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Plädoyer für einen kritischeren Umgang mit Kritik Lassen Sie es auch mal gut sein!

Der Kritiker kritisiert etwas zu Kritisierendes, doch wer kritisiert den Kritiker, und wozu soll das Ganze überhaupt gut sein? Ein Plädoyer für einen kritischeren Umgang mit Kritik.
Von Rebekka Reinhard
Nicht so, sondern anders: Kritik ist wichtig, aber sie kann auch zum Selbstzweck werden.

Nicht so, sondern anders: Kritik ist wichtig, aber sie kann auch zum Selbstzweck werden.

Foto: DPA

Sie kommt von Feuilletonisten, Politikern und Twitterern. Und von Horst Seehofer. Von Philosophen sowieso: die Kritik. Kritik ist überall. Sie bohrt ihren Stachel ins neoliberale oder weltpolitische System, infiltriert Institutionen und mischt Intimbeziehungen auf. Nicht mal im Schlafzimmer ist man vor ihr sicher. Wo Kritik ist, sind Krisen nicht weit. Wirtschaftskrisen, Ehekrisen, Sinnkrisen. Die Kritik verbietet der Krise, selbstständig vor sich hin zu wirken, indem sie sie frühzeitigst diagnostiziert, reflektiert, analysiert.

"Kritik" stammt vom griechischen Verb krino ab, das "trennen, auseinander setzen oder stellen" bedeutet. Wer kritisiert, zielt also darauf, Dinge oder Sachverhalte zu einem bestimmten Zweck voneinander zu unterscheiden. Theoretisch. Praktisch ist die kritische Leistung oft nur sehr schwer zu durchschauen. Erst recht im deutschen Hochfeuilleton.

"Die Leute stopfen sich Bratwürste in die Backen, überall spritzt Fett", schreibt dort die Wiener Autorin Stefanie Sargnagel. "Ich trinke drei Gläser Sekt und esse sieben Brötchen. Betäubt besteige ich den Hügel." In ihrem "Zeit"- Bericht über die Bayreuther Festspiele ist viel vom Essen die Rede und wenig von der Qualität musikalischer Leistungen.

Was will die Kritikerin sagen? Vielleicht: "Die Opernwelt ist in der Krise, mehr noch, dem Untergang geweiht. Sie ist blöd - finde ich. Weshalb Sarkasmus für mich das Mittel der Wahl ist." Der Sargnagel-Fan mag das lustig finden. Aber ist lustig schon gleich kritisch? Für Immanuel Kant (1724-1804) war Kritik einst ein deskriptives Unternehmen, welches sich der eigenen (Erkenntnis-) Grenzen bewusst ist. Der moderne Mensch hat daraus ein Spiel einseitiger und/oder wechselseitiger Bewertungen gemacht, das in der Immanenz der jeweiligen Filterblase verharrt.

Eben dies verbindet den Sargnagel'schen Befindlichkeitsdiskurs mit den Kettensätzen des "FAZ"-Journalisten Dietmar Dath: "[Derek] Parfit konnte besser schreiben als andere Moralisten - allein der glanzvolle Abschnitt in ›Reasons and Persons‹, der wissen will, ob es wirklich, wie ein naivabsolutistischer Rationalitätsbegriff wähnt, unter allen Umständen irrational sei, sich weniger um die fernere und mehr um die näher liegende Zukunft zu sorgen, liest sich in Zeiten, in denen Menschen guten Willens an der Aufgabe verzweifeln, Donald Trump ihre Klimasorgen mit der Aufforderung ›Denken Sie doch mal an übermorgen!‹ begreiflich zu machen, so brandaktuell wie provokant."

Wie bitte?! Ist die Kritik etwa selbst in der Krise? Hat sie den entscheidenden "Wendepunkt" (krisis) erreicht, von dem an es mit ihr nur noch bergauf oder bergab gehen kann? Die Kritik gibt es sowieso nicht. Sie hat - wie die Philosophie - viele Gestalten und Ausprägungen.

Kritik ist wichtig. Sie sorgt für intellektuelle Hygiene. Seit Sokrates ist sie Aufklärung über den Schein, seit Kant säubert sie den logischen Verstand von (Selbst-)Täuschung, Dogma und Bevormundung. Die lange Geschichte der Kritik ist auch immer eine Geschichte der Abgrenzung, Korrektur, Revision und Transformation. Aristoteles kritisierte Platon, Hegel Kant und Marx Hegel. Seit jeher dient Kritik dazu, sich der eigenen Position, eigener Erkenntnisse und Geltungsansprüche zu vergewissern.

Wie erfolgreich Kritik ist, hängt nicht an der (Pseudo-)Logik von Argumenten

Überdies kann und möchte Kritik nicht immer nur theoretisch belehren, sondern, wo möglich, auch praktisch verändern und emanzipieren. Kritik als intellektuelle Tugend, als Engagement: Darum ging es etwa der Philosophin Christine de Pizan (1364-1430), als sie die misogynen Hochschulprofessoren ihrer Zeit und die Darstellung von Frauen in literarischen Werken angriff.

Erst bei Hegel gilt: Philosophie ist Kritik, denn "Entzweiung ist", so Hegel, "der Quell des Bedürfnisses der Philosophie." Ab dem 20. Jahrhundert teilt sich die Philosophie das kritische Geschäft mit den Sozial- und Kulturwissenschaften. Ein Meilenstein moderner Kritik ist die "Kritische Theorie" Max Horkheimers (1895-1973) und Theodor W. Adornos (1903- 1969), die nicht einfach nur gesellschaftliche Missstände aufdecken, sondern den gesamten Bau der Gesellschaft von der Warte einer möglichen vernünftigen Zukunft beurteilen will.

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Kritik kann verändern. Theoretisch und praktisch. Kritik ist wichtig. Das Problem ist nur: Heute darf sich innerhalb wie außerhalb der Akademie jeder kritisch nennen, der aus aktuellem Anlass Urteile fällt. Positive und (häufiger) negative. Moderne Kritiker beschreiben nicht, sie bewerten. Sie unterscheiden das Falsche, Schlechte, Hässliche vom Richtigen, Guten, Schönen.

Wenn Horst Seehofer bei "Hart aber fair" zu Gast ist, nutzt er Sahra Wagenknechts Position, um das eigene Profil zu schärfen. Wie erfolgreich seine Kritik ist, hängt nicht an der (Pseudo-)Logik seiner Argumente.

Kritik muss überhaupt nicht logisch sein. Wo gilt: Inszenierung schlägt Inhalt und Atmosphäre Faktizität, kann sie so platt oder so komplex sein, wie es dem Urheber beliebt. Die öffentliche Aufmerksamkeit ist ihr - und ihm - sicher. Jetzt. Der Populist, der wissenschaftlich geschulte Dialektiker, der politisch Korrekte, der Verbreiter "postrationale(r) Verachtungskultur" (Jörg Bernardy), der "Dschungelcamp"- Bewohner. Sie alle wollen mit ihrer Kritik an anderen und/oder sich selbst gehört, gesehen, gelesen, anerkannt werden. Nur nicht kritisiert werden.

Nicht zu viel jedenfalls. Die Kritik an der Kritik darf diese bloß nicht harmlos aussehen lassen. Oder zu gefährlich.

Neben Erkenntnisgewinn, Selbstvergewisserung und Emanzipation hat Kritik einen weiteren Zweck: Therapie. Damit sie therapeutisch wirken kann, muss sie Denken, Fühlen und Handeln separieren. Kritik, die über (Selbst-)Täuschungen aufklären soll, muss einen privilegierten Standpunkt einnehmen, von dem aus sie Irrtümer und Irrwege reflexiv auflösen kann. Sich gleichermaßen innerhalb und außerhalb von Geist und Seele des Kritisierten bewegen. Von außen in den Patienten (Krise, Mensch oder Text) eindringen.

Wozu Kritik? Wozu Kritiker?

Nicht immer teilt der Patient das Erkenntnisinteresse des Therapeuten-Kritikers. Er ahnt, warum: Kritik muss nicht notwendig eine Transformation zum Besseren bewirken (wollen). Sie kann auch konservativ sein. Oder repressiv. Oder ideologisch. Oder völlig unverständlich.

Wozu Kritik? Wozu Kritiker? Ein Kritiker kritisiert, um zu unterscheiden. Das Gute vom Schlechten, das Falsche vom Richtigen, das Schöne vom Hässlichen. Um dies zu tun, muss er bewerten. "Kritisieren können wir etwas nur, wenn eine Norm verletzt wurde und es eine Instanz gibt, die für diese Verletzung verantwortlich gemacht werden kann", so die Philosophin Rahel Jaeggi. Sie kritisiert Ideologien und Lebensformen und hat hohe Ziele. Jaeggi plädiert engagiert für eine "immanente Kritik", die in einem steten Lernprozess geltende Normen transformieren soll; ein Lernprozess, der den Maßstab der Kritik "zugleich verändert und ... sich gleich" bleiben lässt.

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Das klingt gut und ist auch ziemlich raffiniert. Die Kritikerin Jaeggi baut auf vorhandene defizitäre Normen, in die ihre Kritik - selbstkritisch, selbstreflexiv - verstrickt ist, die sie aber qua Kritikerin aus der Krise herausführen, verändern, verbessern kann. Vermeintlich. Ist dieser Kritikerin, ist überhaupt allen Kritikern klar, dass sie, und sei es unwillentlich, immer schon recht haben (wollen)? Denn das tun sie. Bestenfalls aus ihrem korrektiven Ethos heraus, schlimmstenfalls aus reinem Machthunger.

Der anti-akademisch argumentierende Philosoph Armen Avanessian nennt die Kritik daher "das unangreifbarste aller Legitimationsverfahren". Er vergisst bloß zu erwähnen, dass sie es deshalb ist, weil sie von einem Kritiker - in diesem Fall von ihm selbst - stammt. (Sie steht nicht plötzlich wie ein Geist im Raum.) Im Vergleich zum Kritiker ist die Kritik verhältnismäßig unschuldig: Während sie sich noch als seriöse Rechtfertigungspraxis auszugeben und zu behaupten versucht, hat er die Schwelle zum Autoritären vielleicht schon überschritten.

Selbst wenn der Kritiker einsieht, dass seine Kritik immer potenziell kritikbedürftig ist, ist er vor Autoritarismus nicht gefeit. Er braucht nur zu sagen: "Ich weiß, dass ich nicht weiß ..." Schon gilt er als Autorität, die man respektieren, ja fürchten muss. Von der man sich zu therapieren hat.

In der Paarbeziehung liegt die wahre kritische Macht bei dem, der selbstreflektiert selbstkontrollierte Ich-Botschaften versendet: "Ich fühle mich dir so fern, Schatz. Wenn du schweigst, spüre ich diese innere Leere. Vielleicht täusche ich mich ... Verstehst du, was ich meine? Wie geht es dir damit?" In der Arbeitswelt ist man längst ähnlich sensitiv. Jede Instanz, jede Institution weiß heute um die Wirksamkeit der Selbstkritik.

Wer wissen will, wozu Kritik gut ist, muss sie ab und zu sein lassen

Überall setzt man auf interne Kritiker: Der Regelverstoß-kritische Compliance Officer kümmert sich um Reputationsgewinn und Imagepflege seines Unternehmens und legitimiert so intern dessen Fortbestand.

Der Kunstkritiker garantiert den Wert eines Bildes, der Literaturkritiker die Relevanz eines Romans - beide produzieren unendliche, für Fachfremde unzugängliche Textmengen, die Kritiker und Kritisiertes zu einem eindrucksvollen Nebelgebilde zusammenschließen, das wenigstens ästhetische Profis als unwiderstehlich legitim betrachten. Müssen.

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Wozu Kritik? Kritik unterscheidet, klärt auf, korrigiert, befreit. Kritik ist wichtig - solange sie verständlich bleibt. Solange sie legitim ist. Der Kritiker, der die Legitimität seiner Kritik und seiner selbst aber nur immer kritisch begründet, wird selbst zur Krisenerscheinung. Dann fließen Krise, Kritik und Kritiker unterschiedslos ineinander über und bilden eine sinnund zwecklose Tautologie, die nichts verändert und nichts verbessert. Am Ende teilen der schrill keifende Twitterer, der sanft stichelnde Ehepartner, der politische Extremist und der antiakademisch ur teilende Akademiker das gleiche Schicksal: Rechthaberei. Unmenschlichkeit.

Doch es gibt einen Ausweg. Die Lösung des Problems ist einfach. Viel einfacher, als man denkt. Um sich aus seiner kalt wertenden Befangenheit hinauszunavigieren, bedarf das kritische Subjekt keiner "poetischen Arbeit an sich selbst", wie Avanessian vorsichtig kryptisch meint.

Es muss auch nicht, wie der französische Soziologe und Konstruktivist Bruno Latour fordert, seinen kritischen Geist neu ausrichten, hin zu "matters of concern", "Dingen, die uns etwas angehen", wie Katzen, Steine oder Krüge; "gemachten" Dingen, aus denen wir - kritisch - etwas "machen" können. Die Welt ist voller Objekte, Tatsachen, Erfahrungen.

Zu vieles liegt durcheinander, passt nicht zusammen. Was soll man anschauen, lesen, hören, empfinden? Und wie? Unsere Überforderung verlangt nach Orientierung. Sie schreit nach Unterscheidung. Nach Kritik. "Wir müssen lernen, mehr zu sehen, mehr zu hören und mehr zu fühlen", schrieb dagegen Susan Sontag (1933-2004) in ihrem berühmten Essay "Against Interpretation". Sie argumentierte dafür, Kunstwerken durch Konzentration auf ihre Form mehr Geltung, mehr "Leuchtkraft" zu verleihen - aber eben auch wieder: durch Kritik.

Viel zu kompliziert. Die Lösung ist einfach: Epoché. Ab und zu eine kleine Urteilsenthaltung. Zäsuren im Werten setzen.

Einatmen. Ausatmen. Den Geist leeren. Wer wissen will, wozu Kritik gut ist, muss sie hin und wieder sein lassen. Wer legitime Kritik üben will, muss sie sich dann und wann ganz aus dem Kopf schlagen. Eine Münze werfen. Lachen. Lieben.

Durchatmen. Und dann: weiter kritisieren. Die nächste Krise kommt bestimmt.

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