Revisionen - Ulrich Schuster

Revisionen

Der Anteil des deutschen Parlamentarismus am transatlantischen Zerwürfnis

(Autor)

Buch | Softcover
363 Seiten
2018
Campus (Verlag)
978-3-593-50785-9 (ISBN)
46,00 inkl. MwSt
Die transatlantische Sicherheitsgemeinschaft hat Risse bekommen. Ulrich Schuster geht der Frage nach, welchen Anteil die deutsche Politik daran hat. Dabei zeigt sich, dass in Deutschland seit dem Ende der 1990er-Jahre das Verständnis eines westlich-liberalen Wertefundaments an Zuspruch verloren hat. Es wurde vom Konzept der "Zivilmacht " und durch die Semantik der selbstbewussten Nation ersetzt. Verweisen diese Revisionen auf eine nationale Hybris in der deutschen Außenpolitik? Die Studie kann in dieser Hinsicht beruhigen: Sicherheitspolitische Vorstellungen blieben an Interessen gebunden, damit kalkulierbar und bündnisfähig.
Die transatlantische Sicherheitsgemeinschaft hat Risse bekommen. Ulrich Schuster geht der Frage nach, welchen Anteil die deutsche Politik daran hat. Dabei zeigt sich, dass in Deutschland seit dem Ende der 1990er-Jahre das Verständnis eines westlich-liberalen Wertefundaments an Zuspruch verloren hat. Es wurde vom Konzept der "Zivilmacht " und durch die Semantik der selbstbewussten Nation ersetzt. Verweisen diese Revisionen auf eine nationale Hybris in der deutschen Außenpolitik? Die Studie kann in dieser Hinsicht beruhigen: Sicherheitspolitische Vorstellungen blieben an Interessen gebunden, damit kalkulierbar und bündnisfähig.

Ulrich Schuster, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Simon-Dubnow-Institut an der Universität Leipzig.

Inhalt
Vorwort 9
1 Einleitung: Deutschland in der transatlantischen Sicherheitspolitik 11
1.1 Transatlantische Konflikte und eindimensionale Erklärungen 11
1.2 Widersprüche als Ausgangspunkt 19
1.3 Forschungskontroversen 22
1.3.1 Deutsche Interessen oder Fremdsteuerung? 24
1.3.2 Ideelle Faktoren oder Machtinteressen? 30
1.3.3 Kontinuität oder Wandel? 39
1.3.4 Politischer Konsens oder pluralistische Debatte? 46
1.3.5 Die Herausforderung widerspenstiger Empirie 48
1.4 Thematische Eingrenzung und Fragestellung 56
2 Theoretischer Rahmen: Struktur, Handlung und Diskurs 58
2.1 Struktur und Handlung in der Außenpolitik 58
2.2 Sprache und die Konstitution von Wirklichkeit 61
2.3 Diskursbegriffe in der Außenpolitikanalyse 65
2.3.1 Wissenssoziologische Diskursanalyse 68
2.4 Fazit: Sprechhandlungen im Diskurskontext 71
3 Methodische Konkretisierung: Deutungsmuster im parlamentarischen Diskursausschnitt 73
3.1 Sinnrekonstruktion als Deutungsmusteranalyse 73
3.2 Texterhebung und Interpretationsoffenheit 74
3.2.1 Die textanalytischen Deutungsmuster 76
3.3 Interpretationskontext 90
3.3.1 Der parlamentarische Diskursausschnitt 91
3.3.2 Sicherheitsverständnis und institutionelle Entwicklung der NATO 98
3.3.3 Das weltpolitische Kräfteverhältnis 104
3.3.4 Die ökonomische Position Deutschlands 107
3.3.5 Westbindung und Geschichtspolitik 110
3.4 Der Zeitrahmen: Regierung und Opposition 114
3.4.1 Der Datensatz: Parlamentarische Reden 115
3.5 Untersuchungsschritte 116
4 Der Diskurs über die deutsche Rolle im transatlantischen Verhältnis 119
4.1 Deutschland als Machtstaat 119
4.1.1 Kosovokrieg: Einfluss und Gewicht in der internationalen Politik 119
4.1.2 Nach dem 11. September: Tragödie als Chance 135
4.1.3 Irakkriegsdebatte: Streit und Einverständnis über Deutschlands Einfluss 149
4.1.4 Antiterrorkampf nach der Irakkriegskrise: Handlungsmacht als Maß des Mitmachens 167
4.1.5 Zwischenfazit: Vom Machtanspruch zum Erfolg 178
4.2 Deutschland als Handelsstaat 182
4.2.1 Kosovokrieg: Stabilitätsinteressen und wirtschaftliche Verflechtungen 182
4.2.2 Nach dem 11. September: Terrorismus als Gefahr für geteilte Interessen 184
4.2.3 Irakkriegsdebatte: Abweichende Interessen 187
4.2.4 Antiterrorkampf nach der Irakkriegskrise: Pragmatismus und Welthandel 189
4.2.5 Zwischenfazit: Abnehmender Stellenwert der transatlantischen Wirtschaftsbeziehungen 190
4.3 Deutschland als verlässlicher Bündnispartner 192
4.3.1 Kosovokrieg: Vertrauen spart Kosten 192
4.3.2 Nach dem 11. September: Egoistische Solidarität 198
4.3.3 Irakkriegsdebatte: Streit über Verlässlichkeit 203
4.3.4 Antiterrorkampf nach der Irakkriegskrise: Lastenteilung und Mitsprache 207
4.3.5 Zwischenfazit: Integration und Eigeninteresse 210
4.4 Deutschland als Teil der westlichen Wertegemeinschaft 213
4.4.1 Kosovokrieg: Freiheit, Demokratie, Antitotalitarismus und Menschenrechte 213
4.4.2 Nach dem 11. September: Wandel ideeller Bezüge 220
4.4.3 Irakkriegsdebatte: Neuinterpretation der Wertegemeinschaft 225
4.4.4 Antiterrorkampf nach der Irakkriegskrise: Völkerrechtskonformität und sicherheitspolitische Effizienz 230
4.4.5 Zwischenfazit: Vom liberalen Verständnis zur Bedeutungslosigkeit 234
4.5 Deutschland als Zivilmacht 238
4.5.1 Kosovokrieg: Abweichende Vorstellungen von Zivilmacht 238
4.5.2 Nach dem 11. September: Zivilmacht als pädagogischer Auftrag 243
4.5.3 Irakkriegsdebatte: Chiffren der Abgrenzung 249
4.5.4 Antiterrorkampf nach der Irakkriegskrise: Drängen auf einen zivilen Strategiewechsel 260
4.5.5 Zwischenfazit: Zwischen Ideologie und Pragmatismus 267
4.6 Deutschland als Hilfsmacht des US-Imperialismus 274
4.6.1 Kosovokrieg: Rüstungsinteressen und Geostrategie 274
4.6.2 Nach dem 11. September: Weltherrschaft und Erdöl 279
4.6.3 Irakkriegsdebatte: Antikriegssouveränismus und Globalisierungskritik 283
4.6.4 Antiterrorkampf nach der Irakkriegskrise: Weltherrschaft und Rohstoffinteressen 288
4.6.5 Zwischenfazit: Antiimperialismus zwischen Isolation und Anschluss 293
5 Ausblick und Ergebnisse 300
5.1 Die Libyendiskussion 300
5.2 Resümee im Spiegel der Forschungskontroverse 309
5.2.1 Deutsche Interessen oder Fremdsteuerung? 309
5.2.2 Ideelle Faktoren oder Machtinteressen? 310
5.2.3 Kontinuität oder Wandel deutscher Bündnispolitik? 312
5.2.4 Politischer Konsens oder pluralistische Debatte? 317
5.3 Schluss: Deutschlands Anteil 321
Abkürzungen 325
Quellen 327
Literatur 340

"Schuster gelangt zu äußerst bedenkenswerten Ergebnissen, die wohltuend so manche Fehlwahrnehmung von deutscher Seite korrigieren." Thomas Speckmann, Der Tagesspiegel, 05.03.2019

»Schuster gelangt zu äußerst bedenkenswerten Ergebnissen, die wohltuend so manche Fehlwahrnehmung von deutscher Seite korrigieren.« Thomas Speckmann, Der Tagesspiegel, 05.03.2019

Vorwort Die folgende Studie ist eine überarbeitete und stark gekürzte Version meiner Dissertation, die unter dem Titel "Deutschlands Rolle in der transatlantischen Sicherheitspolitik. Der Diskurs parlamentarischer Debatten von 1997 bis 2011" im November 2015 an der Fakultät für Sozialwissenschaften und Philosophie der Universität Leipzig eingereicht wurde. Der erste Anstoß für die Arbeit an diesem Thema liegt mittlerweile sehr lange zurück; er erfolgte, als die Vereinigten Staaten im Jahr 2002 den Irakkrieg vorbereiteten. Hier zeigten sich erstmals in unübersehbarer Weise die divergenten Positionen der transatlantischen Bündnispartner in der neuen Weltunordnung. Klaus-Gerd Giesen, damals noch Professor am Institut für Politikwissenschaft der Universität Leipzig, heute an der Hochschule in Clermont-Ferrand (Frankreich), bestärkte mich seinerzeit darin, diese widersprüchliche Konstellation als sozialwissenschaftliches Rätsel zu untersuchen, wofür ich ihm zu Dank verpflichtet bin. Mit den Jahren hat sich die ursprünglich geplante Herangehensweise an den Gegenstand stark verändert. Fühlte ich mich zunächst von neo-marxistischen Ansätzen der Internationalen Beziehungen inspiriert, enttäuschten mich die ökonomistische und antiamerikanische Präfigurierung ihrer Außenpolitikanalysen zunehmend. In der Folge wandte ich mich der rekonstruktiven Diskursforschung zu. Diese Umorientierung war nicht zuletzt von der konjunkturellen Entwicklung sozialwissenschaftlicher Ansätze in den frühen 2000er Jahren beeinflusst. Gleichwohl ermöglichte mir der nun gewählte Zugang eine offenere Erkenntnisperspektive und einen pragmatischen Untersuchungsansatz. Die Unterstützung und der Rat meiner beiden akademischen Betreuer an der Leipziger Universität, Ulf Engel (Direktor des Graduate Centre Humanities and Social Sciences) und Matthias Middell (Direktor der Graduate School Global and Area Studies), waren für diesen Perspektivenwechsel maßgeblich. Meine Dissertation wurde durch die Gewährung eines Promotionsstipendiums der Heinrich-Böll-Stiftung gefördert, die sich insbesondere bei der Finanzierung meines Auslandsaufenthalts an der University of Sussex in Brighton sehr großzügig zeigte. Mit Dankbarkeit blicke ich außerdem auf die Zeit am ehemaligen Zentrum für Höhere Studien der Universität Leipzig zurück. Die Koordinatorin des dortigen Graduiertenprogramms, Martina Keilbach, hat mit Zuspruch und dezentem Druck dem Fortgang der Arbeit geholfen. Ebenso motivierend und zum Verständnis formaler Abläufe der Universitätsbürokratie ungemein hilfreich war die jahrelange freundliche Begleitung durch den Dekanatsrat Joachim Feldmann. Zudem bleibt mir sein Seminar "Sozialreform oder Revolution" über die Strategien der historischen Arbeiterbewegung, das am Anfang meines politikwissenschaftlichen Studiums stand und thematisch den akademischen Moden kurz nach dem Niedergang des Staatsozialismus zuwiderlief, als maßgebliches Beispiel gelungener universitärer Lehre und Vermittlung historischen Urteilsvermögens mit Gegenwartsbezug in Erinnerung. Mein persönlicher Dank gilt weiterhin Erik Lindner, dem Geschäftsführer der Axel Springer Stiftung. Auch aufgrund seiner nützlichen Hinweise war mein Antrag für einen Druckkostenzuschuss erfolgreich. Mit großer Sorgfalt hat Marcel Müller das Manuskript lektoriert. Nicht nur einmal musste er sich dabei mit den Tücken meiner Qualifikationsarbeit auseinandersetzen. Dass er dies trotz der notwendigen Eingriffe mit professioneller Milde getan hat, rechne ich ihm hoch an. Dennoch in der Arbeit auffindbare Fehler sind nicht ihm, sondern mir als letztverantwortlichem Autor anzulasten. Schließlich möchte ich meinen Freunden Sebastian Kirschner und Philipp Graf danken, dass sie für meine langwierige und zeitraubende Gebundenheit an die Dissertation viel Verständnis und gleichzeitig großes Interesse für den Fortschritt der Arbeit aufgebracht haben. Der größte Dank gilt Leo und Karoline, ohne deren Rückhalt dieses Projekt nie zu einem guten Ende gefunden hätte. Ulrich Schuster Leipzig, Juli 2018 1 Einleitung: Deutschland in der transatlantischen Sicherheitspolitik 1.1 Transatlantische Konflikte und eindimensionale Erklärungen Die Hoffnung auf eine globale Friedensdividende hat sich knapp 30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs nicht erfüllt. Krisen, internationale Konflikte und Kriege prägen die Weltpolitik. Zwar bestehen eine Reihe von Gründen, sich die 1990 zu Ende gegangene Epoche des Kalten Krieges nicht zurückzuwünschen. So war ihre Stabilität mit dem Potenzial und dem Risiko waffentechnischer Weltvernichtung, mit manichäischen Weltbildern und, vor allem im Osten, mit autoritären politischen Strukturen erkauft. Allerdings verführt die Abwesenheit einer weltpolitischen Ordnung, wie sie sich im Zuge der Blockkonfrontation herauskristallisiert hatte, heute zu einem sehnsuchtsvollen Blick zurück. Tatsächlich sind die Konfliktlinien der Weltpolitik in der Gegenwart vielfältiger als die geopolitische Konfrontation zwischen West und Ost im 20. Jahrhundert. Nach einer kurzen Phase während der 1990er Jahre, die den Anschein einer neuen Ordnung unter amerikanischer Vorherrschaft erweckt hatte, zeigten sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts neue globale Konfliktlinien: Aus der ungleichen ökonomischen Entwicklung und verstellten gesellschaftlichen Modernisierungswegen resultierten Staatenzerfall und Ethnifizierungsprozesse, zugleich konnte der Islamismus samt seiner militanten und terroristischen Gruppierungen ein weltweites Bedrohungspotenzial entfalten. Hinzu trat der Aufstieg neuer Mächte im internationalen System. Mit ihrer ökonomischen Macht wuchsen die Mitspracheansprüche von Staaten wie China, Russland, Brasilien und Indien. Aufgrund dieser Gemengelage, die sich im Vergleich zur Ost-West-Bipolarität nicht in eine ideologisch-machtpolitische Frontstellung einfügt, erscheint die bereits Ende der 1990er Jahre aufgekommene Rede von der "neuen Weltunordnung" - verstanden als "Gleichzeitigkeit von Globalisierungs- und Fragmentierungsentwicklungen" (Berndt 1997: 218) - heute umso plausibler. Dazu trug nicht zuletzt die Unbestimmtheit der transatlantischen Beziehungen bei. Das Projekt der Europäischen Union (EU) stellte die amerikanische Vorherrschaft innerhalb des Westens infrage. Das Bild einer geschlossenen transatlantischen Gemeinschaft, die auf übereinstimmenden Interessen und geteilten Werten beruht, wich spätestens seit dem heraufziehenden Zweiten Irakkrieg der Wahrnehmung sich lockernder Bindungen zwischen einzelnen Staaten der North Atlantic Treaty Organization (NATO), aber auch zwischen den in der EU organisierten Ländern. Statt auf der Grundlage einer geteilten Bedrohungswahrnehmung geschlossenen zu agieren, gerieten die westlichen Staaten in Konflikte, die sich von der antikommunistischen Geschlossenheit im Kalten Krieg unterschieden. Diese Konfliktdimension führt auf geradem Weg zu der Frage, welche Rolle Deutschland im transatlantischen Verhältnis der jüngeren Vergangenheit spielte. Ganz unabhängig von politischen Standpunkten und theoriegeleiteten Analyseperspektiven bettet sich dieses Forschungsinteresse in eine verallgemeinerbare Erfahrung: Die politische Welt bringt unablässig neue Wirklichkeiten hervor und mit ihnen den Wunsch, diese verstehen, abschätzen und ihre weitere Entwicklung prognostizieren zu können. Ein Bedürfnis, dass eingedenk der deutschen Geschichte noch drängender wird. Als eine Konsequenz des Zweiten Weltkriegs wurde die NATO neben ihrem geo-strategischen Antikommunismus darauf ausgerichtet, einen erneuten Griff Deutschlands nach der Weltherrschaft zu verhindern. Als gegen den "Osten" gerichtetes Bündnissystem wurde der "Westen" aber zugleich zum machtpolitischen Rahmen kultureller Umorientierung in der Bundesrepublik Deutschland. Die bundesrepublikanische Westorientierung konnte sich nicht zuletzt deswegen durchsetzen, weil sie nach 1945 als "die notwendige Voraussetzung für die Erlangung der beschränkten außenpolitischen Souveränität" (Kaim 2007: 88) angesehen wurde. Zudem bot die Wahrnehmung einer kommunistischen Bedrohung für die Anerkennung der amerikanischen Hegemonie und die westliche Bündnisorientierung den ideellen Kitt, der den außenpolitischen Wandel im Vergleich zur traditionellen deutschen Machtpolitik erleichterte (Baumann 2001: 143; Buzan 2004: 20ff.). Trotz des gemeinsamen Feindbilds existierte ein Spannungsfeld der Machtverteilung innerhalb der westlichen Allianz und die am Bündnis beteiligten Staaten mussten eine Balance-Politik betreiben. Die Vereinigten Staaten verfolgten nicht nur das erklärte Ziel, die Ausdehnung des sowjetischen Einflussbereichs zu begrenzen, sondern ebenso die erneute Entstehung einer feindseligen deutschen Weltmacht zu unterbinden und die amerikanische Kontrolle über Westeuropa zu garantieren (Varwick 2008: 34). Aber auch Deutschland wollte sich in der NATO nie einzig vor dem Militärpotenzial des Ostblocks schützen, sondern erweiterte im transatlantischen Bündnis den Handlungsspielraum der eigenen Außenpolitik (Tuschhoff 1999). Solange die NATO als militärische Schutzmacht Deutschlands Einbindung gewährleistete, wurde die Ausweitung deutscher Gestaltungsmacht von den westeuropäischen Staaten akzeptiert. Deutschland wiederum konnte ohne Sicherheitsverlust auf den Besitz eigener Massenvernichtungswaffen und autonom handlungsfähige Streitkräfte verzichten. Auf sicherheitspolitischer Ebene hatte die NATO die deutsche Frage in Europa gelöst. Eine Lösung, die auch nach dem Ende des Kalten Krieges fortwirkte (Winkler 2017: 98). Die Westintegration Gesamtdeutschlands und die amerikanische Vormachtstellung in Europa relativierten Befürchtungen der europäischen Nachbarn und hielten sie bis heute von einer anti-hegemonialen Sicherheitspolitik ab. Unter dem sicherheitspolitischen Schutzschirm und begünstigt vom staatlichen Wiederaufstieg gewann in der Bunderepublik ein politisch-kulturelles Selbstverständnis an Gewicht, das in den Vereinigten Staaten nicht mehr ein Gegenbild, sondern einen positiven Orientierungspunkt innerhalb eines gemeinsam verfolgten Zivilisationsmodells erkannte. In Übereinstimmung mit der internationalen Orientierung lehnte sich die innere Ordnung Deutschlands an das demokratisch-liberale Modell westlicher Nationalstaaten an und verließ den Sonderweg, der lange Zeit als bewusste Abgrenzung von den Werten der Französischen Revolution und der atlantischen Ideengeschichte beschritten worden war (Schulze 2002: 233ff.). Vor diesem historischen Horizont bekommt die Beobachtung einer transatlantischen Kluft nach 1989 eine zusätzliche Relevanz. Ebenso wie die Haltungen gegenüber den Vereinigten Staaten "Indikator für die Verwestlichung Deutschlands" (Diner 2003: 117) sind, kann Deutschlands Verhältnis zur NATO als Gradmesser grundlegender Westorientierung nach der deutschen Wiedervereinigung gelten (Markovits/Reich 1998: 228). Ein Bedeutungshintergrund, der Beobachter umso besorgter auf die Entwicklung der transatlantischen Beziehungen blicken lassen muss. Tatsächlich mangelt es nicht an Befürchtungen, wenn dem Westen wissenschaftliches oder journalistisches Interesse widerfährt. Nur sind diese gemeinhin tendenziös. Das ließ sich unter anderem am Skandal um die Abhörmethoden der National Security Agency (NSA) beobachten. Als im Sommer 2013 Berichte über amerikanische Spionage die hiesige Öffentlichkeit erschütterten, wurde die Frage nach in Deutschland zu suchenden Ursachen in der Regel nicht gestellt. Zu naheliegend war der Versuch, die Praxis der NSA als Teil einer überzogenen weltpolizeilichen Kontrolle der Vereinigten Staaten zu interpretieren. Oft gilt hierzulande die amerikanische Außenpolitik als hauptsächlicher Verursacher transatlantischer Beziehungsprobleme. Die Vereinigten Staaten seien im Antiterrorkrieg immer mehr zu einer unberechenbaren Größe geworden, die ihre Partner überrasche, argumentierte etwa William J. Dobson (2014) im Magazin Cicero. In der Zeitschrift Aus Politik und Zeitgeschichte hieß es, der amerikanische Lauschangriff habe das Vertrauen und damit die Basis einer konstruktiven Zusammenarbeit der transatlantischen Kernstaaten zerstört (Thimm 2014: 6f.). Diese einseitige Kritik passt sehr gut in eine umfassende Konstruktion amerikanischen Weltmachtstrebens, in der Deutschland einzig als naiver oder gezwungener Helfershelfer auftritt. Ganz in diesem Sinne lautete der Titel eines 2015 als Reaktion auf den NSA-Skandal erschienenen Sachbuchs Amerikas Schattenkrieger. Wie uns die USA seit Jahrzehnten ausspionieren und manipulieren (Schweitzer 2015). Die Autorin Eva C. Schweitzer vertritt darin die These eines seit 1914 andauernden Propaganda- und Spionagekriegs, der in der jüngsten Vergangenheit dazu geführt habe, dass sich Deutschland "auf Druck der USA" direkt oder indirekt an Kriegen und Militäreinsätzen, etwa im Irak, in Afghanistan oder in Libyen beteiligte (ebd.: 8). Die öffentliche Meinung erscheint als Opfer von Manipulationen, an denen auch "deutsche Amerikafreunde […] in transatlantischen Vereinen, Stiftungen, Denkfabriken und Zeitungen ihren Anteil haben". Schweitzer schreibt gewissermaßen eine populäre Vorstellung über die amerikanische Weltherrschaft und Deutschlands Vasallenstatus fort, die selten eindrücklicher als 2003 durch einen Mottowagen des Düsseldorfer Rosenmontagsumzugs illustriert wurde. Zu sehen war eine Nachbildung Angela Merkels, die aus dem Anus einer Uncle-Sam-Figur herausragt und mit freudigen Gesichtszügen das Sternenbanner schwenkt. Das Motiv der deutschen Arschkriecherin fügt sich in stereotype Wahrnehmungen eines kulturkritischen und antiimperialistischen Antiamerikanismus, die nach soziologischen Studien über die Hälfte der hiesigen Bevölkerung teilt (Beyer 2014: 147). Auf der Grundlage eines solchen Zerrbilds transatlantischer Politik lässt sich die Frage nach deutscher Verantwortung nicht stellen. Dabei gab gerade die NSA-Debatte Hinweise, die einen solchen Perspektivenwechsel nahelegen. Etwa als im Herbst 2013 Aussagen des ehemaligen NSA-Chefs Michael Hayden öffentlich wurden, die auf die Ablehnung des Irakkriegs durch die Regierung unter Gerhard Schröder als Grund für den amerikanischen Lauschangriff hindeuteten. Für die Vereinigten Staaten, so eine Rechtfertigung Haydens, galt Deutschland nicht mehr als zuverlässiger Bündnispartner, ja mehr noch, sie sahen im außenpolitischen Kurs der Schröder-Regierung eine Bedrohung. Ähnlich begründete im Sommer 2014 der amerikanische Journalist James Kirchick in einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, unter Hinweis auf die guten außenpolitischen und ökonomischen Beziehungen Deutschlands mit Russland und dem Iran, einen in den Vereinigten Staaten existierenden Argwohn, der berechtigterweise geheimdienstlich überprüft werden müsse (Kirchick 2014). Doch fanden solche amerikanischen Positionen hierzulande keine Resonanz; vielmehr kehrten in den Diskussionen um die Präsidentschaft Donald Trumps und sein Verhältnis zur transatlantischen Sicherheitspolitik die alten Wahrnehmungsmuster wieder. Trump hatte bereits im Wahlkampf die NATO infrage gestellt, nach seinem Amtsantritt aber präzisiert, dass es ihm vor allem um eine gerechtere Lastenverteilung innerhalb der Allianz gehe. Viele NATO-Staaten, so seine Kritik - die ähnlich schon andere US-Sicherheitsexperten geäußert hatten -, würden von den militärischen Fähigkeiten und vom Abschreckungspotenzial der amerikanischen Streitkräfte profitieren, selbst jedoch keinen angemessenen Beitrag zur Verteidigung leisten. Auch Deutschland müsse seine Verteidigungsausgaben signifikant erhöhen. In der Sache reaktivierte Trump nur Positionen seiner Vorgänger. Unstimmigkeiten über die Lastenverteilung sind so alt wie das westliche Bündnis selbst. Schon Konrad Adenauer und Helmut Schmidt wehrten sich gegen amerikanische Forderungen, die NATO-Beiträge zu erhöhen. Die Regierungen des wiedervereinigten Deutschland verfuhren nach dem gleichen Muster. Tatsächlich hatten die Mitgliedstaaten der Allianz bereits 2002 beschlossen, ihre Militärhaushalte an der Marke von 2 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) zu orientieren; 2014 wurde dann unter dem Eindruck der russischen Annexion der Krim die verbindliche Einhaltung dieser Zielmarke bis zum Jahr 2024 vereinbart. Doch ungeachtet der lange zurückliegenden Beschlüsse verharrte der deutsche Verteidigungshaushalt bei etwa 1,2 Prozent des BIP. Insofern schien für amerikanische Unzufriedenheit einiger Anlass zu bestehen. Die Spitzen der deutschen Politik reagierten indes häufig mit demonstrativem Unverständnis. Nachdem der amerikanische Präsident seinen Standpunkt im Mai 2017 auf dem NATO-Gipfel in Brüssel bekräftigt hatte, verkündete Bundeskanzlerin Angela Merkel kurze Zeit später auf einem Bierzeltauftritt in München das Ende der amerikanischen Verlässlichkeit. Europa müsse jetzt sein Schicksal in die eigene Hand nehmen. Noch offensiver fiel die Reaktion des damaligen sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten Martin Schulz aus: Europa solle "vor allem […] mit Selbstbewusstsein" auf die amerikanischen Forderungen reagieren und sich der "Aufrüstungslogik eines Donald Trump nicht unterwerfen" (zitiert nach Leithäuser 2017: 2). Die Parteivorsitzende der Linkspartei, Katja Kipping, stieß ins gleiche Horn: Deutschland müsse das "Duckmäusertum" gegenüber den Vereinigten Staaten beenden und "klare Kante gegen das Aufrüstungsdiktat von Trump" zeigen (ebd.). Ein stärker zusammenrückendes Europa sei die richtige Antwort auf die amerikanischen Ansprüche, ließ sich auch der grüne Spitzenpolitiker Jürgen Trittin vernehmen. Überrascht von den undiplomatischen Tönen Merkels, die sonst eher für ihre Besonnenheit auf internationalem Parkett bekannt ist, vermuteten journalistische Kommentatoren einen schlauen Schachzug der Kanzlerin. Sie habe im anhebenden Wahlkampf 2017 der SPD nicht das Feld der Außenpolitik für eine antiamerikanische Kampagne überlassen wollen. Denn eine solche hatte 2002 die Union die wahlentscheidenden Stimmen gekostet, als Gerhard Schröder sich unter dem Slogan ›Der deutsche Weg‹ als kompromissloser Gegner der Irakkriegspläne des damaligen US-Präsidenten George W. Bush inszeniert hatte (Sattar 2017: 2). Als Wahlkampfgeplänkel müsse denn auch verstanden werden, warum die SPD in der Folge noch weitaus forschere verbale Attacken gegen die Trump-Administration ritt, während die außenpolitischen Experten der CDU mit Bekenntnissen zum transatlantischen Verhältnis schon wieder staatsmännisch zurückruderten. Siegmar Gabriel, immerhin Außenminister der Großen Koalition, ließ hingegen verlauten: "Wer dieser US-Politik nicht entgegentritt, macht sich mitschuldig." Und die Generalsekretärin der SPD, Katarina Barley spottete, es sei "keine Kunst […], im Bierzelt über Trump zu schimpfen" (zitiert nach ebd.), warf Merkel aber vor, im direkten Kontakt mit dem Präsidenten eingeknickt zu sein. Die ostentativsten Einforderungen nationaler Selbstbehauptung gegen Amerika kommen immer wieder von links. Zwar geißelten alle politischen Entscheidungsträger in Deutschland Washingtons Ausstieg aus dem Atomabkommen mit dem Iran, doch der Verleger und Chefredakteur des Freitag, Jakob Augstein (2018), prangerte in seiner Spiegel-Online-Kolumne ›Im Zweifel links‹, Deutschlands unterwürfige Haltung an: Weil die Deutschen sich nicht am "antiimperialistischen Kampf" gegen die Vereinigten Staaten beteiligen würden, hielt er ihnen in Abwandlung des traditionsreichen Vorwurfs der Wehrkraftzersetzung "Feigheit vor dem Freund" vor. Oskar Lafontaine (Linkspartei) schimpfte die Amerikaner auf Facebook "verlogenes Pack", "Kriegstreiber" und "Brandstifter". Sie seien "nicht zum Frieden geeignet". Er forderte daher die selbstbewusste Vertretung deutscher Interessen ein (zitiert nach Hagen/Teevs 2018). Nach dem jüngsten NATO-Gipfel im Juli 2018 war es nicht anders: Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) rief dazu auf, sich "nicht immer die Agenda von Trump bestimmen [zu] lassen" (zitiert nach Simon 2018). Ex-Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) warf Trump vor, in Deutschland einen Regimewechsel herbeiführen zu wollen, was "wir uns schwer bieten lassen" können (zitiert nach Kürschner 2018). Der Vorsitzende der grünen Bundestagsfraktion, Anton Hofreiter, zürnte, weil sich Merkel der amerikanischen "Aufrüstungsideologie unterworfen" (ebd.) habe und der in Sachen Amerikafeindschaft notorische Oskar Lafontaine resümierte mit dem Hinweis aus dem Arsenal der Reichsbürger, Deutschland sei "auch viele Jahre nach dem zweiten Weltkrieg […] immer noch kein souveränes Land" (zitiert nach Hartmann 2018). Amerikakritische Haltungen dominieren die öffentliche Debatte und nur selten war das in den letzten 30 Jahren anders. Demokratische Administrationen fanden tendenziell eine bessere Bewertung als republikanische (Winkler 2017: 81ff.). Schon Ronald Reagan (Amtszeit: 1981-1989) blieb den meisten Deutschen vor allem als Wettrüster im Gedächtnis. George H. W. Bush (1989-1993) und sein ihm später ins Präsidentenamt nachfolgender Sohn George W. Bush (2001-2009) galten beide als Kriegstreiber. An Bill Clinton (1993-2001) und Barack Obama (2009-2017) knüpften sich in Deutschland große Hoffnungen; nicht zuletzt, weil man in ihnen zurückhaltende Außenpolitiker sehen wollte. Als sie sich ebenso wie die konservativen Amtsinhaber als Verteidiger amerikanischer Sicherheitsinteressen exponieren mussten, verwandelte sich die projektive Sympathie schnell in große Enttäuschung. Die gegenwärtige Ablehnung von Donald Trump stellt insofern viel weniger einen Sonderfall dar als es die Stilisierung seines Amtsantritts als "tiefste Zäsur in der Geschichte der transatlantischen Beziehungen seit 1945" (ebd.: 10) vermuten lässt. Ganz unabhängig, ob Deutschlands Atlantizismus verteidigt oder zur Umorientierung aufgerufen wird, als größte Gefahr der transatlantischen Beziehungen werden in der Regel die Vereinigten Staaten benannt. Wenn heute Trump als derjenige angegriffen wird, der "als erster US-Präsident seit dem Zweiten Weltkrieg […] Idee und Institutionen der liberalen internationalen Ordnung grundsätzlich infrage" stellt (Berger u.a. 2017), ist schon wieder vergessen, dass der Vorwurf "Amerika zerstört den Westen" (Güßgen 2005) zur Begleitmusik der Irakkriegskontroverse und der Debatte über den Krieg gegen den Terror gehörte. Das unablässige Tremolo der Amerikakritik findet in der Bevölkerung seinen Widerhall. Laut einer aktuellen Studie des Demoskopischen Instituts Allensbach wird das Auftreten der Vereinigten Staaten hierzulande überwiegend als Dominanz empfunden. 66 Prozent der Deutschen haben den Eindruck, die Vereinigten Staaten vertreten ihre Interessen rücksichtsloser als andere; eine Mehrheit von 54 Prozent schätzt den amerikanischen Einfluss als negativ ein; 40 Prozent sehen von Washington die größte Gefahr für den Weltfrieden ausgehen (Köcher 2018: 8). Im breiten Strom der Ablehnung der Vereinigten Staaten mutet die Frage nach den deutschen Anteilen an den Problemen der transatlantischen Sicherheitspolitik randständig an. Umso interessanter kann es sein, dieser vielfach verstellten Analyseperspektive zu folgen. Allerdings darf hier nicht der Eindruck erweckt werden, die folgende Diskursanalyse könne die ganze Wahrheit des transatlantischen Zerwürfnisses aufdecken. In ihrer begrenzten erkenntnistheoretischen Anlage vollzieht sie jedoch einen Perspektivenwechsel. Damit ist nicht das Grundprinzip des interkulturellen Lernens gemeint, das Motive und Handlungsweisen von Menschen mit anderem kulturellen Hintergrund nachvollziehbar machen soll. Obwohl es so abwegig nicht erscheint, die reflexhaften Schuldzuweisungen an die Vereinigten Staaten durch die in der Einwanderungsdebatte hoch gelobte Verständnishaltung zu ersetzen. Stattdessen geht es um die Hinwendung zur Frage nach Deutschlands Rolle in der transatlantischen Sicherheitspolitik. Mithilfe einer Rekonstruktion sprachlicher Handlungsorientierungen von Parlamentariern in Bundestagdebatten über die transatlantische Sicherheitspolitik zwischen 1997 und 2011 wird das Bündnisverständnis maßgeblicher Akteure der deutschen Außenpolitik dargestellt. Der zugegebenermaßen wenig originelle Titel Revisionen ist nichtsdestotrotz programmatisch zu verstehen: Mit Blick auf eine mittlerweile zeitgeschichtliche Phase der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik wird geprüft, inwiefern die Deutungen federführender deutscher Politiker die Konflikthaftigkeit der transatlantischen Beziehungen befördert haben. 1.2 Widersprüche als Ausgangspunkt Die deutsche Rolle im transatlantischen Bündnis offenbart sich als Rätsel. Als 1999 nach einer langen und heftigen innenpolitischen Debatte die Bundeswehr gemeinsam mit ihren NATO-Verbündeten unter Führung der Vereinigten Staaten Krieg gegen Jugoslawien führte, geschah dies unter anderem mit der Begründung, Deutschland könne nur so beweisen, dass es an der Westintegration festhalte und in der Außenpolitik nicht erneut einen Sonderweg einschlage. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 herrschte unter den maßgeblichen politischen Akteuren in Deutschland weitgehende Einigkeit darüber, den Terrorangriff als Akt der Barbarei zu verurteilen. Nur die PDS war, wie schon während der Diskussionen über einen deutschen Kosovoeinsatz, nicht Teil des parlamentarischen Schulterschlusses. Sie lehnte die Zustimmung zum Eintritt des NATO-Bündnisfalls geschlossen ab. Nur etwa ein Jahr später, angesichts des nahenden Zweiten Irakkriegs, hatte die PDS ihre randständige Position verloren. Während der Debatten über den Sinn einer Militärintervention im Irak war von einer breiten Unterstützung der amerikanischen Außenpolitik nichts mehr zu spüren. Sowohl Regierung als auch Opposition signalisierten eine ablehnende Haltung gegenüber einem militärischen Regimewechsel in Bagdad, den sie unisono als militärisches "Abenteuer" bezeichneten (Heydemann/Gülzau 2010: 16f.). Nach den Verlautbarungen der Regierungsfraktionen unterschied sich Deutschlands Zivilmachtpolitik grundsätzlich von der militärischen Machtstrategie der Bush-Administration. Die Schröder/Fischer-Regierung relativierte nicht nur ihr Versprechen uneingeschränkter Solidarität (ebd.), sondern betonte - gemeinsam mit allen anderen Parteien im Bundestag - die Legitimität des Widerspruchs im transatlantischen Verhältnis und das prinzipielle Recht autonomer Entscheidungsfindung. Hinzu kam eine, wenngleich innenpolitisch umstrittene, Brüskierung des amerikanischen Bündnispartners. Die Vereinigten Staaten beabsichtigten, einen Teil ihrer Irakintervention von der Türkei aus zu unternehmen. Die Türkei fürchtete in diesem Fall Angriffe des Irak auf ihr Territorium und bat in der NATO um Unterstützung durch Patriot-Luftabwehrsysteme. Gemeinsam mit Belgien, Frankreich und Luxemburg verweigerte die deutsche Regierung diese Unterstützungsleistung (Varwick 2008: 26f.). Mehr noch unternahm sie diplomatische Versuche, eine Achse Paris-Berlin-Moskau ins Leben zu rufen, die als machtpolitisches Gegengewicht zu den Vereinigten Staaten und als Infragestellung der bundesrepublikanischen NATO-Einbindung verstanden werden konnte (Schöllgen 2004: 237). Parallel dazu kristallisierte sich aus der politischen Debatte deutlicher als je zuvor das Wunschbild eines geschlossen agierenden Europas heraus, das mit den Vereinigten Staaten gleichwertig in Austausch zu treten habe. So wie sich nach dem 11. September 2001 die Beschwörung von Solidarität als Ausdruck westlicher Gemeinschaft verstehen ließ, zeigten nun Forderungen nach einer ›Partnerschaft auf Augenhöhe‹ die Konfliktdimension zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten an. Der Gipfel transatlantischer Verstimmung war allerdings noch nicht erreicht. Als der amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld die deutsch-französische Irakpolitik mit den Worten gerügt hatte, sie repräsentiere nur das ›alte Europa‹, reagierte eine Reihe namhafter deutscher und französischer Intellektueller. Auf den Feuilletonseiten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung antworteten Jacques Derrida, André Glucksmann, Durs Grünbein, Jürgen Habermas, Robert Menasse, Alice Schwarzer, Jorge Semprún, Michel Tournier, Paul Virilio und einige mehr auf die ›amerikanische Provokation‹ mit manichäischen Bewertungen. Während man die amerikanische Außenpolitik vom nackten ökonomischen Interesse getrieben sah, erschien der europäische Kontinent als originärer Verteidiger von Kultur und Demokratie. Einige ergänzten Forderungen nach einer Forcierung des europäisch-amerikanischen Gegensatzes. So bejubelte der Schriftsteller Durs Grünbein den deutsch-französischen "Aufstand der Vasallen" als Schritt in ein "neues Zeitalter der Weltpolitik", in dem sich Europa "als dritte Kraft im Spiel der Supermächte" formiere (Grünbein 2003: 35). Sein französischer Kollege Michel Tournier dachte gleich ein Stück weiter. Er hoffte, die "deutsch-französische Entente" gehe soweit, dass beide Länder "eine Armeeeinheit in den Irak schicken, um das Volk zu schützen und gegen die amerikanische Aggression zu verteidigen" (Tournier 2003: 35).

Erscheinungsdatum
Verlagsort Frankfurt
Sprache deutsch
Maße 140 x 213 mm
Gewicht 455 g
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung Europäische / Internationale Politik
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung Vergleichende Politikwissenschaften
Schlagworte Allianz • Außenpolitik • Bündnis • Deutschland • Deutschland; Politik/Zeitgeschichte (Außenpolitik) • Diskursforschung • Internationale Politik • NATO • Sicherheitspolitik • Transatlantische Beziehungen
ISBN-10 3-593-50785-4 / 3593507854
ISBN-13 978-3-593-50785-9 / 9783593507859
Zustand Neuware
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