Selbstversuch
Eine Nacht auf dem hässlichsten Campingplatz der Schweiz

Wer in aller Welt steigt auf dem Campingplatz Wiggerspitz in Aarburg zwischen A1 und Bahnlinie ab? Ein Besuch und eine Probenacht zeigt: Charme macht vieles wett. Und: Es sind vor allem Durchreisende, die am Folgetag weiterreisen.

Daniel Fuchs
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Ein Intercity-Zug lärmt, als er die Aarebruecke passiert
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Der Campingplatz Wiggerspitz war auch schon an lauschigeren Plätzen
Campierer aus dem Bilderbuch Erwin Castelberg und Elisabeth Zinniker in ihrer «schönen Ecke».
Familie Richard aus Grenoble ist mit dem Seitenwagen unterwegs
Aus der Zeit, in der Klub noch bei Ruppoldingen campen durfte
Ruppoldingen 1971
Ruppoldingen 1975
Und noch vorher, 1959, in Daeniken

Ein Intercity-Zug lärmt, als er die Aarebruecke passiert

Chris Iseli

Der Campingplatz Wiggerspitz sticht Bahnreisenden wie mir auf der Strecke Bern-Zürich jeweils ins Auge. Wenn der Intercity Rothrist passiert und bei Aarburg die Aare überquert, dann sieht man ihn für wenige Sekunden: Eingeklemmt zwischen Eisenbahnbrücke, Aare, Umfahrungsstrasse und Autobahn A1 liegt er da. Wäre auch noch eine Hochspannungsleitung, das Bild des unvorteilhaftesten Campingplatzes der Schweiz würde komplettiert. Den perfekten Campingplatz stelle ich mir trotzdem anders vor. «Wer zum Himmel verbringt hier freiwillig seine Ferien?», habe nicht nur ich mich deshalb gefragt, wenn ich wochentags zwischen Bern und Aarau pendelte. Der Fragerei genug, nun ist ein Selbstversuch angesagt.

Im VW-Bus wage ich mich ans Abenteuer Wiggerspitz. Dort angekommen stelle ich dem Vizepräsidenten des Zelt- und Wohnwagenklubs Olten, Heinz Balmer, die Mutter aller Fragen: «Wer zum Geier verbringt hier Ferien?» Es sei eben kein typischer Campingplatz zum Ferienverbringen. «Die meisten der Gäste kommen abends und reisen frühmorgens weiter», erklärt Balmer, als ein Güterzug die Aare mit ohrenbetäubendem Lärm überquert. Viele Holländer übernachteten hier auf ihrer Reise in den Süden, so Balmer. Den Reisenden dient dieser Campingplatz quasi als Autobahnraststätte, auf der sie günstig ihre Zelte aufschlagen dürfen.

Zwischenhalt nach Rimini

Holländer, die es etwa an die Adria zieht, müssen am Wiggerspitz vorbei. Denn Aarburg liegt genau auf der Mitte der Ferienroute Maastricht-Rimini. Das machte sich auch jenes holländische Pärchen zunutze, das müde nach einem Campingplatz Ausschau hielt. Doch würde das Paar in Aarburg für Ferien absteigen? «Nein, sicher nicht», antworten beide lächelnd. Eisenbahn und Autobahn seien zu nah.
Aufkommender Regen verdrängt das Rauschen des Feierabendverkehrs.

Eine junge Familie aus Grenoble sucht beim Camping-Restaurant Unterschlupf. Die Eltern bestellen Pizzen und erzählen, es zwei Nächte hier ausgehalten zu haben. Sie hätten mit den beiden Buben die Aarburger Festungsanlage besichtigt. Losgefahren war Familie Richard vor zwei Tagen, auf Motorrädern. Sie auf dem kleinen 125er, er mit dem Grösseren, die Buben im Seitenwagen. Ob den lauten Güterzügen, welche die Eisenbahnbrücke nachts passieren, stört sich die junge Familie nicht.

Die Sonne drückt bereits wieder durch die dicke Wolkendecke, als Balmer erklärt, dass der Campingplatz aber auch Dauermieter anziehe. Er selber habe einen Standplatz im südlichen Teil des Areals.

Die Standplätzer

Ganz in der Südspitze sitzen Elisabeth Zinniker und Erwin Castelberg beisammen. Ihre Ecke nennen sie «die schöne Ecke». Sie, die mit anderen Campinggästen so wenig wie möglich zu tun haben wollen, finden hier zwischen April und Oktober eine lieb gewonnene Heimat. Sogar das bisher nasse Sommerwetter dieser Saison kann ihre Laune nicht trüben. Schliesslich seien sie keine «Schönwetter-Campierer», wie die Standplätzer betonen. Die Abendsonne rückt die aus der «schönen Ecke» sichtbare Festung von Aarburg ins beste Licht. Die Kulisse, die grünen Hügelzüge und das Städtchen, hebt die Festungsanlage auf eine Naturbühne. Es seien Momente wie diese, die sie in Ferienstimmung versetzten, erklärt Elisabeth Zinniker, als sie die Festung leuchten sieht.

Warum ausgerechnet ein Standplatz auf diesem, von hoch frequentierten Verkehrsachsen umrahmten Areal? «Es ist die Nähe», verrät Elisabeth Zinniker. Eigentlich wohne sie in einem Haus im oberaargauischen Inkwil. Als ihr Mann vor Jahren schwer erkrankte, hätten sie sich nach einem Standplatz in der Nähe umgesehen. Sie wurden fündig in Aarburg. Seit ihr Gatte im Frühjahr gestorben ist, verbringt die Frau ihre Zeit vor allem «in der schönen Ecke».

Erwin Castelberg ist ein Campierer aus dem Bilderbuch: vom Wetter gegerbte Haut, vom Tabak vergilbter Schnauz, so sitzt er in seinem Campingstuhl und erzählt. Seine Steuern entrichte er zwar in Staufen, doch wohnt er mit seiner Frau Irma vor allem im Wohnwagen auf dem Wiggerspitz. Und da ist er geachtet, als auch gefürchtet. Der gebürtige Bündner hat gerne mal auf den Putz und gibt anderen Standplätzern gerne Übernamen.

«Am meisten mag ich schlechtes Wetter. Dann bleiben die Schönwetter-Campierer zu Hause», erklärt er. Der Mann, der in seinem Leben mehr Wohnwagen als Autos besass, fühlt sich besonders wohl unter Gleichgesinnten, die er unter Standplätzern a findet. Das ist es, was ihn auf dem Wiggerspitz hält. Und: «Man kennt sich halt und hilft einander.»

Von Baumaschinen vertrieben

Obwohl einfach - der Wiggerspitz bietet, was Camper benötigen. Und er ist günstig. Ein Platz für ein kleines Wohnmobil kostet 12 Franken, die Übernachtung für Erwachsene 6.50 und für Kinder 3 Franken.

Doch nicht immer standen dort, wo die Wigger in die Aare fliesst, Wohnwagen. Vor etwas mehr als zehn Jahren pachtete der Zelt- und Wohnwagenklub Olten die Landwirtschaftsbrache. Es war das Ende einer langen Suche nach geeigneten Standorten. Denn immer wieder verscheuchten die Baumaschinen die Camper von ihren Zeltplätzen, angefangen in Däniken, Olten und Niedergösgen während der Nachkriegszeit. 1996 schliesslich mussten die Oltner ihr Idyll auch auf der Aare-Insel bei Ruppoldingen aufgeben.

Es trommelt aufs Wagendach

Der Feierabendverkehr auf der Umfahrungsstrasse ist verstummt und die Züge werden weniger. Es dämmert auf dem Wiggerspitz und nach einigen Stangen Bier gehen die Camper schlafen. Auch für mich ist die Stunde der Wahrheit gekommen. Und ich frage mich: Kann man in diesem Lärm überhaupt schlafen?

Zwischen Wohnwagen mit holländischen, deutschen und französischen Nummernschildern parkiere ich den VW-Bus. Das ferne Rauschen der Autobahn begleitet mich in den Schlaf. An die lärmenden Güterzüge hat sich mein Gemüt bereits gewöhnt. Dann beginnt es wie aus Kübeln zu schütten. Nicht Verkehrslärm, sondern die aufs Autodach prasselnden Regentropfen rauben mir den Schlaf. Doch prasseln Regentropfen auch auf die schönst gelegenen Campingplätze dieser Welt.