Bücher

Verkitschter Medizinroman? Die unsichtbaren Erforscherinnen des Polio-Impfstoffs

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos | Feedback senden
Dr. Dorothy Horstmann untersucht einen Polio-Patienten im Städtchen Hickory im US-Bundesstaat North Carolina. Der Fotograf Alfred Eisenstaedt begleitete sie im Sommer 1944 für das "LIFE"-Magazin.

Dr. Dorothy Horstmann untersucht einen Polio-Patienten im Städtchen Hickory im US-Bundesstaat North Carolina. Der Fotograf Alfred Eisenstaedt begleitete sie im Sommer 1944 für das "LIFE"-Magazin.

(Foto: IMAGO/Pond5 Images)

Mitte des 20. Jahrhunderts breitet sich Polio in den USA immer weiter aus. Die junge Virologin Dr. Dorothy Horstmann versucht die Kinderlähmung zu bezwingen. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit und gesellschaftliche Normen.

Menschenleere Parks, geschlossene Schwimmbäder, verwaiste Spielplätze - und das an einem heißen Sommertag. Die von der US-Autorin Lynn Cullen in ihrem neuen Roman "Die Formel der Hoffnung" beschriebene Szenerie ruft Erinnerungen an Corona-Lockdowns hervor, greift jedoch weiter in die Vergangenheit zurück.

Seit Anfang des 20. Jahrhunderts kommt es vermehrt zu Polio-Ausbrüchen in Amerika. Heute wissen wir, dass Poliomyelitis eine hochansteckende Infektionskrankheit ist, die hauptsächlich Kinder befällt, daher auch die Bezeichnung "Kinderlähmung". Sie kann von Lähmungen und bis zum Tod führen. Die Forschung Mitte des 20. Jahrhunderts versuchte - ähnlich wie auch die Epidemiologen nach dem Ausbruch des Coronavirus - so schnell wie möglich ein Heilmittel gegen das Virus zu entwickeln.

"Die Formel der Hoffnung" erzählt die Medizingeschichte der Suche nach einem Impfstoff gegen Polio, beginnend in den 1940er-Jahren bis ins Jahr 1963. Die Handlung des Romans, der von Maria Poets aus dem amerikanischen Englisch übersetzt wurde, basiert auf der Lebensgeschichte der US-amerikanischen Virologin Dorothy Millicent Horstmann. Sie ist die Protagonistin des historisch-fiktiven Romans.

Eine große Frau mit großen Ambitionen

ANZEIGE
Die Formel der Hoffnung: Ein spannender Roman nach der wahren Geschichte einer herausragenden Ärztin
238
24,00 €
Zum Angebot bei amazon.de

In kurzen Rückblicken erfahren die Lesenden von der entbehrungsreichen Kindheit der Dorothy-Figur: Ihre Eltern waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach Amerika emigriert. Ihr Vater und ihr Bruder leiden an schweren Krankheiten, deshalb muss die Mutter die fünfköpfige Familie über Wasser halten. Mit nur 13 Jahren ist Dorothy Alleinernährerin ihrer Familie: Das Mädchen gibt nach der Schule "süßen, unmusikalischen, reichen Kindern" Klavierunterricht: Beethovens Mondscheinsonate ist klangliches Leitmotiv des Romans - die Hauptfigur hört Beethoven in jeder Lebenslage.

Früh erlebt die Protagonistin Krankheit und Leid in der eigenen Familie. Diese Erfahrungen treiben das Mädchen an: Dorothy will Menschen heilen. Aber für die Tochter deutscher Einwanderer birgt ein Karriereeinstieg in der Medizin Herausforderungen: Sie stammt aus der Arbeiterklasse, hat immer finanzielle Sorgen. Zudem fällt ihr deutscher Akzent auf. Deshalb macht die Protagonistin vor ihrem Medizinstudium einen Abschluss in Englisch, um ihre Kommunikationsfähigkeiten zu verbessern. Sie versucht, dazuzugehören.

Doch egal, wo sie hinkommt, die 1,85 Meter große Frau sticht heraus: Schon auf der Highschool war sie "die einsame Bohnenstange, die allein an der Wand lehnte". Der Satz "Sie sind aber groß!" ist eine Art Running Gag in der Erzählung.

Steiniger Weg in die Wissenschaft

Startpunkt des Romans ist die erste Anstellung der Protagonistin: Als Assistenzärztin am Vanderbilt-Universitätsklinikum in Nashville fühlt sie sich wie "ein moderner Gulliver", der zwischen "winzigen kleinen Männern" praktiziert. Ihr Chefarzt erholt sich lange nicht davon, "eine Frau in seiner Ärzteschaft zu haben" und wird nicht müde zu betonten: "Dies ist ohnehin kein Ort für Frauen."

Während ihren Kollegen die Angebote nur so zufliegen, sucht die Protagonistin zum Ende ihrer Assistenzzeit verzweifelt eine neue Anstellung: "Wer wollte schon ein Einhorn? Offenbar niemand.", fragt sie sich. Hätte sich die historische Dorothy Horstmann wirklich so beschrieben? Dazu erklärt die Autorin: "Die Dorothy Horstmann, die Sie in diesem Roman kennenlernen, beruht auf dem, was ich aus Artikeln, Briefen, Büchern, Daten und mündlichen Quellen über ihr Leben zusammentragen konnte. Doch für diese Geschichte wurde sie mein Geschöpf, so wie alle anderen Charaktere, egal, ob sie auf realen Vorbildern beruhen oder komplett erfunden sind."

Trotz aller Hindernisse bekommt die Protagonistin eine Stelle in der Poliomyelitis Study Unit an der bis heute renommierten Yale School of Medicine in Connecticut. Im Januar 1942 tritt Amerika in den Zweiten Weltkrieg ein, doch für Dorothy und ihre Kollegen heißt es weiter: "Polio macht keine Pause, nur weil Krieg ist." Als die Gelder für die Polio-Forschung knapp werden, verliert Dorothy ihre Stelle mit der Begründung, sie habe als einzige im Team keine Frau und Kinder zu ernähren. Ein herber Rückschlag. Zudem kanzeln ihre Kollegen ihre Forschung in einem wissenschaftlichen Journal ab. Cullens Dorothy fühlt sich wie eine Närrin. Trotzdem kehrt die Protagonistin später nach Yale zurück.

Akademischer Hahnenkampf im Wettlauf um einen Polioimpfstoff

Oft die einzige Frau im Raum ist die Protagonistin eine Außenseiterin in der Polioforschung. Wenn sie das "Männerclubgeplauder" unterbricht, sorgt sie regelmäßig für Irritation. Viele Kollegen sehen sie als eine Sekretärin, die für die Kaffeeversorgung zuständig ist. Pessimistisch glaubt die Protagonistin, "sie würde niemals über ihre Rolle als Hostess für eine Horde Schafsböcke, die sich regelmäßig die Hörner stießen, hinauskommen".

Aus dem akademischen Hahnenkampf darum, wer die Heilung für Polio als Erster entdeckt, hält sie sich raus. "Wenn jeder Wirtschaftszweig ein Dschungel war, in dem nur die Stärksten überlebten, war der akademische Urwald einer der härtesten. Jeder kämpfte darum, in seiner Domäne der König zu sein." Von dem Gehabe der "Alphamännchen" ist sie genervt: "Diese Männer. Man sollte doch meinen, dass der Sieg über Polio ihnen wichtiger wäre als ihre Revierkämpfe."

Dorothys Beharrlichkeit zahlt sich aus: 1949 ist "Henry Horstmanns Mädchen das Aushängeschild der Polioeinheit". Endlich erhält sie Gelder für eine eigene Studie an Affen. In dem schwarzen Tierpfleger Eugene Oakley findet Dorothy einen engen Verbündeten. Weil er seine 18 Monate alte Tochter Linda an Kinderlähmung verloren hat, teilt er Dorothys Ehrgeiz auf der Suche nach einem Heilmittel. Nur mit diesem Ziel vor Augen erträgt es die Protagonistin, den Tieren zum Wohle der Menschheit Leid anzutun. Ein Wettlauf gegen die Zeit, denn von Sommer zu Sommer nehmen die Polio-Ausbrüche immer neue Ausmaße an, immer mehr Menschen sterben.

Zerreißproben der Liebe

Während die Rahmenhandlung Dorothys Kampf gegen Polio nacherzählt, widmet sich die Autorin in Nebensträngen ebenso den Liebschaften ihrer Protagonistin: Als junge Ärztin lernt sie gleich zu Beginn des Romans den Virologen Albert Sabin, ebenfalls basierend auf einer historischen Persönlichkeit, kennen: Der "Wunderknabe" sucht bei jeder Gelegenheit den Austausch mit der Protagonistin - doch seine Annäherungen sind nicht immer rein beruflich. Dorothy genießt seine Aufmerksamkeit: "Die Art und Weise, wie sie sich gegenseitig inspirierten, war berauschend." Doch der Virologe ist bereits verheiratet, wie sie mehr oder weniger betrübt feststellt. "Sie waren nur zwei Seuchendetektive, die - beide vielleicht bis zur Besessenheit - versuchten, Polio zu besiegen. Starke Gefühle zwischen Gleichgesinnten sollten nicht mit etwas anderem verwechselt werden", redet sich die Protagonistin ein. Auch die Kollegen argwöhnen bei jedem Zusammentreffen, ob Dr. Sabin und Dr. Horstmann eine Affäre hätten.

Der US-Virologe Albert Sabin in den 1960er-Jahren.

Der US-Virologe Albert Sabin in den 1960er-Jahren.

(Foto: picture-alliance / dpa)

Einen anderen Charakter besitzt Dorothys zweiter Liebhaber, eine fiktive Figur. Vermutlich kreierte Cullen den großen Dänen Arne Horn, um ihrer Protagonistin, die so viel entbehren muss, einen perfekten Geliebten zur Seite zu stellen: Ein progressiver Partner, der Dorothy unterstützt und den Hausmann spielt, während sie die Welt rettet. Nicht nur das, denn Arne ist ein echter Held. In zwei separaten Aktionen soll er Juden aus Skandinavien vor der NS-Verfolgung gerettet haben.

Diese Liebes-Erzählung fällt in eine Art Kitsch-Romanze: Die Autorin lässt ihre Protagonisten vielfach über "Oh, Arne" oder "Ach, Arne" den Namen des Geliebten seufzen. Ihre Liebe besteht aus aufgeblasener Sehnsucht, körperlichem Verlangen und einer ordentlichen Portion Übertreibung, die manchem Lesenden vielleicht zu viel sein könnte.

Schließlich steht Dorothy am Scheideweg: Will sie die Ehefrau ihres Geliebten werden oder als einsame Wissenschaftlerin Polio besiegen? Vereinbar sind diese Lebenswege nicht. Ein Balanceakt, dem sich viele Frauen auch heute noch stellen müssen.

Unsichtbare Heldinnen der Medizingeschichte

Im Sommer 1944 pflegen Krankenschwestern ein an Polio erkranktes Kind in einem provisorischen Krankenhaus in Hickory.

Im Sommer 1944 pflegen Krankenschwestern ein an Polio erkranktes Kind in einem provisorischen Krankenhaus in Hickory.

(Foto: IMAGO/Pond5 Images)

Wie Leuchttürme ragen Kapitel aus der Rahmenhandlung, die das Leben und den Alltag der Frauen in Dorothys Umkreis fokussieren. Frauen in der Geschichte des Poliovirus sichtbar zu machen, ist die Intention der US-Autorin. Cullen erzählt in ihrem Roman die Medizingeschichte aus Sicht von Frauen: Isabel Morgan, eine Epidemiologin an der Johns Hopkins University, die als Erste einen experimentellen Polioimpfstoff entwickelte. Oder die Laborassistentin Elsie Ward, die herausgefunden hat, wie man das Poliovirus in Gewebe vermehren kann. Und Sylvia Sabin, die ihren eigenen Traum, eine ebenso gute Fotografin wie Margaret Bourke-White zu werden, für die Familiengründung an den Nagel hängt. Ebenso erhalten Krankenschwestern und andere Pflegekräfte eine Stimme. Sie alle sind bei Cullen Heldinnen der Geschichte des Poliovirus.

So führt der etwas kitschige, aber auch informative Roman seinen Lesenden vor Augen, was sich seit dem vergangenen Jahrhundert verändert hat. Aber er verdeutlicht gleichzeitig, was sich in der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts vielleicht noch ändern muss.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen