Politik

Freundschaft mit dem Erbfeind Der Kuss von Paris

22. Januar 1963: Nach der Unterzeichnung des Vertrags küsst der französische Staatspräsident den deutschen Bundeskanzler.

22. Januar 1963: Nach der Unterzeichnung des Vertrags küsst der französische Staatspräsident den deutschen Bundeskanzler.

(Foto: ASSOCIATED PRESS)

Deutschland und Frankreich: Beide Länder führten verlustreiche Kriege gegeneinander. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzt ein Umdenken ein. Bundeskanzler Adenauer und Frankreichs Staatschef de Gaulle ordnen das Verhältnis neu. Am 22. Januar 1963 wird der Élysée-Vertrag unterzeichnet. Aus Feinden werden Freunde.

Die Herzlichkeit des Generals überrascht Konrad Adenauer. Der französische Staatspräsident Charles de Gaulle küsst dem deutschen Bundeskanzler auf die Wangen. Der 87-jährige Adenauer, dem Gefühlsausbrüche eigentlich fremd sind, wirkt aufgrund des "Überfalls" sehr unbeholfen und versucht auch einen Kuss zu geben. Sein Gefolge verfolgt gespannt die Szene. "Noch heute sehe ich seine gespitzten Lippen", sagt der damalige Dolmetscher Hermann Kusterer über seinen Chef.

Es ist der 22. Januar 1963: Im Pariser Élysée-Palast wird Geschichte geschrieben - französische, deutsche und europäische. Deutschland und Frankreich besiegeln das Ende ihrer langen Erbfeindschaft. Zwei alte Männer - auch de Gaulle befindet sich mit 72 Jahren im Herbst seines Lebens - schaffen die Wende zum Besseren, an der zuvor Generationen von Politikern beider Länder gescheitert waren. Adenauer und de Gaulle legen den Grundstein für die deutsch-französische Freundschaft. Das Fundament, das sie bauen, erweist sich bis heute als tragfähig - ungeachtet ab und zu auftretender Schlechtwetterperioden.

Es ist Adenauers Meisterstück: Er ist zu diesem Zeitpunkt ein Kanzler auf Abruf. CDU und CSU hatten bei der Bundestagswahl am 17. September 1961 die absolute Mehrheit verloren. Der seit 1949 regierende Adenauer musste eine Koalition mit der ungeliebten FDP, die mit dem Slogan "Mit der CDU, aber ohne Adenauer" Wahlkampf macht, eingehen. Auch in der Union war der Alte aus Rhöndorf nicht mehr unumstritten. Sie wollte eigentlich, dass der Vater des deutschen Wirtschaftswunders, Ludwig Erhard, in das Bonner Palais Schaumburg einzieht. Aber Adenauer setzte sich noch einmal durch. Sein politisches Lebenswerk - dazu gehört die Aussöhnung mit Frankreich - sah er als noch nicht vollendet an. Außerdem glaubte er, dass Erhard nicht zum Kanzler tauge. Einen Preis musste Adenauer allerdings für seinen Verbleib im Amt zahlen: Der Langzeitkanzler versprach, während der Legislaturperiode zu gehen - am 15. September 1963 ist dann auch Schluss. Dennoch besitzt Adenauer noch im Rücktrittsjahr die Kraft zu weitreichenden politischen Weichenstellungen. Ihm gegenüber steht de Gaulle, der in Frankreich nach der Errichtung der V. Republik 1958 mit großer Machtfülle ausgestattet ist.

Adenauer tritt im Herbst 1963 als Bundeskanzler ab.

Adenauer tritt im Herbst 1963 als Bundeskanzler ab.

(Foto: picture alliance / dpa)

Adenauer und de Gaulle sind zwei Männer, die verschiedener nicht sein könnten. Auf der einen Seite ist der ehemalige Kölner Oberbürgermeister, der nach Adolf Hitlers Machtantritt 1933 von den Nazis aus dem Amt gejagt wurde, seit der deutschen Niederlage 1945 aktiv am Wiederaufbau Deutschlands arbeitet und vier Jahre später mit der knappen Mehrheit von einer Stimme Bundeskanzler wurde. Adenauer ist Zivilist durch und durch, hat nie eine Uniform getragen. Auf der anderen Seite steht de Gaulle, der General, der als das Symbol für das befreite Frankreich steht. Der Militär, der während des Zweiten Weltkriegs das Vichy-Regime des mit Hitler kollaborierenden Marschalls Philippe Pétain zutiefst verabscheute, beschäftigt sich intensiv mit Nachkriegs-Deutschland. Das Schicksal des östlichen Nachbarn Frankreichs ist für ihn sogar eine "zentrale Frage des Universums". Es sei "zugleich für Frankreich eine Frage von Tod und Leben". Freundschaft mit Deutschland oder gar ein Bruderkuss mit dessen Kanzler lag für de Gaulle kurz nach der großen Weltkatastrophe außerhalb seiner Vorstellungskraft.

Keine deutsche Neutralität

Doch Adenauer schafft in der ersten Hälfte der 1950er Jahren das für die Aussöhnung mit Paris wichtige Vertrauen. De Gaulle, noch durch und durch französischer Nationalist, nimmt in dieser Zeit eine politische Auszeit. Wie die Westmächte lehnt auch der Rheinländer das Verhandlungsangebot von Josef Stalin vom 10. März 1952 über eine Wiedervereinigung und Neutralisierung Deutschlands ab. Adenauer durchschaut das durchsichtige Manöver des sowjetischen Führers und betreibt umso vehementer die Westintegration des größeren deutschen Teilstaates. Ein blockfreies Deutschland mit einer daraus resultierenden außenpolitischen Unberechenbarkeit kommt für ihn nicht infrage.

Gleichzeitig schaut der Kanzler nach Westen. "Wann jemals seit tausend Jahren die Möglichkeit bestanden hat, das Verhältnis Deutschland-Frankreich für immer zu ordnen, (…) dann ist jetzt die Zeit gekommen", sagt er bereits 1947. Ein wichtiges Instrument ist die 1951/52 geschaffene Montanunion, der Vorläuferin der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Zum ersten Mal funktioniert das Zusammenspiel zwischen Bonn und Paris. Adenauer unterstützt die Politik des französischen Außenministers Robert Schuman, der der Initiator der Montanunion ist, kommt sie doch der deutschen Industrie zugute. Statt des rasanten ökonomischen Abschwungs, mit dem die Weimarer Republik wegen horrender Reparationszahlungen infolge des Ersten Weltkriegs konfrontiert wird, erfährt die Bundesrepublik Deutschland einen Aufschwung. Die Westdeutschen profitieren materiell von der Integrationspolitik Adenauers. In Paris hat man gelernt: Deutschland darf, will man Frieden in Europa haben, nicht am Boden liegen.

Der deutsche Zivilist und der französische General legten die Grundlage für die deutsch-französische Freundschaft.

Der deutsche Zivilist und der französische General legten die Grundlage für die deutsch-französische Freundschaft.

(Foto: dpa)

Das deutsch-französische Verhältnis ist aber noch fragil, es bedarf intensiver Pflege. 1958 wird de Gaulle Präsident. Adenauer fürchtet um das mühsam aufgebaute gute Verhältnis zu Frankreich, glaubt er doch, dass der Mann aus Lille nach wie vor ein Feind Deutschlands ist. Zudem pocht der Franzose auf eine größere Eigenständigkeit seines Landes gegenüber den USA. Wegen der sowjetischen Bedrohung sieht Adenauer aber die transatlantische Brücke als für Europa überlebensnotwendig an. Und da ist noch die Frage der Augenhöhe zwischen Weltkriegssieger und -besiegtem. Adenauer reist im September 1958 mit einem bangen Gefühl zum Haus von de Gaulle nach Colombey-les-deux-Eglises. Aber das Eis bricht schnell. "Ich fand einen ganz anderen Mann vor, als man mir immer gesagt hatte", so Adenauer. Der damalige französische Botschafter in Bonn, François Seydoux, spricht von einem fast familiären Treffen zwischen beiden Politikern.

Verstimmungen bei der Präambel

Mehrere Treffen folgen. Ein Höhepunkt ist Adenauers Teilnahme an einem Hochamt in der Kathedrale von Reims im Sommer 1962: der französische Katholik Seite an Seite mit dem deutschen beim Gebet - mehr Symbolik geht nicht. Der Weg zum Élysée-Vertrag ist frei, er wird rund ein halbes Jahr später unterzeichnet. Trotz zwischenzeitlicher Verstimmungen hinsichtlich der Präambel, Adenauer will die enge Bindung an die USA und den Willen zur Aufnahme Großbritanniens in EWG darin enthalten haben, schlagen Deutschland und Frankreich ein neues Kapitel ihrer gemeinsamen Geschichte auf. "Das Spannende an diesem Vertrag besteht darin dass er auf einem bewusst hingenommenen Missverständnis beruht", sagt der Grünen-Europaabgeordnete Daniel Cohn-Bendit in einem Interview. "Für Adenauer war die Annäherung an Frankreich die logische Konsequenz der Westintegration, zu der auch die Bindung an die USA gehörte. De Gaulle wiederum hatte neben der notwendigen Überwindung der deutsch-französischen Feindschaft auch das Ziel, einen Gegenpol zur Hegemonie der USA aufzubauen."

Adenauer und de Gaulle haben Bleibendes geschaffen - die nachfolgenden Jahrzehnte beweisen dies. Nicht immer läuft es im Verhältnis zwischen Deutschen und Franzosen rund, mitunter knirscht es kräftig im Getriebe. Trotz Streitigkeiten - erwähnt seien zäh verlaufende EU-Gipfel, die sehr schnelle Herbeiführung der Einheit Deutschlands oder die Turbulenzen in der Eurozone - bleibt die deutsch-französische Freundschaft unangetastet. "Diese Generation ist in die Politik gegangen, um zu verhindern, dass all das Schreckliche der Nazizeit und des Krieges sich jemals wiederholen könnte. Das war deren Antriebskraft", so Adenauers Nachfolger Helmut Schmidt. Vor allem in Krisenzeiten wird deutlich, wie weitblickend Konrad Adenauer und seine französischen Partner damals waren.

Quelle: ntv.de

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