Gaspreise
Wenn es Deutschland trifft: «Eine Rezession in der Schweiz wäre absehbar»

Deutschland aktiviert das Frühwarnsystem wegen drohenden Gasmangels. Stoppt Putin die Energielieferung, wird die Industrie hart getroffen.

Christoph Reichmuth
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Ruft zur Sparsamkeit auf: Deutschlands Wirtschaftsminister Habeck.

Ruft zur Sparsamkeit auf: Deutschlands Wirtschaftsminister Habeck.

Keystone

Öl, Gas und Kohle – Energieträger aus Russland schmieren den Motor des Industriegiganten Deutschland. Mindestens 200 Millionen Euro – wegen der steigenden Energiepreise inzwischen wohl deutlich mehr – überweist das Land täglich in die Kassen des russischen Präsidenten Wladimir Putin, der mit seinem Angriff gegen die Ukraine einen ungeheuerlichen Zivilisationsbruch vollzogen hat. Doch ein sofortiges Energieembargo lehnt die Bundesregierung seit Wochen ab. «Wenn von einem Tag auf den anderen diese Importe ausbleiben, würde das dazu führen, dass ganze Industriezweige ihren Betrieb einstellen müssten», sagte SPD-Kanzler Scholz am Sonntagabend.

Nichtsdestotrotz bereitet sich die deutsche Regierung auf ein abruptes Ende der russischen Energielieferungen ein. Für den Fall, dass Kreml-Herrscher Putin die Lieferungen einstellt, da unter anderem Deutschland nicht dazu bereit ist, die Rechnungen für die Energie, wie vom Kreml verlangt, in Rubel zu begleichen. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) aktivierte am Mittwoch wegen drohender Engpässe bei der Versorgung mit russischer Energie die Frühwarnstufe des «Notfallplans Gas» – die erste von drei Notfallstufen.

Noch ist die deutsche Wirtschaft dabei, Unternehmen auf Versorgungsengpässe und Produktionsunterbrechungen vorzubereiten. Kommt es zum Lieferstopp, tritt die dritte Notfallstufe in Kraft: Dann regelt der Staat die Versorgung mit Gas. Haushalte, soziale Einrichtungen, wie etwa Krankenhäuser, und Gaskraftwerke, die zugleich auch der Wärmeversorgung von Haushalten dienen, blieben weiterhin versorgt, die Energieversorgung der Industrie müssten notfalls kontingentiert werden. «Es gibt aktuell keine Versorgungsengpässe», versicherte Habeck. Er rief Industrie und Privathaushalte zu Sparsamkeit im Umgang mit Energie auf. «Jede eingesparte Kilowattstunde Energie hilft.»

Auch Euro-Staaten droht die Rezession

Die Industrie der grössten Volkswirtschaft Europas muss sich also auf harte Einschnitte einstellen. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin rechnet bei einem Lieferstopp mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von bis zu drei Prozent – bei gleichzeitig hoher Inflation wegen steigender Preise bei Importgütern, bei Energie und auf dem Wohnungsmarkt. Der deutsche Industrieverband BDI warnt, dass ein Stopp russischer Energieträger nicht sofort abgefedert werden könnte. «Bei umfassenden Lieferstörungen drohen Produktionsstopp mit unübersehbaren Folgen für Wachstum, Lieferketten und Beschäftigung», warnt BDI-Präsident Siegfried Russwurm gegenüber der «FAZ». Der Ökonom Volker Wieland, der im Gremium der «Wirtschaftsweisen» auch die Bundesregierung berät, fügt hinzu: «Das Risiko einer Rezession ist substanziell.»

Auch das DIW warnt vor weitreichenden Folgen für Europa, sollte die deutsche Wirtschaft durch Lieferengpässe in Turbulenzen geraten. Ein Embargo «beträfe auch andere Euro-Staaten, die dann in eine Rezession gerieten», stellt das DIW in einer kürzlich erschienen Studie fest. Auf Anfrage präzisiert Alexander Kriwluzky, Leiter der Abteilung Makroökonomie im DIW Berlin: «Selbstverständlich würden wir mit einem Wegfall der russischen Energielieferungen in Deutschland eine Rezession haben.» Die Frage sei, wie schwer diese sein würde. «Wir gehen von einer Rezession aus, die vergleichbar mit der Corona-Krise und der Finanz-Krise ist. Also schlimm, aber wirtschaftspolitisch handhabbar. Horrorszenarien und Massenarbeitslosigkeit schliesse ich aus, insofern es entsprechende stabilisierende Massnahmen der Wirtschaftspolitik gibt.»

Auch Christoph Sax, Chefökonom der Migros Bank in Zürich, sieht die Gefahr einer Rezession für Europa und für die Schweiz. Er ist jedoch der Ansicht, dass ein gemeinschaftliches Handeln der EU den Schaden eindämmen könnte: Staatliche Finanzspritzen, möglicherweise finanziert durch Gemeinschaftsanleihen, könnten die Folgen eines Embargos oder Lieferstopps verringern, sagt der 45-Jährige auf Anfrage. Zudem könne durch die forcierte Energiewende – Erneuerbare Energien, Errichtung von Flüssiggas-Terminals für US-Flüssiggas – rasch wieder Wachstum generiert werden, sodass der Einbruch unter dem Strich nur ein bis zwei Jahre stark spürbar wäre. Im Falle eines abrupten Lieferstopps rechnet allerdings auch Sax mit Produktionsstopps und Kostensteigerungen in der Industrie und mit Auswirkungen auf die Konsumentinnen und Konsumenten.

«Die verfügbaren Einkommen der Haushalte würden sinken, der Konsum nachgeben und die Arbeitslosigkeit steigen. Wie stark das der Fall wäre, hängt von staatlichen Stützungsmassnahmen ab.» Auch die Schweiz hätte mit ähnlichen Auswirkungen zu kämpfen, eine Rezession wäre ebenfalls absehbar, wenn auch in abgeschwächter Form, weil die Schweizer Industrie nicht derart von russischer Energie abhängig ist wie die deutsche Industrie. «Der Schweizer Aussenhandel mit der EU würde zwischenzeitlich aber stark leiden.»