin hatte eine Pizza in der Zwischenzeit verdrückt.

War die Frau die ganze Zeit über hier gewesen?

„Guten Tag“, sagte Armin freundlich. Er streckte der Dame die Hand entgegen. Sie ignorierte sie und nickte stattdessen nur.

„Ich habe Sie im Gottesdienst gesehen. Darf ich Sie fragen, woher Sie meinen Bruder kannten?“

Die Frau runzelte die Stirn: Sie hatte harte blaue Augen und eine scharf geschnittene Nase: „Nein, das dürfen Sie nicht“, sagte sie und schob sich an Armin vorbei.

„Aber…“, stammelte der und sah ihr nach, wie sie zügig dem Ausgang entgegenstrebte.

Sollte er ihr nachlaufen? Aber war es in Ordnung, einer fremden, verweinten Frau auf dem Friedhof nachzulaufen?

Armin beschloss, dass er für heute schon genug Regeln des guten Anstands verletzt hatte, und wandte sich dem Grabstein zu.

Auf dem stand der Name seines Bruders. Bei diesem Anblick umschloss eine kalte Faust sein Herz und er spürte tiefe, ehrliche Trauer.

Deutsches Klischee

Armin und Yusuf trafen sich vor dem Haus von Yusufs Eltern.

„Bist du irgendwie weitergekommen?“, wollte Yusuf wissen.

„Nein. Das Ding ist total bombensicher. Keine Ahnung.“ Armin war sich ziemlich sicher, ein zufriedenes Lächeln über Yusufs Gesicht huschen zu sehen, aber bevor er etwas sagen konnte, wurde die Haustür aufgerissen und Hacer Ates, Yusufs Mutter, strahlte sie an: „Da seid ihr ja! Wie schön euch zu sehen.“ Sie drückte erst Yusuf, dann Armin an ihre Brust: „Armer Junge“, sagte sie und tätschelte Armins Kopf.

Hacer Ates war eine herzliche, leicht korpulente Frau, die vor Mitgefühl und Liebe ständig überzulaufen schien. In dieser Hinsicht war sie das genaue Gegenteil ihres Mannes, der nun ebenfalls zur Haustür kam.

„Es ist drei Minuten vor sechs. Sehr früh. Nicht sehr höflich“, konstatierte er und sah demonstrativ auf seine Uhr. Yusuf verdrehte die Augen.

Ajub Ates war 65 Jahre alt und definitiv überintegriert. Als er mit seiner Frau vor endlosen Jahren nach Deutschland kam, gab er an der Grenze seine kulturelle Identität ab und trainierte sich jedes deutsche Klischee an, das auf der Welt über dieses befremdliche Völkchen kursierte.

Er…

… war pünktlich, und zwar auf die Minute! Zu früh war genauso schlimm wie zu spät.

…hatte sich zum Leidweisen seiner Frau geweigert, eine Großfamilie zu gründen.

…flog gerne nach Mallorca, um Urlaub zu machen!

„Kommt rein!“, rief Frau Ates und zog Armin und Yusuf ins Esszimmer, wo sie sich an den gedeckten Tisch setzten.

Herr Ates setzte sich würdevoll ans Kopfende: „Armin, mein Beileid zu deinem Verlust. Es tut mir wirklich leid.“

„Danke“, sagte Armin und nickte höflich.

Das Essen bestand aus Kartoffeln, Rindfleisch und Möhren. Als alle aßen, räusperte sich Yusufs Mutter: „Es gibt eine Neuigkeit“, verkündete sie.

„Hacer, bitte!“, intervenierte ihr Mann, aber seine Frau ließ sich nicht abhalten.

„Yusuf… Ich habe lange darüber nachgedacht und ich bin zu der Entscheidung gekommen, dass ich in meinem Leben etwas verändern muss. Ich finde es wichtig, dass du als mein Sohn es von mir hörst. Ich sage dir aber auch, dass ich mich nicht umstimmen lasse.“

Yusuf legte Messer und Gabel beiseite: „Äh“, machte er.

„Sehr intelligent. Haben wir dir dafür die Uni bezahlt?“, meckerte sein Vater.

„Ajub, sei freundlich!“, schimpfte Hacer. „Also: Ich habe beschlossen, zum Judentum zu konvertieren.“

Schweigen.

Schweigen.

Armin hatte aufgehört zu kauen. Hatte er sich verhört?

„Was sagst du dazu?“, fragte Hacer ihren Sohn begeistert.

„Äh, hast du dir das gut überlegt?“

„Aber natürlich! Es gibt keinerlei Probleme. Ich muss auch weiter mit dem Schwein und so aufpassen, dein Vater und ich kommen uns beim Essen also nicht in die Quere.“

„Aber das ist doch nicht der einzige Grund, oder? Ich meine, wieso kommst du auf die Idee, deine Religion aufzugeben?“

Hacer seufzte: „Ich möchte eine neue spirituelle Erfahrung machen. Mich verändern, den Horizont erweitern.“

Ajub schüttelte den Kopf: „Aber dafür deinen Glauben verraten?“

„Das ist kein Verrat! Und das weißt du genau!“

Als Armin und Yusuf nach dem Essen an der Straße vor ihren Autos standen, stöhnte Yusuf: „Was sagst du dazu?“

„Wozu genau meinst du? Deine Familie redet immer sehr viel.“

„Du weißt doch genau, was ich meine. Die neueste Idee meiner Mutter.“

Armin grinste: „Na ja. Warte mal ab. Sie hatte schon mehrere seltsame Ideen und die Hälfte davon hat sie ganz schnell wieder vergessen.“

„Aber die andere Hälfte hat sie durchgezogen. Scheiße! Wir werden doch jetzt schon als Deutsche nicht ernst genommen und das, obwohl ich hier geboren bin. Und es gibt immer noch total viele Idioten, die was gegen Juden haben. Und sie will beides sein?“

Armin schüttelte den Kopf: „Ich denke nicht, dass das ein Problem ist. Und im Grunde bist du grade ein riesiger Rassist.“

„Ich?“ Yusuf starrte ihn entsetzt an.

„Klar. Du redest heute den ganzen Tag von Nazis, Diskriminierung, Türken, jetzt Juden und was passiert, wenn man beides vermischt…“

„Aber doch nur, weil ich damit konfrontiert werde! Ich bin das Opfer!“ Armin schnaufte: „Also im Moment bist du gar nichts. Nur ein armer Kerl, der von seiner Mutter mit der Idee konfrontiert wurde, dass sie ihre Religion ändern möchte. Ein Wunsch, den man haben darf und der alltäglich ist. Keiner hat damit ein Problem. Nur du, und das, weil du in rassischen Kategorien denkst.“

„Meine Fresse, ich fahre jetzt nach Hause“, maulte Yusuf und zog seinen Autoschlüssel aus der Hosentasche.

„Mach das. Wir sehen uns morgen.“

Nachtschicht

Während Armin nach Hause fuhr, spürte er, dass ihn nichts dorthin zog.

Er wollte nicht im Bett liegen und die Augen schließen.

Er wollte nicht vor seinem inneren Auge den Sarg seines Bruders sehen, wie er in einem dunklen Loch verschwand, oder hören, wie die Erde auf das Holz des Deckels prasselte.

Er setzte den Blinker und fuhr stattdessen zum Geschäft. Er hatte eine Dead-Line.

Blödes Wort, Dead-Line, gerade heute.

Besser: Er hatte eine Frist, die er einhalten musste.

Er parkte den Wagen am Straßenrand. Nachdem er den dunklen Hof überquert hatte, schloss er die Tür auf und schaltete das Licht ein.

Die Räumlichkeiten wirkten tagsüber schon trostlos, aber es war immer wieder erstaunlich, was das Fehlen von Tageslicht ausmachte.

„Passend“, seufzte Armin leise und setzte sich an seinen Schreibtisch.

Eigentlich hatte er sich sein Leben anders vorgestellt.

Mehr…Glanz!

Mehr Bedeutung.

Vielleicht auch mehr Würde.

Er schaltete den Laptop von Svenson ein und fing an, verschiedene Code-Folgen einzugeben, von denen er sich einen Effekt erhoffte.

Während er tippte, spürte er, wie sein Körper sich entspannte.

Er war allein.

Es war leise.

Nur das Tippen seiner Finger auf der Tastatur. Seine Finger spulten die Codes automatisch ab. Er musste nicht viel Denken.

Alles Standard.

Garantiert sinnlos.

Er wusste: Diesen Code würde er bestimmt nicht knacken. Aber er hatte die Hoffnung, dass er vielleicht etwas Kohle abgreifen konnte, wenn Svenson merkte, dass er sich Mühe gab.

Oder dass der ihn einfach nicht verprügelte, wenn er zwangläufig scheiterte.

Allerdings war er mit seinem Latein ziemlich schnell am Ende. Wenn er wenigstens Yusuf hätte fragen können.

Warum tat er es nicht einfach? Wie sollte Svenson es erfahren? Allerdings sagte ein unbestimmtes Gefühl Armin, dass mit dem Mann nicht zu scherzen war und ein „Betrug“ nicht infrage kam.

Er starrte auf dem Bildschirm.

Resigniert.

Leerer Kopf.

Schwere Hände.

Seine Augen fielen halb zu.

Der Tag war hart gewesen.

Schwierig.

Intensiv.

Er schloss die Augen, spürte, wie Ruhe ihn umfing. Sein Puls fuhr weiter runter. Die dreitausend Gedanken in seinem Kopf kamen zwar nicht zur Ruhe, aber er beachtete sie nicht weiter.

Sie flogen einfach vorbei.

Dann zeichnete sich in seinem Verstand etwas ab. Etwas…

Armins Finger begannen zu tippen. Buchstabe – Buchstabe – Zahl – Raute (oder modern Hashtag) – Zahl.

Er öffnete die Augen, betrachtete die Sternchen, die für das Passwort standen, und drückte auf ENTER.

Der Computer piepste.

Der Bildschirm veränderte sich: Der Desktop baute sich auf. Hintergrundbild: Ein Wikinger.

„Scheiße“, sagte Armin erstaunt. Er hatte es geschafft.

Aber wie? Er wusste es nicht.

Er griff zu seinem Handy und kramte den Zettel mit der Telefonnummer von Svenson hervor. Der ging sofort ran – als hätte er gewusst, dass Armin soweit war.

„Ja?“, fragte der Nordmann.

„Hier Kern. Ihr Laptop ist fertig.“

„Gut. Bitte ändern Sie das Passwort in TEST. Alles großgeschrieben, OK?“

„Gerne. Kommen Sie morgen vorbei und…“ „Nein!“

Armin war verwirrt.

„Bringen Sie ihn mir ins Büro. Leiter-Straße 8. Neun Uhr. Melden Sie sich an der Rezeption.“

Armin schnappte sich einen Stift und notierte sich Adresse und Uhrzeit: „Natürlich, das kann ich gerne…“

Aufgelegt.

Armin runzelte die Stirn: „Sehr freundlich“, brummte er.

Vor-Ort-Service

Als Armin am nächsten Morgen erwachte, konnte er noch immer nicht fassen, dass es ihm tatsächlich gelungen war, den PC zu knacken.

Er hatte Yusuf eine Nachricht geschrieben, die der aber ignorierte: Armin sah, dass er sie gelesen hatte, aber er konnte sich vorstellen, dass Yusuf enttäuscht war, dass Armin ohne seine Hilfe klargekommen war. Insgeheim hatte er wahrscheinlich gehofft, dass Svenson ihn doch um Hilfe bitten würde.

Na ja, da konnte Armin auch nichts dran ändern.

Er stieg im Badezimmer unter die Dusche und ließ das heiße Wasser seinen Nacken einweichen.

Anschließend setzte er sich mit einer Tasse Kaffee an den alten Küchentisch und überflog mit seinem Handy die Nachrichten.

Immer das Gleiche: Überall auf der Welt regierten entweder Egomanen oder Leute, die lieber moderierten als Partei zu ergreifen. Dass die Leute keine Lust mehr hatten, konturlosen Politikern zu folgen, denen es nur darum ging, gewählt zu werden, damit sie ihren Job behielten und sie eine Grundlage hatten, später in den Vorstand irgendeines DAX-Unternehmens zu wechseln, war verständlich.

Allerdings wandte sich Armin deswegen nicht von der Politik ab, sondern ging im Gegensatz zu anderen Leuten weiter wählen und verzichtete auch auf eine Protestwahl, bei der Leute Stimmen und Diäten erhielten, ohne eine wirkliche Lösung parat zu haben.

Dann lieber moderierende Politiker ohne Vision.

Er sah auf seine Smartwatch am Handgelenk: Verdammt! Er hätte schon seit zehn Minuten im Auto sitzen müssen!

Er sprang auf, schnappte sich seine Tasche mit Svensons Laptop und verließ die Wohnung. Als er schon auf der Treppe war, rannte er wieder zurück, um die Haustür abzuschließen.

Er spurtete die Treppen hinunter und sprang in seinen Wagen. Nachdem er die Adresse ins Navi eingegeben hatte, setzte er den Blinker und begann die quälende Fahrt durch den Kölner Verkehr, der sich nicht zähfließend, sondern betonartig vor sich hin walzte.

„Sie haben Ihren Zielort erreicht.“

Armin sah verwundert aus dem Fenster.

Er hatte mit einem Bürogebäude gerechnet, aber nicht mit sowas: Der riesige Firmenkomplex bestand offensichtlich zu 99% aus Glas.

Armin suchte einen Parkplatz.

Blick zur Uhr: 25 Minuten Verspätung. Mist!

Wenigstens war das hier keine Beerdigung.

Als er die Eingangshalle betrat, fragte er sich, was für eine Firma das hier wohl war. Firmenschild: Fehlanzeige.

Auf jeden Fall sah alles sehr edel und elegant aus. Er sah an sich hinunter: Seine Nerd-Kleidung passte vielleicht zu Hausbesuchen bei alten Leuten, aber in diesem Setting wirkte seine braune Cordhose absolut deplatziert. Zum Glück hatte er wenigstens auf die falsche Brille verzichtet. Die hatte er gestern auch nicht getragen und Svenson würde ihn für noch dümmer halten, als er es bestimmt ohnehin schon tat, wenn er jetzt mit einer Brille auftauchte.

Er steuerte auf eine Rezeption zu, hinter der eine professionell-freundliche junge Dame ihm ein freundliches Lächeln schenkte und seine Aufmachung ausblendete: „Wie kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie.

„Ja, guten Tag. Mein Name ist Kern. Ich habe einen Termin mit Herrn Svenson.“

Die Dame tippte auf einem Computer herum: „Mhmmm, da scheint ein Missverständnis vorzuliegen.“

„Bitte?“

„Herr Svenson hat für halb zehn keinen Termin eingetragen.“

Armin lächelte verlegen: „Ich hätte bereits um neun da sein sollen. Der Verkehr, wissen Sie?“

Die Dame warf ihm einen kurzen Blick zu, der eine tadelnde Nuance aufwies: „Ah, ja. Bitte, nehmen Sie doch Platz. Ich werde für Sie anrufen.“

Sie wies auf einen Bereich an der Westseite der Halle, wo schwere Ledersessel standen.

„Danke“, sagte Armin und nahm in der Sitzecke Platz. Er schaute auf seine Uhr: Yusuf hatte noch immer nicht geschrieben.

Es dauerte eine geschlagene Stunde, bis die junge Dame an Armin herantrat: „Herr Svenson hat nun Zeit für Sie“, sagte sie. „Bitte nehmen Sie den linken Aufzug.“

„Und wo soll ich hinfahren?“

„Ich habe den Aufzug entsprechend eingestellt.“

„Sie haben was?“

Die Dame lächelte: „Jeder Mitarbeiter hat eine Karte. Er zieht sie im Fahrstuhl durch einen Leser und dann fährt der Aufzug zu der entsprechenden Etage. Oder zur Kantine, dafür gibt es einen Sonderknopf.“

Armin nickte: Sehr sicher.

„Bevor Sie zu ihm fahren, bräuchte ich noch Ihr Handy.“

„Mein Handy?“

„So lauten die Vorschriften.“ Sie deutete auf sein Handgelenk: „Und die Uhr. Smartwatches sind ebenfalls verboten.“

Armin händigte ihr beides aus.

„Sie bekommen alles wieder, wenn Sie nachher gehen.“

Armin ging zum Aufzug und stieg ein:

Gläserne Kabine.

Grelles Licht.

Blanke Stahlkabel.

Wohlfühlfaktor: Null!

Als der Fahrstuhl anfuhr, blieb Armins Bauch für eine Zehntelsekunde im Erdgeschoss, während der Rest seines Körpers schon in der dritten Etage angekommen war.

Als der Aufzug abbremste und die Türen auseinander glitten, stand Svenson vor ihm.

„Hallo“, sagte Armin. „Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe.“

Svenson nickte, drehte sich um und ging den Gang entlang.

Armin starrte auf den sich entfernenden breiten Rücken und kam zu dem Schluss, dass er dem Hünen wohl folgen sollte.

Er lief dem Wikinger mehrere Flure hinterher, die mit schwerem Teppich ausgelegt waren, die jedes Geräusch schluckten.

Als würde man in einem Vakuum rennen.

Schließlich blieb Svenson vor einer Tür stehen, klopfte und wartete.

„Herein!“

Svenson öffnete die Tür und betrat den Raum.

Armin folgte ihm, auch wenn er sich nicht wohl fühlte. Aber dieser Zustand war heute offensichtlich der Normalfall und vermittelte daher fast schon so etwas wie Sicherheit.

Das Büro, das sie betraten, war (natürlich) mit einer riesigen Glaswand versehen, durch die man einen Luxus-Ausblick auf Köln hatte. Armin hätte gerne sein Handy gezückt und ein Foto gemacht, aber weder trug er es bei sich, noch ließ die Situation das Schießen von Souvenirs zu.

Vor der Glasfront stand ein riesiger, gläserner Schreibtisch. Armin stellte es sich surreal vor, auf einer solchen Unterlage etwas zu schreiben: Als würde man dauernd auf seinen Knien rummalen.

Hinter dem Schreibtisch saß ein würdevoller, schlanker Mann mittleren Alters mit einem grauen Vollbart. Seine Augen waren ambivalent. Sie strahlten zwar eine enorme Ruhe aus, aber da war noch was: Ein schwelendes Feuer, das darauf lauerte hervorzubrechen.

Als Svenson und Armin den Raum betraten, erhob der Mann sich langsam. Er umrundete den Schreibtisch und schüttelte Armin die Hand, während er Svenson kurz zunickte.

„Guten Morgen, schön, dass Sie es einrichten konnten. Die Wartezeit tut mir sehr leid. Ich hasse Unpünktlichkeit, daher ist es mir sehr peinlich, dass Sie so lange warten mussten.“ Armin lächelte verlegen: Das war eine sehr subtile Weise darauf hinzuweisen, dass er zu spät gewesen war. Gleichzeitig fragte er sich, warum er mit diesem Mann sprach, wo er doch Svenson nur den Laptop zurückbringen wollte/sollte. Der schien den wichtigen Computer aber vergessen zu haben.

„Mein Name ist Lothar Huker. Ich bin Abteilungsleiter und habe Herrn Sivertsen gebeten, Ihnen einen gewissen Auftrag zukommen zu lassen.“

Armin sah verwirrt zu dem Mann, den er bisher nur unter dem Namen Svenson kennengelernt hatte.

Der breite Schrank verzog keine Miene. Er hatte sich neben der Tür positioniert, was mehr als passiv-aggressiv wirkte.

„Ich denke, ich muss Ihnen ein paar Dinge erklären. Aber so etwas macht man doch viel leichter im Sitzen. Also...“ Er wies auf einen Leder-/Metallstuhl, wie er häufiger in Arztpraxen stand. Armin fühlte sich, als wäre er beim Zahnarzt zu einer Wurzelbehandlung erschienen und die Schwester hatte ihm gerade mitgeteilt, dass leider die Betäubungsspritzen aus wären.

Die Sache war definitiv seltsam.

Er nahm Platz, während Huker seinen Schreibtisch umkreiste und selbst in einem großen Bürostuhl Platz nahm.

„Also: Was wissen Sie über diese Firma?“, begann er und lächelte neugierig.

Armin zuckte mit den Schultern: „Also, wenn ich ehrlich sein soll…“

„Ich bitte darum!“

„Eigentlich nichts. In der Halle habe ich noch nicht einmal ein Firmenschild gesehen. Sie scheinen sehr viel Wert auf Sicherheit zu legen. Keine Handys, programmierte Aufzüge...“

„Sehr gut. Ich sehe, Sie können gut beobachten und sind in der Lage, die korrekten Schlüsse zu ziehen.“ Er lehnte sich zurück: „Allerdings gibt es da noch einige Lücken, denke ich. Wenn Sie mir nur eine Frage stellen könnten, welche wäre das?“

Das war nicht schwierig: Was soll das alles? Aber Armin war klar, dass er sie so nicht stellen konnte.

„Warum haben Sie Ihren Mitarbeiter unter einem falschen Namen zu mir geschickt?“

Huker nickte: „Naheliegend. Ich habe ihn unter falschen Namen zu Ihnen geschickt, weil wir Sie einem Test unterzogen haben. Falls Sie versagt hätten, wäre es Ihnen unmöglich gewesen, Kontakt zu uns aufzunehmen. Verstehen Sie das bitte nicht falsch, aber unser Unternehmen ist auf Erfolg ausgerichtet.“

„Und was ist das für ein Unternehmen?“

„Das ist schon die zweite Frage.“ Er machte eine wegwerfende Handbewegung: „Aber macht nichts. Sie haben den Test bestanden und verdienen ein paar Antworten. Also: Unsere Firma heißt Octo-Concilio. Wir sind auf IT-Beratung spezialisiert, haben aber ein gemischtes Portfolio, um uns gegen die branchenüblichen Schwankungen abzusichern. Im Gegensatz zu Ihnen beraten wir international operierende Firmen und keine Privatkunden.“

Armin fühlte sich sowohl ertappt als auch abgewertet: Na klasse!

„Wir haben vor Kurzem einen Mitarbeiter verloren und müssen seine Stelle neu besetzen. Er hat sich um sicherheitsrelevante Fragen gekümmert. Unsere interne Verteidigungsstrategie sozusagen.“

„OK.“

„Und wir haben uns dazu entschlossen, Ihnen diesen Job anzubieten.“ Armin schluckte. Das lief aber vollkommen anders als erwartet: Eigentlich wollte er nur einen Laptop loswerden, das Geld einsacken und dann irgendwo einen All-Inclusive-Urlaub klarmachen. Cocktails, bunte Schirmchen, All-You-Can-Eat-Buffets, davon vielleicht Durchfall… Das Übliche halt.

Aber ein Jobangebot?

„Ich kann verstehen, dass Sie überrascht sind. Aber ich denke, der Job würde Sie reizen.“

„Ich fühle mich sehr geschmeichelt“, begann Armin, „aber ich weiß nicht, ob ich der Richtige für einen solchen Job bin. Systemsicherheit ist ein komplexes Feld, gerade für Firmen, und Sie haben eben selbst gesagt, dass ich und mein Geschäftspartner mehr im privaten Sektor arbeiten.“

Huker lächelte: „Das haben Sie schön ausgedrückt. Das Angebot gilt natürlich auch für Ihren Kollegen. Aber bevor Sie sich entscheiden, gibt es einen Faktor, den Sie berücksichtigen sollten.“

Armin war klar, dass er ablehnen würde. Er wollte nicht mit Leuten zusammenarbeiten und von ihnen wirtschaftlich abhängig sein, die noch nicht einmal bei ihrem Namen ehrlich waren.

Huker sah Armin in die Augen: „Die Person, die den Posten vorher innegehabt hat, war Ihr Bruder Norik Kern.“

Armin öffnete den Mund, seine Lippen wollten Sätze formen, seine Zunge sie unterstützen, aber sein Hirn lieferte keine vernünftigen Informationen, die sprachlich hätten umgesetzt werden können: „Ähmmm, äh…!“ Diese Laute spiegelten ziemlich genau wider, was in seinem Hirn vor sich ging.

„Ich sehe, Sie sind überrascht. Das wundert mich nicht. Ich weiß, dass Sie und Ihr Bruder kein enges Verhältnis hatten. Eher etwas oberflächlich.“ Er hob eine Hand: „Kein Vorwurf. Sie haben viel gearbeitet und Ihr Bruder ebenfalls. Aber jetzt ist er leider von uns gegangen.“ Huker sah plötzlich sehr traurig aus: „Er fehlt uns allen sehr.“

Armin fand einen sinnvollen Gedanken: „Und warum waren Sie dann nicht bei seiner Beerdigung?“

Er hörte, wie Sivertsen hinter ihm schnaubte.

„Sie haben Recht.

---ENDE DER LESEPROBE---