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Produktives Lernen in Raguhn Produktives Lernen in Raguhn: Der andere Weg zum Hauptschulabschluss

Von christine krüger 31.03.2014, 18:06
Elke Puschner arbeitet mit den Schülern - links neben ihr Lucas Schröter - im Informatikraum. Hier geht’s um die Theorie.
Elke Puschner arbeitet mit den Schülern - links neben ihr Lucas Schröter - im Informatikraum. Hier geht’s um die Theorie. andré kehrer Lizenz

Raguhn/MZ - Lucas Schröter blitzt der Schalk aus den Augen. Auf dem Bretter-College lernt er jetzt, sagt der Achtklässler keck, der eigentlich jetzt schon in der Zehnten sitzen müsste. Eben: müsste.

Irgendwann war für den Jungen mit der braun-blonden Streifenfrisur und den weißen Flesh Tunnels im Ohrläppchen aus Raguhn der Anschluss in der Sekundarschule weg. Nachholen? Hausaufgaben? Lernen? Er lacht und schüttelt den Kopf. Der Mühlbecker Max Engel und Sarah Gröger aus Köthen kennen das. Und auch Markus Ruzanski fährt aus dem selben Grund jeden Tag von Roitzsch nach Raguhn ins „Bretter-College“, wie Lucas den etwas anderen Weg zum Hauptschulabschluss bezeichnet.

An der Sekundarschule Raguhn gibt es das Projekt „Produktives Lernen“, das 2003 ins Leben gerufen wurde für Schüler, bei denen der Bildungsweg nicht ohne Holpern läuft. Gefördert wird es von der Europäischen Union. Gab es im Schuljahr 2010/11 rund 12.000 Euro, sind es im vergangenen noch rund 3.400 Euro gewesen. Dennoch: Das produktive Lernen ist fester Bestandteil des schulischen Angebots. In ganz Sachsen-Anhalt gibt es das heute an knapp 20 Schulen, im Landkreis Anhalt-Bitterfeld nur in Raguhn. „Es gibt junge Leute, die arbeiten lieber als lernen“, sagt Lehrerin Elke Puschner. „Für sie ist das hier ideal: zwei Tage Schule, drei Tage Betrieb.“

Die derzeit rund 40 Schüler aus dem gesamten Landkreis sind aus den unterschiedlichsten Gründen in ihren Schulen gescheitert. Das aber ist hier nicht wichtig. Hier zählt, wie sich jeder einbringt, wie jeder seinen Weg mit der Hilfe der vier Pädagogen sucht und geht. Ziel ist es, die Schüler trotz ihrer Probleme dahin zu führen, dass sie eine Ausbildung aufnehmen können. Dafür gibt es Unterricht in Kernfächern sowie in themenbezogenen Lernbereichen, die mit dem Praxisbetrieb zu tun haben. Den übrigens sucht sich jeder Schüler selbst - wie es seinen Interessen entspricht. „Das hat den Vorteil, dass sie dort feststellen, ob der Beruf was für sie ist oder nicht“, sagt Ilona Träger, die das Lernprojekt damals mit aus der Taufe gehoben hat. „Manche testen in den zwei Jahren sechs verschiedene Berufsfelder, manche haben auf Anhieb ihres gefunden.“

Im Technik-Raum wühlt sich Lucas durch das Gebiet Kinderkrankheiten. Sein Praktikumsbetrieb jetzt ist eine Kita. „Spaß macht mir das schon, mit Kindern zu arbeiten. Aber nee - für immer ist das nichts“, sagt er. Lieber will er was ganz Handfestes - Gartenbau etwa, am liebsten Gleisbau. Das würde er gern lernen. Da hat er sich schon für ein spezielles Camp im Sommer angemeldet, berichtet er und stellt fest: „Seit ich im Produktiven Lernen bin, läuft es gut. So hab ich es mir auch vorgestellt. Klar, ich hab auch die Arschbacken zusammengekniffen.“ Vielleicht, meint er, übernimmt er später auch mal den Gartenbaubetrieb der Eltern.

Schülern wie Lucas, Max, Sarah und Marcus macht das Lernen wieder Spaß. Die Anzahl derer, die auch diese Schulform nicht zu Ende bringen, ist mit einem oder zwei Schülern im Jahr sehr niedrig, sagt Elke Puschner. Denn jeden September gibt es eine so genannte Verbleib-Studie, die aussagt, wo die Schützlinge abgeblieben sind. Für drei Viertel der Schüler geht es nach dem Produktiven Lernen weiter - im Freiwilligen Sozialen oder Ökologischen Jahr oder mit einer Ausbildung. Über 200 Jugendliche haben das Projekt schon absolviert. An manche erinnern sich die Lehrer heute noch gern. An Florian zum Beispiel. Ilona Träger lacht: Ja, den kennen sie nur mit Händen in den Hosentaschen. „Und jetzt ist er Azubi des Monats im Hotel in Brehna geworden. Oder Marcel, der mit Leib und Seele bei den Kreiswerken arbeitet. Sowas freut uns. Ehrlich: Ich möchte nichts anderes mehr arbeiten“, sagt sie, „das ist nicht immer einfach, aber wir bilden uns ein, helfen zu können.“

Meist hängt am Weg der Schüler mehr dran als bloße Lern-Unlust. Da zeigt das Schulmodell auch seinen Charme: Weil die Lehrer immer die selben, die Klassen relativ klein und in einem separaten Gebäude untergebracht sind, entsteht auch eine beinahe familiäre Atmosphäre. Eine Schulsozialarbeiterin ist ebenfalls da. „Das zahlt sich aus. Manche kommen hier echt zur Besinnung“, meint Elke Puschner. Marcus Ruzanski sagt: „Das Handwerk macht mir Spaß. Ich bin jetzt in einer Zimmerei in Roitzsch. Dort will ich eine gute Bewertung kriegen und in der Schule auch. Sonst hätte ich hier nicht herkommen brauchen.“