Panorama

Deutsche Schüler lesen schlecht Soziale Herkunft entscheidet über Leistung

Wer es als Kind nicht lernt, hat es auch später schwerer: In Deutschland leben 7,5 Millionen Erwachsene, die nicht richtig lesen und schreiben können.

Wer es als Kind nicht lernt, hat es auch später schwerer: In Deutschland leben 7,5 Millionen Erwachsene, die nicht richtig lesen und schreiben können.

(Foto: imago/Westend61)

Wer aus einem sozial schwachen Haushalt stammt, ist in deutschen Schulen schlechter gestellt. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie zum Leseverhalten von Viertklässlern. Der nationale Hintergrund spielt dabei eine untergeordnete Rolle.

Viertklässler in Deutschland können deutlich schlechter lesen als ihre Altersgenossen in anderen europäischen Ländern. Das zeigt die Iglu-Studie des Instituts für Schulentwicklungsforschung und der Technischen Universität Dortmund, die die Lesekompetenz von Grundschülern erfasst. Demnach hat sich das Leistungsniveau der Schüler in Deutschland seit 2001 nicht verändert.

Lesestärkste Nationen laut Iglu-Studie

1. Russland
2. Singapur
3. Hongkong
4. Irland
5. Finnland
6. Polen
7. Nordirland
8. Norwegen
9. Taiwan
10. England
...
26. Deutschland

Die Gründe für das Absacken der Kinder im Nationenvergleich reichen von unzureichend ausgebildeten Lehrern über stark schwankende Leistungen innerhalb der Klasse bis hin zu großen sozialen Unterschieden. Fest steht jedoch: Der wachsende Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund in deutschen Schulen hat keinen Einfluss auf die Verschlechterung.

"Wenn die Zusammensetzung der Schülerschaft wie in den Vorjahren gewesen wäre, wäre das Ergebnis genauso ausgefallen", sagt Albert Bremerich-Vos, einer der Autoren der Studie, zu n-tv.de. Der Linguist und Sprachdidakt erklärt: "Kinder aus Flüchtlingsfamilien sind nicht schuld am Stillstand." Der Anteil der Studienteilnehmer, die Deutsch nicht als Muttersprache gelernt haben, ist in den vergangenen 15 Jahren um zehn Prozent gestiegen und hat damit einen geringen Einfluss auf die Ergebnisse.

Falsche Lehrmethoden

Statt den Fokus auf die Kinder zu legen, richtet Bremerich-Vos den Blick auf die Lehrkräfte. "Ich habe die Vermutung, dass das Lehrpersonal speziell im Leseunterricht mit schwachen Schülern nicht so übt, wie es von der Forschung nahegelegt wird." Er beklagt, das Fortbildungsangebot sei mangelhaft. "Ein Großteil der Lehrer hat in den vergangenen zwei Jahren gerade einmal einen Vormittag bei einer Weiterbildung zum Thema Lesen verbracht", sagt der Experte. Diese würden zumeist von Lehrkräften statt von Lern- oder Lesedidakten der Universitäten geleitet. Daher verfügten viele Lehrer nicht über ausreichende Methodenkenntnisse, um individuelle Lesetechniken zu vermitteln.

Albert Bremerich-Vos ist Professor in Rente für Linguistik und Sprachdidaktik an der Universität Duisburg-Essen.

Albert Bremerich-Vos ist Professor in Rente für Linguistik und Sprachdidaktik an der Universität Duisburg-Essen.

(Foto: Universität Duisburg-Essen)

Das im Unterricht vielfach praktizierte laute Reihum-Lesen ist dem Experten zufolge nicht lernwirksam. Dadurch würden sich die Schüler nur auf die Abschnitte konzentrieren, die sie lesen müssen. Stattdessen schlägt Bremerich-Vos vor, einen starken und einen schwachen Schüler gemeinsam halblaut lesen zu lassen und anschließend Fragen zu besprechen. Außerdem beklagt der Germanist, dass zu selten Lesestrategien geübt würden. Mit deren Hilfe könnten die Schüler besser über das Gelesene nachdenken und reflektieren, wo Schwierigkeiten auftreten. "Sie müssen lernen, sich selbst beim Lesen über die Schulter zu schauen", so Bremerich-Vos.

Bei vielen Kindern mit Migrationshintergrund fehlen laut dem Experten aber bereits die Grundlagen für gutes Lesen. "Der Leseunterricht ist viel schwieriger, wenn Kinder den Wortschatz erst komplett neu erlernen müssen", sagt er. Dennoch zeigt die Studie auch, dass Schüler mit einer anderen Muttersprache zwar überdurchschnittlich oft unter den schwachen Lesern, aber auch an der Leistungsspitze deutlich häufiger vertreten sind. "Die Leistungsdifferenzen liegen teilweise bei einem Schuljahr." Daher müssten Schüler aus einem anderen Herkunftsland sehr differenziert betrachtet werden. "Kinder mit russischen Eltern schneiden beispielsweise besser ab als Kinder mit türkischen Eltern", sagt Bremerich-Vos.

Russland sichert sich Lesekrone

Auch im Iglu-Ranking 2016 hat Russland die Nase vorn. Bisher lagen vor allem nordeuropäische und asiatische Länder an der Spitze. Das hat die Forscher überrascht. "2001 rangierte Russland hinter Deutschland, nun ist es an der Spitze aller Teilnehmer", erklärt der Linguist. So sind Viertklässler aus Russland im Leistungsniveau etwa ein Schuljahr weiter als Schüler in Deutschland. Moskauer Schüler sind ihren deutschen Altersgenossen sogar zwei Jahre voraus. "Woran das liegt, müssen wir noch herausfinden."

Beklagenswert ist den Forschern zufolge, dass Deutschland auf Platz vier der Nationen liegt, in denen die soziale Herkunft noch immer einen großen Einfluss auf das Leistungsniveau hat. Für die Iglu-Studie wurde eine imaginäre Grenze von 100 Büchern pro Haushalt gezogen, um diesen Faktor zu bestimmen. Kinder aus Familien mit mehr als 100 Büchern haben einen Leistungsvorsprung von etwa einem Schuljahr. "Das regt mich sehr auf, denn das ist ein Fakt sozialer Ungerechtigkeit", sagt Bremerich-Vos.

Der Bildungsabschluss der Eltern entscheide oftmals über die Zukunft der Kinder: So hätten Schüler von Akademikereltern eine dreieinhalbfach größere Chance, nach der Grundschule ein Gymnasium zu besuchen, als Kinder von Facharbeitern - trotz gleicher Intelligenz und Lesekompetenz. Für den Germanisten ist das bedauerlich: "Hier werden Talente einfach nicht gesehen."

Quelle: ntv.de

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