Amokfahrt: Sechs Menschen in lebensbedrohlichem Zustand

Nach der Amokfahrt von Berlin sichert die Polizei Spuren an dem zerbrochenen Schaufenster, in dem das Auto steckt. Foto: dpa/Fabian Sommer
© dpa/Fabian Sommer

Bei einer Amokfahrt ist am Mittwoch eine hessische Lehrerin getötet worden. Sechs weitere Menschen befinden sich am Tag darauf weiterhin in Lebensgefahr.

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BERLIN. Nach der Todesfahrt in Berlin befinden sich laut Polizei weiterhin sechs Menschen in einem lebensbedrohlichen Zustand. Neben der toten Lehrerin seien nach neuesten Informationen 29 Menschen verletzt worden, sagte ein Polizeisprecher am Donnerstag. Dazu zählten auch Menschen, die unter Schock stünden.

Neben den Betroffenen aus der Gruppe der Zehnjährigen, mit der die getötete Lehrerin aus Hessen in Berlin unterwegs war, gebe es derzeit 14 weitere Betroffene. Weitere Schwankungen bei den Zahlen sind nach Angaben von Polizei und Feuerwehr wegen der dynamischen Entwicklung möglich.

Von der Schülergruppe aus Bad Arolsen befinden sich laut Polizei noch sieben Jugendliche und ein Lehrer im Krankenhaus. Nach Angaben der Feuerwehr (Stand Mittwochabend) wurden insgesamt 22 Menschen in Berliner Krankenhäusern im Zusammenhang mit der Todesfahrt behandelt. "Wir selbst haben vor Ort 17 Menschen versorgt und in Krankenhäuser gebracht", sagte ein Sprecher am Donnerstag. Davon seien sechs Betroffene lebensbedrohlich und drei schwer verletzt gewesen. Weitere Menschen hätten sich eigenständig in Kliniken gemeldet.

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Polizei und Rettungsdienste sichern das Areal nach einem Zwischenfall.
Rettungskräfte helfen einer verletzten Person, nachdem ein Auto in eine Menschenmenge gefahren ist.
Polizei und Rettungsdienste sichern das Areal nach einem Zwischenfall.
Polizei und Rettungsdienste sichern das Areal nach einem Zwischenfall.
Ein gepanzertes Polizeifahrzeug steht am Sophie-Charlotte-Platz.
Ein Auto steckt in einer Schaufensterscheibe nach einem Zwischenfall.
Polizei und Rettungsdienste sichern das Areal nach einem Zwischenfall.
Ein Auto steckt in einer Schaufensterscheibe nach einem Zwischenfall.
Markierte Spuren sind einem tödlichen Zwischenfall, in der Näher der Gedächtniskirche, auf dem Pflaster zu sehen.
Auch ein Rettungshubschrauber war im Einsatz.

Ein Großteil der Betroffenen sei verletzt worden, als der Fahrer an der Ecke Ku'damm/Rankestraße in die Menschengruppe gefahren sei. Weitere Verletzte habe es gegeben, als der Wagen knapp 200 Meter weiter auf an der Ecke Tauentzienstraße/Marburger Straße im Schaufenster einer Parfümerie landete.

Nach dem jähen Ende der Klassenfahrt einer hessischen Schülergruppe in Berlin hat Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) von einer Amoktat gesprochen. "Die grausame Amoktat an der Tauentzienstraße macht mich tief betroffen", schrieb der SPD-Politiker am Mittwochabend bei Twitter. "Die Reise einer hessischen Schulklasse nach Berlin endet im Alptraum. Wir denken an die Angehörigen der Toten und an die Verletzten, darunter viele Kinder. Ihnen allen wünsche ich eine schnelle Genesung." Neben Scholz bekundeten auch viele weitere Politikerinnen und Politiker Trauer und Anteilnahme.

Hinweise auf psychischen Ausnahmezustand

„Meine Gedanken sind bei den Opfern, die voller Freude auf einer Klassenfahrt in der Hauptstadt waren. Den Hinterbliebenen der verstorbenen Lehrerin spreche ich mein tief empfundenes Beileid aus“, teilte der hessische Ministerpräsident Boris Rhein mit. Laut hessischem Kultusministerium wurde ein Notfallbetreuungsteam nach Bad Arolsen geschickt, um den Angehörigen, Mitschülerinnen und Mitschülern sowie den Lehrkräften beizustehen. Ein Team aus der Schule sei auf dem Weg nach Berlin.

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Die Schülergruppe war in der Nähe der Gedächtniskirche von einem Autofahrer erfasst worden, ihre Lehrerin wurde in den Tod gerissen. 14 Menschen wurden der Polizei zufolge verletzt. Ein Verdächtiger - ein 29 Jahre alter, in Berlin lebender Deutsch-Armenier - wurde gefasst und in ein Krankenhaus gebracht. Ein Sprecher der Berliner Polizei sagte der Deutschen Presse-Agentur am Abend: "Es gibt Indizien, die die Theorie eines psychischen Ausnahmezustands stützen." Es handle sich aber um eine von mehreren möglichen Versionen, daher ermittele man in alle Richtungen weiter.

Die Berliner Senatsverwaltung für Inneres zitierte Innensenatorin Iris Spranger (SPD) am Abend bei Twitter mit den Worten: "Bin wieder in meiner Lagezentrale: Nach neuesten Informationen stellt sich das heutige Geschehen an der #Tauentzienstrasse als eine Amoktat eines psychisch beeinträchtigten Menschen dar." Mehr Details dazu nannte sie nicht.

"Ein richtiges Bekennerschreiben gibt es nicht"

Polizeipräsidentin Barbara Slowik hatte zuvor im RBB ebenfalls die Offenheit der Ermittlungen betont: Man schließe im Moment "gar nichts" aus, sagte sie. Die Ermittlungen würden von einer Mordkommission geführt. Unter anderem wurde die Wohnung des Fahrers in Charlottenburg durchsucht. Viel versprechen sich die Ermittler auch von Videos und Fotos von Zeugen. Im Wagen wurden neben Schriftstücken auch Plakate mit Aufschriften gefunden. "Ein richtiges Bekennerschreiben gibt es nicht", sagte Innensenatorin Spranger. Zuvor hatte es aus Polizeikreisen geheißen, es sei ein Bekennerschreiben gefunden worden. Spranger sprach von "Plakaten", auf denen Äußerungen zur Türkei stehen würden. Der Fahrer war nach dpa-Informationen mit einem Auto unterwegs, das seiner älteren Schwester gehört. Er soll der Polizei wegen mehrerer Delikte bekannt gewesen sein, jedoch nicht in Zusammenhang mit Extremismus.

Der Unfallort befindet sich unweit der Gedächtniskirche am Breitscheidplatz in Berlin-Charlottenburg. Dort war im Dezember 2016 ein islamistischer Attentäter in einen Weihnachtsmarkt gefahren. Dabei und an den Spätfolgen starben insgesamt 13 Menschen, mehr als 70 wurden verletzt.

Gedenken an Opfer der Amokfahrt

Am Abend gedachten zahlreiche Menschen in der Gedächtniskirche der getöteten Frau und der Verletzten. Vor Ort waren unter anderem Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne), Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey und Bildungssenatorin Astrid-Sabine Busse (beide SPD), aber auch Einsatzkräfte der Feuerwehr und Polizei. Viele Bürgerinnen und Bürger drückten bei der Andacht ebenfalls ihre tiefe Anteilnahme aus.

Auf arglose Menschen sei bei dem Vorfall am Mittwoch "brutale Gewalt" eingebrochen, sagte die Generalsuperintendentin Ulrike Trautwein bei der Andacht. "Eine solche Situation verschlägt uns die Sprache." Viele Zeugen und Betroffene hätten noch die Schreie der Menschen in den Ohren. Die Polizei richtete eine Telefonhotline für Angehörige ein, vor Ort waren Seelsorgerinnen und Seelsorger im Einsatz.

Der Vorfall spielte sich nach bisherigem Stand so ab: Der Mann fuhr den Renault-Kleinwagen am späten Vormittag an der Straßenecke Ku'damm und Rankestraße auf den Bürgersteig des Ku'damms und in die Menschengruppe. Dann fuhr er auf die Kreuzung und knapp 200 Meter weiter auf der Tauentzienstraße Richtung Osten. Kurz vor der Ecke Marburger Straße lenkte er den Wagen erneut von der Straße auf den Bürgersteig, touchierte ein anderes Auto, überquerte die Marburger Straße und landete im Schaufenster einer Parfümerie.

Am Mittwochvormittag war die Polizei nach eigenen Angaben mit circa 130 Kräften im Einsatz, mit einem Hubschrauber verschafften sich die Beamten einen Überblick aus der Luft. Das Areal war großflächig abgesperrt. Es waren mehrere Krankenwagen und Polizeiautos vor Ort. Die Polizei rief die Menschen dazu auf, keine Bilder vom tödlichen Vorfall an der Einkaufsstraße im Internet zu posten.

Die Gegend, in der sich der tödliche Vorfall ereignete, ist wegen der vielen Geschäfte, Cafés und Sehenswürdigkeiten oft sehr belebt. Sie ist ein Anziehungspunkt für Touristen aus dem In- und Ausland. In der Nähe befinden sich zum Beispiel der Zoologische Garten, der Bahnhof Zoo und das Kaufhaus des Westens (KaDeWe).

Die Bundesregierung, Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zeigten sich bestürzt über das Geschehene. "Meine Gedanken sind bei den schwer und sehr schwer Verletzten, bei dem Todesopfer", erklärte Steinmeier. "Und sie sind bei denen, die Schreckliches erleben mussten. Mein tiefes Mitgefühl gilt ihnen, allen Angehörigen und Hinterbliebenen." Giffey sagte den Betroffenen Unterstützung zu.

Der hessische Ministerpräsident Boris Rhein und Hessens Kultusminister Alexander Lorz haben sich am Donnerstag nach der Todesfahrt in Berlin erschüttert gezeigt. Die beiden CDU-Politiker besuchten die Haupt- und Realschule der von der Tat in der Hauptstadt betroffenen Klasse in Bad Arolsen. "Es ist für uns ein ganz schwerer Tag, und wir haben ganz schwere Herzen", sagte Rhein im Anschluss. Er habe der Schulgemeinde der Kaulbach-Schule und den Opfern jede erdenkliche Hilfe seitens des Landes Hessen zugesagt. Unter anderem sicherte er den Betroffenen finanzielle Unterstützung aus dem Opferfonds des Landes zu.

Acht Psychologen des Landes seien zurzeit zusätzlich zur Polizei an der Schule eingesetzt, sagte Kultusminister Lorz. Die Schulgemeinde, das Kollegium und die Betroffenen brauchen nach seinen Worten "noch einige Zeit Unterstützung". Ein Team aus der Schule sei auf dem Weg nach Berlin, um den Jugendlichen vor Ort sowie ihren Eltern zur Seite zu stehen.

Die hessische Landtagspräsidentin Astrid Wallmann (CDU) sprach im Namen der Abgeordneten ihr tiefes Mitgefühl aus. "Ich bin tief betroffen über den entsetzlichen Vorfall", sagte Wallmann in Wiesbaden. "Der hessische Landtag ist in Gedanken bei den Angehörigen der getöteten Lehrerin, und wir hoffen, dass die Verletzten wieder vollständig genesen. Ebenso denken wir an die Kinder und Passanten, die diese Schreckensfahrt vor Ort miterleben mussten."

Anlaufstelle an Schule in Bad Arolsen

Die betroffenen Schüler sollen eine Anlaufstelle in ihrer Schule finden. An diesem Donnerstag werde die Schule ihren Regelbetrieb aufnehmen und zugleich die Schüler in Empfang nehmen, die aus Berlin mit Bussen zurückgebracht würden, sagte der Bürgermeister von Bad Arolsen, Marko Lambion. Betroffen sei eine Abschlussklasse mit 24 Schülern einer Realschule in Bad Arolsen. Sie sollten betreut und aufgefangen werden.

Die Gegend, in der sich der tödliche Vorfall ereignete, ist wegen der vielen Geschäfte, Cafés und Sehenswürdigkeiten oft sehr belebt. Sie ist ein Anziehungspunkt für Touristen aus dem In- und Ausland.

Der Fall weckte in Berlin auch Erinnerung an eine Amokfahrt auf der Stadtautobahn A100 im August 2020, als ein Autofahrer gezielt drei Motorradfahrer rammte. Er wurde vom Gericht in die Psychiatrie eingewiesen.

Von dpa