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SGL Carbon Rolle vorwärts

Unter Vorstandschef Robert Koehler hat sich SGL Carbon zu einem Vorzeigekonzern entwickelt. Dann aber stürzte der Kurs dramatisch ab. Ist der hochgelobte Graphithersteller inzwischen nur noch Mittelmaß?

Irgend etwas scheint hier nicht zu stimmen, irgend etwas ist hier ungewohnt.

Nur zwei kleine, unscheinbare Schilder weisen zur Konzernzentrale, versteckt in einem großbürgerlichen Altbau am Wiesbadener Rheinufer. Keine Pförtner, keine Schranken, keine Videokameras oder Besucherausweise.

Der Weg zum Eingang führt durch einen kleinen Park, vor der Tür ein einsames Fahrrad. Den Summer betätigt die Sekretärin des Vorstandschefs. Im Haus herrscht die gedämpfte Atmosphäre einer gediegenen Anwaltskanzlei. Durch die schräggestellten Fenster dringt das Rauschen der Bäume, vereinzelt läutet ein Telephon. Wir sind zu Besuch in der Holding eines global tätigen Konzerns.

Die SGL Carbon AG, 1992 entstanden aus der Fusion der Hoechst-Tochter Sigri und des US-Konzerns Great Lakes Carbon (SGL), ist der weltgrößte Hersteller von Kohlenstoff- und Graphitprodukten. Das Kerngeschäft sind Graphitelektroden zur Herstellung von Elektrostahl. Der Umsatz liegt in diesem Jahr bei rund 2,2 Milliarden Mark. Auch das sorgt eigentlich für kein allzu profiliertes Image.

Seltsam nur, daß der vergleichsweise kleine MDax-Wert bei internationalen Investoren zu den führenden und vielbeachteten Unternehmen aus deutschen Landen zählt. SGL notiert an der New Yorker Börse, über zwei Drittel der Aktien gehören Anlegern und Fonds rund um den Globus.

Dabei präsentiert sich der Konzern gerade am Aktienmarkt derzeit wenig glanzvoll. Binnen Jahresfrist hat sich der Kurs des einstigen Börsenstars glatt halbiert. Schwer lasten die Unwägbarkeiten eines schwebenden Kartellverfahrens in den USA auf ihm. Auch im eigentlichen Geschäft lief es 1998 erstmals nicht mehr so gut wie in den Jahren zuvor. Die hochgelobte SGL, so scheint es, fällt zurück ins Mittelmaß.

Und dennoch – große Finanzhäuser lassen den Wert unverändert auf ihren Kauflisten. So etwa Merrill Lynch, genauso wie Credit Suisse First Boston oder Dresdner Kleinwort Benson. Und Martin Wirth von Sal. Oppenheim sieht in den derzeitigen Kursen gar ein "Schnäppchen".

Wo also steht SGL? Ist das Unternehmen trotz aller Börsenturbulenzen noch immer jenes "absolute Spitzenunternehmen", wie es die Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz einmal nannte? Wer leitet einen Konzern, in dessen Führungsstrukturen das britische Wirtschaftsblatt "Economist" gar ein Baumuster für das "neue deutsche Unternehmen" erkennt? Und was verschafft ausgerechnet einem Hersteller von Kohlenstoff derartig viel internationale Beachtung?

Die SGL Carbon AG, so wie sie heute existiert, ist vor allem das Werk eines Mannes: des 49jährigen Robert Koehler. Ein ungeduldiger, bulliger Powerman, einer, der sich nicht als angestellter Manager, sondern als Unternehmer versteht. Ein langgedienter Hoechst-Manager, der die Welt nicht aus einem Frankfurter Vorort kennt, sondern 15 Jahre im Ausland lebte. 1989 holte ihn der damalige Hoechst-Chef Wolfgang Hilger zurück und übertrug ihm die Leitung der Zentralen Direktionsabteilung.

Der Chef wirft mal eben alles um

Doch einen wie Koehler füllte der administrative Planerjob nicht aus. Zwei Jahre später ließ er sich von seinem Mentor Hilger zur damals notleidenden Hoechst-Tochter SGL entsenden. Von da an ging es rund bei der Graphitfirma. Unbekümmert von den alten Strukturen einer eher gemächlichen Graphitindustrie warf Koehler um und baute neu. Der SGL-Chef

  • implementierte eine extrem flache Hierarchie mit nur zwei Entscheidungsebenen,
  • schuf eine schlanke, rechtlich selbständige Holding mit vier Vorständen und 20 Mitarbeitern,
  • richtete das Unternehmen frühzeitig auf die Erfordernisse des internationalen Kapitalmarkts aus,
  • setzte ehrgeizige Renditeziele,
  • reformierte das traditionelle Gehaltssystem vom Vorstand bis zum Arbeiter,
  • installierte ein multinationales Management.
Nur ganz vorn, so Koehlers frühe Vorgabe, sollte SGL auf den Weltmärkten zu finden sein. 90 Prozent des Umsatzes macht der Konzern inzwischen in Geschäftsfeldern, in denen SGL die weltweite Nummer eins oder zwei ist.

Viele haben in den vergangenen Jahren Vergleichbares begonnen. Doch nur wenige Unternehmenslenker haben ihr Ziel so entschlossen angesteuert wie Robert Koehler und seine Crew.

Vom Hoechst-Berater McKinsey übernahm der vormalige Chefplaner die Idee einer globalen Organisation mit selbständigen Geschäftsbereichen. Doch anders als bei Hoechst unter Hilger befreite Koehler seine Business Units von den Fesseln eines Konzerns. Unter dem Dach der Holding entstanden regelrechte Unternehmen im Unternehmen.

Zusammen mit seinem Konzernbaumeister Joachim Heins-Bunde entwickelte Koehler einen eher kollegialen und unprätentiösen Führungsstil. Den Weg zur Entscheidung bei SGL beschreibt Koehler als einen "dialektischen Meinungsbildungsprozeß". Die augenfälligste Besonderheit: Zwischen dem Vorstand und der nächsten Ebene gibt es keine unmittelbare hierarchische Verbindung.

Weil das niemand so recht auf Anhieb versteht, greift Robert Koehler zu einem Blatt. Er zeichnet ein Rechteck für den Vorstand und darunter sechs Quadrate für die Business Units. Den Zwischenraum schraffiert er mit vielen kleinen Linien. "Das", sagt der Chef grinsend, "ist unsere hierarchische Grauzone."

Im Topmanagement von SGL gibt es keinen Chef, der sagt, wo es langgeht. Kein Vorstandsmitglied ist für einen Bereich allein verantwortlich, keiner im Gremium kann irgend etwas allein entscheiden. Kein einziger Vorstand und kein einziger Geschäftsführer einer Business Unit besitzt ein alleiniges Weisungsrecht, und das gilt auch für den Chef. Beschluß- und weisungsfähig sind die obersten Führungsgremien jeweils nur als Ganzes.

Management by discussion

So beschränkt sich der Vorstand auf die jährlichen Zielvereinbarungen mit den Units, auf das Managen des Portfolios und auf den engen Kontakt zum Kapitalmarkt. Kommentar eines Aufsichtsrats: "Dieser Vorstand hat durch Loslassen gewonnen."

Die Meinungsbildung im Hause SGL ist ein aufwendiger Prozeß, und das will zu einem eher energisch zupackenden Mann wie Robert Koehler gar nicht so recht passen. Einer wie er hält die Zügel gern straff. "Zwei Begriffe haben mich geprägt", sagt er, "loyality und leadership."

Doch auch das hat Koehler in seiner Zeit bei Hoechst gelernt: Das klassische "Oben-Unten-Prinzip" hat sich überlebt. "Kommunikation", sagt Koehler, "ist die wichtigste Managementaufgabe überhaupt." Und weil sich das leicht sagt und schwer vollziehen läßt, schickt er die gesamte Führungsmannschaft auf teure Seminare beim Genfer Kommunikationstrainer Heinz Goldmann.

Koehler will ein Diskussionsklima schaffen, aber vielen fällt es schwer, die alten hierarchischen Verhaltensmuster zwischen Chef und Mitarbeiter zu vergessen. Sein Vorstand versteht sich als beratender Gesprächs- partner. Doch wie frei ist die Diskussion tatsächlich? Noch immer gibt es Mitarbeiter, die sich einen starken Chef wünschen, einen, der ihnen die Entscheidung abnimmt.

Robert Koehler ist einer, der in Lernkurven denkt, und diese Kurven, so glaubt er unverdrossen, gehen meist nach oben. Er hat die gesamte weltweite Führungscrew durchgerührt und neu verdrahtet. SGL ist eines der ersten wirklich multikulturellen Unternehmen; von den weltweit 50 Topmanagern stammen gerade mal 20 Prozent aus dem deutschen Sprachraum.

Allein im obersten Führungsgremium kommen zwei von vier Vorständen aus dem Ausland: der Italiener Bruno Toniolo, ein enger Vertrauter des Chefs; und der Amerikaner Wayne Burgess.

Die Holding sitzt in Wiesbaden, als eine Aktiengesellschaft nach deutschem Recht, doch eines ist SGL mit Sicherheit nicht: ein deutsches Unternehmen. 85 Prozent des Umsatzes und zwei Drittel der Produktion liegen jenseits der Grenzen. Die Geschäftssprache ist Englisch, und der Vorstand nennt sich Executive Committee.

Einer wie Robert Koehler, der fast sein gesamtes Berufsleben in England verbrachte, mit einer Engländerin verheiratet ist und noch viele Freunde und Bekannte in London hat, sieht so manches hierzulande aus einer etwas anderen Warte als der deutschen. Da stellt sich der gebürtige Münchner schon mal brummig vor die Spitzen der CSU auf ihrem Jahrestreffen in Wildbad Kreuth. Dann schimpft er über Steuern, Renten, Arbeitsmarkt und Standort. "Brauchen wir 16 Bundesländer?" will er wissen, und warum "ein so kleines Land wie Deutschland" überhaupt 670 Abgeordnete bezahle.

Gern poltert Koehler mit münchnerisch gefärbter Stimme los, bläst den Rauch seiner Zigarre in die Luft – und hält sich dennoch alle Türen offen. "Mitbestimmung in einem globalen Konzern ist ein Anachronismus", schimpft er, doch der Verbindungsdraht zu den Gewerkschaften bleibt gespannt. Mit Koehler streite man sich "hart, aber fair", berichtet ein Aufsichtsrat der IG Metall.

Und wird es ihm dann doch zu bunt, dann droht er sogar mit dem scheinbar Undenkbaren: einer Verlegung des Firmensitzes in arbeitgeberfreundlichere Staaten. Das Haus am Wiesbadener Rheinufer sei nur angemietet, die dortige Holding ein "Zelt", das sich jederzeit zusammenlegen und woanders wieder aufbauen ließe.

Jeder zweite Mitarbeiter besitzt SGL-Aktien

Robert Koehler (Motto: "Erfolg muß positiv besetzt sein") ist kein Mann von geringem Selbstbewußtsein. Seine SGL lenkt er wie ein Vollblutunternehmer, und das gleiche unternehmerische Denken fordert er von seiner Mannschaft. "Wir brauchen keine Manager mit goldenen Fallschirmen", sagt Koehler, "sondern solche, die sich als Eigentümer verstehen."

Zeitgleich zum 1995 erfolgten Börsengang koppelte er einen Teil der Bezüge von Vorstand und Management an den unternehmerischen Erfolg. SGL zahlt seinen Managern vergleichsweise niedrige Fixgehälter und vergleichsweise hohe Leistungsprämien. Allein für den Vorstand und das weltweite Topmanagement gibt es drei verschiedene Incentiveprogramme. Dem internationalen Managementteam gehören inzwischen rund 8 Prozent des gesamten Unternehmens.

Ab Januar erhalten auch die tariflich bezahlten Angestellten und Arbeiter neben dem festen ein variables Gehalt, dessen Höhe sich über zuvor festgelegte Ziele definiert. Schon jetzt besitzt jeder zweite deutsche Mitarbeiter Aktien, und auch die Sekretärin erkundigt sich mittags nach dem Kurs.

Frühzeitig hatte SGL-Vormann Koehler damit begonnen, im eigenen Unternehmen eine Aktienkultur aufzubauen. Auf den vielen Roadshows zu Banken und Investmentfonds (Koehler: "Ich muß die Firma vermarkten, nicht die Produkte") erzählt er in 30 Minuten die SGL-Story, klar und strukturiert.

Die Ein-Mann-Schau läuft meist reibungslos; wenn es doch mal ein paar kritische Fragen gibt, kann Koehler schnell austeilen. Dann werden auch Analysten großer Häuser niedergebügelt. "Ich glaube", wird der Fragende beschieden, "Sie haben das noch immer nicht so ganz verstanden."

Der Mann ist empfindlicher geworden. Ausgerechnet Robert Koehler, für den Begriffe wie Shareholder Value und Kapitalmarkt zu den meistgebrauchten Vokabeln gehören, muß seit über einem Jahr dem Fall seiner Aktie fast hilflos zusehen.

Der einstige Shooting-Star ist an der Börse zum Underperformer mutiert, doch ganz gerecht ist das nicht: SGL schaffte in den ersten neun Monaten des Jahres immerhin eine Umsatzrendite von 18 Prozent und eine Eigenkapitalrendite von über 20 Prozent. Geholfen hat es wenig. Das noch immer nicht gelöste Kartellverfahren in den USA zieht den Kurs bleischwer nach unten.

Zu abhängig von einer Cash Cow

Aber auch das eigentliche Geschäft wirkt derzeit wenig kurstreibend. Das Betriebsergebnis im Bereich Spezialgraphite ist im zweistelligen Bereich rückläufig. Erstmals seit Jahren wird 1998 das Ergebnis je Aktie mit rund 8,50 Mark etwa 15 Prozent unter dem Vorjahreswert liegen.

So gibt es noch immer viel zu tun. 80 Prozent der SGL-Gewinne speisen sich aus dem Elektrodengeschäft, und das ist dann doch ein wenig riskant. Die Graphitelektrode ist eine Cash Cow mit hohem Cash-flow, aber eben auch ein reifes und damit gefährdetes Produkt. Die weltweite Stahlbranche, der Hauptabnehmer für das Kernprodukt, erlahmt. 1998 liegt der Elektrodenabsatz rund 6 Prozent unter dem des Vorjahres.

Schneller als zunächst geplant wird nun eines der weltweiten Elektrodenwerke dichtgemacht. Gemeinsam mit dem amerikanischen Hauptwettbewerber Ucar nimmt SGL rund 8 Prozent der weltweiten Kapazität aus dem Markt. Das bringt Entlastung für die kommenden Jahre, doch die Kosten hierfür drücken 1998 zusätzlich auf den Gewinn.

Seit sechs Jahren leitet Robert Koehler nun die SGL Carbon AG. Vieles in seinem Managementstil erinnert an Jürgen Dormann bei Hoechst. So verschieden die beiden als Menschen vordergründig erscheinen – hier der asketische Denker, dort der bayrisch-barocke Aktivist –, so ähnlich sind sie sich in der Radikalität, mit der sie ihre Unternehmen umwälzen.

Und auch Robert Koehler hat damit begonnen, die SGL noch einmal zu drehen. Das Ziel: Mit dem hohen Cash-flow aus dem traditionellen Massengeschäft der Graphitelektrode soll SGL in benachbarte Märkte diversifizieren und damit unabhängiger werden von der Kernsparte. Spätestens in drei Jahren soll die Hälfte des Umsatzes aus High-Tech-Bereichen wie Karbonfasern oder Spezialgraphiten kommen. Der Umsatz, so Koehlers "Vision 2000 +", läge dann bei über drei Milliarden Mark.

Ganz aus eigener Kraft ist das nicht zu schaffen: 1997 übernahm der Konzern den britischen Carbonfaserhersteller RK Carbon und den kalifornischen Verbundwerkstoffproduzenten Hitco. In Japan stehen die Verhandlungen über ein Verbundwerkstoff-Joint-venture gerade kurz vor dem Abschluß.

Weitere Übernahmen in den beiden neuen Geschäftsbereichen Technik und Faser sind fest geplant. Und im Zukunftsmarkt Brennstoffzelle, für die auch der Rohstoff Karbon benötigt wird, laufen Gespräche mit allen großen Herstellern.

Noch erreicht SGL in den neuen Geschäften nicht die selbstgesteckten Renditeziele, noch leidet gerade das Geschäft mit Spezialgraphiten unter der Krise der Halbleiterindustrie.

Doch der Start ist geglückt. Im Geschäftsbereich Technik hat sich das operative Ergebnis allein im laufenden Jahr mehr als verdoppelt. "Der Umbau kommt zügig voran", lobt das Investmenthaus Merrill Lynch.

Läuft alles wie geplant, dann ist Koehlers SGL schon bald der einzige Karbonkonzern der Welt mit einer starken High-Tech-Sparte. Das traditionelle Industriegeschäft hat dann deutlich an Bedeutung verloren.

Und wie es danach weitergeht, das hat Robert Koehler zumindest schon angedacht. Das Industriegeschäft ließe sich abspalten, das Werkstoffgeschäft mit Hilfe eines Zusammenschlusses zu globalen Dimensionen aufbauen. Das wäre dann nach Sanierung und Diversifizierung der Konzernumbau Nummer drei.

Und da ist Robert Koehler dem Jürgen Dormann dann doch wieder ziemlich ähnlich.

Stephan Schlote

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