Der „Durchsteckschlüssel“ gehört zur Berliner Stadtgeschichte wie das Gründerzeithaus. Wie er funktioniert, wird heiß diskutiert.

Heute kennt das unscheinbare, handliche Ding so gut wie keiner mehr. Dabei hat es noch vor wenigen Jahrzehnten in vielen Bezirken Berlins – und nur dort – zu den Gründerzeithäusern gehört wie die Beletage, der Hinterhof und das Klo auf halber Treppe. Er hat mehrere Generationen von Berlinern diszipliniert, hat Beziehungen auf Proben gestellt, spontane Besuche vielfach verhindert, lange Wege umsonst erscheinen lassen, ja, auch Einsamkeiten geschaffen. Andere hat er beglückt, weil er für Ruhe und Ordnung sorgte. Vor allem aber hat er Zehntausenden Rätsel aufgegeben, Tüftler zu Experimenten getrieben, um ihn zu überlisten – meist vergeblich. Der legendäre „Durchsteckschlüssel“ behielt sein Geheimnis. Schließzwang blieb Schließzwang.

„Was ist das denn?“ Die Frage hörten West-Berliner oft, wenn sie im alten „Wessiland“ abends in der Kneipe ihr Schlüsselbund auf den Tisch legten. Neben diversen normalen Schlüsseln ragte da ein für Viele unbekanntes, kurioses Exemplar hervor, länger als die anderen. Vor allem aber hatte dieser Schlüssel einen doppelten Bart. An jedem Ende einen. Dort, wo bei anderen Schlüsseln ein flacher Ring das Schließen erleichterte, da diente beim Durchsteckschlüssel als Hebel ein zweiter Bart, identisch mit dem ersten. Als wollte man damit zwei Schlösser gleichzeitig öffnen. Absurd, sowas. Er war auch nicht wie die anderen in den Schlüsselring fest eingefädelt, für ihn hing nur ein kleiner Zylinder mit einer Feder am Ende, in dem wiederum jener „Durchsteckschlüssel“ steckte, um ihn zügig entnehmen und wieder hineinstecken zu können.

Warum konnte man nicht bei geöffneter Tür den Schlüssel drehen?

„Schließzwang“ lautete das Prinzip, für das dieser Schlüssel stand. Wer mit ihm die Haustür im Vorderhaus aufschloss, konnte ihn erst wieder aus dem Schloss ziehen und einstecken, wenn er ihn wieder zurückgedreht und damit den Riegel wieder ausgefahren hatte – allerdings nur, wenn die Tür vorher wieder ins Schloss hatte fallen lassen. Von der anderen Seite, denn dort wollte man ja hin. Weil dafür der Schlüssel durch das Schloss durchgesteckt werden musste, lautete dessen Name: Durchsteckschlüssel.

Einfach durchstecken ging nicht. Es gab nicht nur zwei Bärte beim Schlüssel, es gab auch zwei Schlüssellöcher, rechtwinklig zueinander angeordnet. Wer den Schlüssel in die Rundung des Schlosses hineingesteckt hatte, mit dem Bart senkrecht auf Sechsuhr-Stellung, drehte ihn gegen den Uhrzeigersinn zum Öffnen auf waagrecht, konnte ihn erst danach auf die andere Seite ganz durchstecken – fast, denn mit dem zweiten Bart schloss man nun in umgekehrter Richtung wieder ab und zog den Schlüssel heraus. So lief es jedenfalls, nachdem der Hauswart abends um acht mit seinem anderen, ganz besonderen Schlüssel das System „scharf gestellt“ hatte. Tagsüber waren die Türen für jedermann einfach aufzuschieben.

All das war ein Vorgang, der für viele Altberliner seit ihrer Kindheit zur Routine geworden war. Längst hatten sie die entscheidende Frage vergessen, die sich bald aber die Neuberliner, vor allem Studenten – Schließ- und allen anderen Zwängen hassend – immer wieder aufs Neue stellten: Warum zum Teufel konnte man den Schließvorgang nicht bei geöffneter Tür vortäuschen, warum nicht den Riegel so ausfahren, dass er genau das Ins-Schlossfallen der Tür verhindert, und damit den Zugang zur eigenen Wohnungstür im Hinterhaus für spontanen Besuch offenhält? Welcher geheimnisvolle Mechanismus verhinderte das? Hightech etwa, in so einer ollen Tür mit abgewetzten Beschlägen, die noch nach Kaiserzeit rochen? Der Hauswart, Hüter des Spezialschlüssels und des Schließzwangs, schwieg darüber wie ein Grab. Kannte er das Innenleben der Tür überhaupt? Oder war er nur der „Schließer“? Lächeln, keine Antwort.

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Der Wissenschaftssoziologe und Philosoph Bruno Latour hat den Durchsteckschlüssel mit eine Essay gewürdigt.
Der Wissenschaftssoziologe und Philosoph Bruno Latour hat den Durchsteckschlüssel mit eine Essay gewürdigt. © picture alliance / dpa | Uli Deck

Es ist nur folgerichtig, dass der „Berliner Schlüssel“, wie er auch genannt wurde, in der Ausstellung „Kabinett des Unbekannten“ des Museums der Dinge in der Oranienstraße prominent ausgestellt war. Der französische Philosoph und Soziologe Bruno Latour hat diesem besonderen „Ding“ einen Essay gewidmet: „Der Berliner Schlüssel – Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften“. Darin erforscht eine Archäologin, die in späterer Epoche einen solchen Schlüssel ausgräbt, was es mit dem Unikum auf sich hat. Am Ende resümiert Latour: „Der Berliner Schlüssel, die Tür und der Hauswart befinden sich in einen erbitterten Kampf um Kontrolle und Zugang“. Und er fragt: „Können wir sagen, dass die sozialen Beziehungen zwischen Mietern und Eigentümern, oder Bewohnern und Dieben, oder Bewohnern und Lieferanten, oder Hausbesitzern und Hauswarten vermittelt werden über den Schlüssel, das Schloss und den „preußischen Schlosser?”

Es waren vor allem die Bewohner der diversen Hinterhäuser oder der oberen Stockwerke, die man ab acht auch durch noch so lautstarkes Rufen, Pfeifen oder Kiesel ans Fenster werfen nicht erreichen konnte, von der Außenwelt so gut wie abgeschnitten. Unter Bedingungen, die sich heute nur noch wenige vorstellen können. In den ärmeren bis mittelmäßigen Bezirken, in denen das Durchsteckschloss üblich war, gab es bis Anfang der 80er-Jahre so gut wie keine Klingelanlagen. Handys waren noch lange nicht in Sicht, auch über Festnetz-Telefone verfügte in den 60er- und 70er-Jahren noch lange nicht jeder, vor allem nicht die Neuzugezogenen, die eher mittellosen Studenten. In den 70ern gab es bei der zuständigen Post für Anschlüsse lange Wartezeiten. Sowieso war Telefonieren teuer, Anschluss- und Grundgebühren gingen ins Geld. Und selbst beim glücklichem Besitz eines Telefons: Wer sich bei bei einem Schließzwanggeplagten spontan melden wollte, musste erstmal eine freie – und funktionierende – Telefonzelle finden. Und das nötige Kleingeld dabeihaben.

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Berliner Hinterhof, um 1979.
Berliner Hinterhof, um 1979. © picture-alliance / akg-images | akg-images / Sewcz

Viele Berliner waren deshalb spontan nach acht Uhr mehr oder weniger unerreichbar. Hartnäckiger Besuchsdrang, abendlicher Liebeshunger vielleicht, ließen Manchen auch mal eine halbe Stunde warten, bis irgendjemand die Tür aufschloss, um an ihm vorbei hineinzuschleichen (wehe, man geriet hierbei an den Hauswart!). Immer mit dem Risiko, eingesperrt zu bleiben, wenn der oder die Angebetete dann doch nicht zuhause war. Alles Situationen, die andere Zeitgenossen wiederum den „Schließzwang“ schätzen ließen, man blieb ungestört.

Erfunden hatte den Durchsteckschlüssel Johann Schweiger, jener „preußische Schlosser“. Seine Weddinger Firma Albert Kerfin & Co. erhielt 1912 das Patent darauf. Zur Blüte kam der Mechanismus in der Nachkriegszeit. Geliefert wurde massenhaft auch nach Ost-Berlin, nach dem Mauerbau war damit allerdings Schluss. Schweigers Neffe führte die Firma bis nach der Wende noch weiter, verkaufte sie später. Weder Kerfin & Co noch die Nachfolgefirma wollten und wollen sich je zur genauen Funktionsweise äußern, eine Anfrage bleibt unbeantwortet. Noch immer gibt es in Berlin hier und dort Durchsteckschlösser, und wer will schon, dass sein Patent im großen Maßstab ausgetrickst wird?

Das Geheimnis endlich gelüftet? Drei Methoden sind im Gespräch

Dafür wird in Berliner Internet-Foren heute heiß spekuliert. Am schlüssigsten scheint die Erklärung eines offenbar Kundigen, der drei Mechanismen anführt, die man nach und nach auswechselte, als sie entweder nicht mehr funktionierten oder von Mietern erkannt und ausgetrickst wurden.

Methode eins: Die „Falle“ (jener Riegel also, auf einer Seite abgeschrägt, der die Tür „ins Schloss fallen lässt“) muss millimetergenau aus der Tür ragen, gibt nur so eigentlichen Verschluss-Riegel frei. Dies wird durch einen genau justierten Anschlag im Schließblech des Türrahmens erreicht. Wer dies allerdings weiß, kann die Falle mit der Hand durch sanftes Schieben einfach austricksen. Auch ist die Zuverlässigkeit begrenzt, wenn sich die schwere Tür oder der Rahmen nur um ein paar Millimeter verzieht.

Methode zwei: Ein Magnet im Schließblech löst einen Anker, der den Schließriegel festhält. Ebenfalls leicht zu umgehen – mit einem simplen Magneten.

Methode drei: Ein Stift auf der Oberseite des Türrahmens schiebt beim Anschlag eine in der Tür laufende Stange nach unten und löst so die Schließsperre im Schloss. Die dritte Methode soll sich demnach letztlich durchgesetzt haben. Ganz im Sinne jenes Philosophen Latour, der in seinem Durchsteckschlüssel-Essay auch bemerkte: „Denn das Soziale lässt sich nicht aus Sozialem aufbauen, es braucht Schlüssel und Schlösser“.