• Über Marlowes
  • Kontakt

Stilkritik (94)  | Soll „Mitbestimmung“ beim Denkmalwert und Erhaltungswürdigkeit von Bauwerken eine Rolle spielen? Wer sie fordert, stellt die Deutungshoheit behördlicher und wissenschaftlicher Autoritäten infrage. Neben die bekannten Begehrlichkeiten von Investoren treten Einflusskräfte aus der Bevölkerung, wenn es um den Erhalt oder Abriss von Architektur geht – ein Modellfall aus Erfurt weist auf neue Strategien.

Halle / Neustadt mit dem Kindergarten Buratino aus dem Projekt „Zwei deutsche Architekturen“ (Bild: Gerald Große)

Es war zu erwarten: Selbst das heruntergekommene Einkaufszentrum im Plattenbaugebiet sähen Anwohner lieber bewahrt als abgerissen. Auch neun weitere Bauwerke aus der DDR sind nach Meinung der Erfurter Öffentlichkeit erhaltungswürdig. Protest wird laut. Sentimentalität dürfe nicht Grundlage der Entscheidung über den Denkmalwert sein, schon gar nicht, wenn es um Architektur aus der DDR geht. Auch die Empörung ist verständlich.

An der voting wall konnten Besucher den Wert von DDR-Architektur diskutieren und über Erhaltung oder Hinfälligkeit einzelner Objekte abstimmen. (Bild: Landeshauptstadt Erfurt/Dirk Urban)

An der voting wall konnten Besucher den Wert von DDR-Architektur diskutieren und über Erhaltung oder Hinfälligkeit einzelner Objekte abstimmen. (Bild: Landeshauptstadt Erfurt/Dirk Urban)

Entbehrlich oder erhaltungswürdig?

Von Ende Juli bis September 2020 wurde die Erfurter Stadtöffentlichkeit zur Abstimmung über die architektonischen Errungenschaften der späteren DDR in der Stadt gebeten. Zehn Bauten standen zur Disposition, allesamt Objekte, die nach dem Mauerbau entstanden – modern, seriell, industriell geprägt. Und so klebten unter Bildern von Kindergärten, Kliniken und Wohngebieten, in veränderlichen Anteilen, grüne Punkte für „Erhalten“ und rote Punkte für „Kein Erhaltungswert.“ Auch wenn die ein oder andere „Platte“ weniger Sympathien hervorrief als besondere Einzelbauten, das Stimmungsbild war eindeutig. Bei jedem Bauwerk überwog das positive Urteil. Selbstverständlich haben Erinnerungen und eigene Erfahrungen, welche die Besucher der kleinen Schau mit den einzelnen Gebäuden verknüpfen, die Abstimmung beeinflusst. Sie sind mit den Bauten groß geworden, haben die Errichtung und den Niedergang der Häuser erlebt – Häuser, die jahrzehntelang Teil ihrer täglichen Sehgewohnheiten waren. Doch auch soziale Kultur, politische Neigung und der Widerspruch zur verwaltungsmäßigen Festsetzung historischer Bedeutung prägten die Entscheidungen.1) Dazu gehört auch die Befürchtung, dass aufgrund des baulichen Entwicklungsdrucks erneut Bestandteile der Stadtbaugeschichte für einen heraufbeschwörten architektonischen Fortschritt geopfert werden. Fragen zur Umweltverträglichkeit und über Nachhaltigkeit stehen im Raum und angesichts explodierender Baukosten auch Zweifel an der Wirtschaftlichkeit von Abriss und Neubau. Dem gegenüber steht das scheinbar objektive, auf wissenschaftlichen Kriterien basierende Urteil der Denkmalpfleger.

Denkmalwerte, Erinnerungswerte und der Kampf um Deutungshoheiten

Würdigung der Architektur, Ökonomie, Nachhaltigkeit, Erinnerung an die heute fehlenden Kulturangebote – die Gründe, für einen Erhalt der Bauten zu stimmen, sind vielschichtig. (Bild: Landeshauptstadt Erfurt/ Dirk Urban)

Würdigung der Architektur, Ökonomie, Nachhaltigkeit, Erinnerung an die heute fehlenden Kulturangebote – die Gründe, für einen Erhalt der Bauten zu stimmen, sind vielschichtig. (Bild: Landeshauptstadt Erfurt/ Dirk Urban)

Eine Überraschung gab es dann doch. Als der Modellversuch, eine Kooperation von Denkmalschutzbehörde der Stadt Erfurt und der Bauhaus Universität Weimar, mit einem Podiumsgespräch zu Ende ging, war das Interesse größer als erwartet. Das Deutsche Nationalkomitee für Denkmalschutz, der BDA, die Thüringer Architektenkammer, sogar die Berliner Senatsverwaltung und das Landesdenkmalamt Berlin verfolgten die Auswertung und beteiligten sich an der Auseinandersetzung über Denkmalwerte, Kategorisierungen und die Rolle der Öffentlichkeit als Seismograph für die historische Bedeutung von Architektur. Doch was als Denkanstoß gedacht war, geriet rasch zum Gerangel um die Kompetenz im Entscheidungsfall. Mit elitärem Herrschergestus wurde die zur Begründung des Denkmalwerts kondensierte Untersuchung über bauliche, historische und künstlerische Bedeutung über die Relevanz des öffentlichen Anliegens gestellt – behördliche Expertise als Bollwerk gegen den Denkmalpopulismus.

Dass sich das Experiment der wenig erquicklichen Auseinandersetzung um Mitbestimmung in denkmalpflegerischen und stadtplanerischen Prozessen stellte, ist das eigentliche Verdienst des Erfurter Versuchs. Denn obwohl der Europarat bereits 2005 die Demokratisierung des Kulturerbes durch mehr Partizipation beschloss,2) fällt das Urteil über Beteiligung der Öffentlichkeit in der Denkmalpflege bescheiden aus. Stattdessen werden Bürgerinitiativen zur Rettung historischer Gebäude als Beteiligung der Öffentlichkeit an denkmalpflegerischen Vorgängen gefeiert. Gesellschaftliches Engagement füllt Leerstellen, die Ressourcen-, Personal- und Geldknappheit erst hinterlassen haben. Echte Mitbestimmung als Beteiligung der Öffentlichkeit an den Entscheidungs- und Handlungsprozessen der verantwortlichen Institutionen sieht jedoch anders aus. Anregung gibt es genug: Die UNESCO hatte 2011 mehr öffentliche Beteiligung in Denkmalfragen eingefordert,3) ICCROM veröffentlichte 2015 Richtlinien für mehr Partizipation,4) in Großbritannien oder den Niederlanden spielen zahlreiche Projekte öffentliche Beteiligung im Sinne eines „lebendigen Erbes“ durch.5) Stadtplanerische Modelle bieten seit den 1970er Jahren brauchbare Techniken zur Bürgerbeteiligung an, hier kann auch die Denkmalpflege profitieren. Andere Theoriekonzepte haben längst gezeigt, wie sich Erbe als soziale Konstruktion, Erinnerungskultur und persönliche Empfindung als Teil des kollektiven Gedächtnisses wissenschaftlich objektivieren und betrachten lässt. Anthropologie und Soziologie halten Werkzeuge bereit, welche die Denkmalpflege bereichern können. Diesen Themen sollten sich Denkmalpfleger, sowohl in den Behörden, als auch in den Hochschulen, widmen.

Diskutierten Denkmalpflege als öffentliche Angelegenheit: Dr. Ulrike Wendland, Leiterin der Geschäftsstelle des DNK, Holger Reinhardt, Landeskonservator des Freistaat Thüringen und Dr. Mark Escherich, UD Erfurt und Bauhaus Universität Weimar, Initiator des Modellversuchs. (Bild: Landeshauptstadt Erfurt/ Dirk Urban)

Diskutierten Denkmalpflege als öffentliche Angelegenheit: Ulrike Wendland, Leiterin der Geschäftsstelle des DNK, Holger Reinhardt, Landeskonservator des Freistaat Thüringen, und Mark Escherich, UD Erfurt und Bauhaus Universität Weimar, Initiator des Modellversuchs. (Bild: Landeshauptstadt Erfurt/ Dirk Urban)

Denn eines hat das Erfurter Gespräch gezeigt: Denkmalzuschreibungen müssen in der Zukunft als Aushandlungsprozesse und als Kompromiss – im besten Fall als Konsens – zwischen fachlicher Expertise und öffentlicher Wertung geführt werden. Gelingt das nicht, wird die Denkmalpflege den Streit um die Aneignung und Pflege des baulichen Erbes verlieren. Das Denkmal als Zeugnis elitärer Liebhaberei und der Denkmalschutz als administrative Hürde haben keine gesellschaftliche Bedeutung. Damit Denkmalpflege tatsächlich zur öffentlichen Angelegenheit wird, muss der fachliche Wissensvorsprung an die Bevölkerung weitergegeben werden und darf nicht die Entscheidungshoheit der Behörden legitimieren. Debatten um Bürgerbeteiligung in der Denkmalpflege sind notwendig. Wenn der Weg über solche Modellversuche oder über die Diskussion der Rechtfertigung emotionaler Bürgermeinung geebnet wird, bitteschön. Noch haben Bürgerschaft und Öffentlichkeit ein großes Interesse daran hat, sich in Fragen der Denkmalzuschreibung und bei der Pflege des Schutzgutes zu engagieren. Noch!


1) Hierzu hat John Schofield bereits 2014 eine umfangreiche Studie vorgelegt. Vgl. Schofield, John (Hrsg.): Who Needs Experts? Counter-mapping Cultural Heritage. Farnham, 2014.

2) Europarat (Hrsg.): Rahmenkonvention über den Wert des Kulturerbes für die Gesellschaft. Faro, 2005. Englischer Originaltext des noch offenen Ratifizierungstextes abrufbar unter: https://www.coe.int/en/web/conventions/full-list/-/conventions/rms/0900001680083746.

3) „facilitate the participation of communities, practitioners, cultural actors, NGOs, non-profit making organizations, experts, and centres of expertise.“ UNESCO: Records of the General Conference, 36th session, Paris, 25 October – 10 November 2011, v. 1: Resolutions. Paris, 2012, S. 46. Auch wenn 2011 der Fokus vor allem auf der Bewahrung des immateriellen Erbes lag war die Resolution richtungsweisend. Die Bestimmung ging davon aus, dass gesellschaftlicher Rückhalt für denkmalpflegerische Entscheidungen über die Einbeziehung der Öffentlichkeit zu erreichen ist. Vgl. ebd., S. 54-62.

4) International Centre for the Study of the Preservation and Restoration of Cultural Property (ICCROM) (Hg.): People-Centred Approaches to the Conservation of Cultural Heritage: Living Heritage. Rom, 2015.

5) Vgl. u.a. Landorf, Chris: A Framework for Sustainable Heritage Management: A Study of UK Industrial Heritage Sites. In: International Journal of Heritage Studies, 15 (6), S. 494-510; Schofield, John (a.a.O.); Taylor, Ken: The Historic Urban Landscape paradigm and cities as cultural landscapes. Challenging orthodoxy in urban conservation. In: Landscape Research, 41(4), S. 471-480.