Politik

Nach Anschlag auf Hamas-Führer Nasrallah droht, aber die Libanesen hören lieber weg

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Anlass der Rede von Nasrallah war der vierte Jahrestag der Tötung des iranischen Generals Soleimani durch die USA. Der damalige US-Präsident Trump machte Soleimani für Terroranschläge auf US-Einrichtungen verantwortlich.

Anlass der Rede von Nasrallah war der vierte Jahrestag der Tötung des iranischen Generals Soleimani durch die USA. Der damalige US-Präsident Trump machte Soleimani für Terroranschläge auf US-Einrichtungen verantwortlich.

(Foto: AP)

Steht der Libanon am Rande eines Krieges? Die Tötung eines hochrangigen Hamas-Funktionärs, mutmaßlich durch eine israelische Drohne, heizt die Angst vor einem Flächenbrand im Nahen Osten neu an. Viele Libanesen bleiben dennoch erstaunlich gelassen.

Mittwochabend in Dahiyye, einem Vorort südlich von Beirut: In einer Halle verfolgen Hunderte Unterstützer gebannt die Rede von Hassan Nasrallah. Die Ansprache des Hisbollah-Chefs wird live auf großen Bildschirmen übertragen. Dahiyye ist eine Hochburg der schiitischen Miliz, die eng mit dem Iran verbündet ist.

Nasrallah startet seine mit Spannung erwartete Rede mit Verspätung. Wie üblich erscheint er dunkel gekleidet und mit schwarzem Turban. Wenn der Hisbollah-Chef spricht, steht im Libanon das Leben meist still. Aber nicht alle Libanesinnen und Libanesen hängen an diesem Abend an seinen Lippen. Ali, ein junger Schiit, der ein paar Kilometer entfernt zur selben Zeit in einem Hotel arbeitet, tippt gelangweilt auf seinem Handy herum. Er schaue sich den Auftritt bewusst nicht an, sagt der 21-jährige Beiruter. "Er wird eh nichts machen. Wir Libanesen wollen keinen Krieg." Nach seinem Schichtende werde er sich von seinen Eltern die Rede kurz zusammenfassen lassen, das reiche ihm, sagt Ali.

Für den Libanon, der wirtschaftlich ohnehin am Boden liegt, wäre ein offener Krieg eine absolute Katastrophe. Das Land ist bankrott. Das weiß auch Nasrallah - er ist es, der im Libanon über Krieg und Frieden entscheidet, die Hisbollah ist hier ein Staat im Staate. Gleich zu Beginn seiner Rede verurteilt er den "eklatanten israelischen Angriff" auf das Schärfste und schwört Vergeltung. Dies werde nicht ungestraft bleiben, betont er. Am Dienstagabend war Hamas-Anführer Saleh al-Aruri in Dahiyye bei einem Angriff ums Leben gekommen. Berichten zufolge wurde der Angriff mit einer Drohne oder mit Lenkraten durchgeführt. Offiziell hat Israel keine Verantwortung dafür übernommen, aber nicht nur die Hisbollah geht davon aus, dass es sich um eine israelische Operation handelt.

Offenen Krieg will die Hisbollah vermeiden

Nasrallahs Warnung, ganz am Ende der eineinhalbstündigen Rede, fällt allerdings vergleichsweise zurückhaltend aus. "Wenn der Feind daran denkt, einen Krieg gegen den Libanon zu führen, wird unser Kampf grenzenlos und ohne Regeln sein - und er weiß, was ich damit meine." Das klingt markig, sogar drohend - allerdings vermied Nasrallah in seiner Rede, die bereits vor al-Aruris Tod geplant war, jedwede Erklärung, ob seine Miliz ihre Angriffe auf Israel verstärken werde. Seit fast drei Monaten schon beschießen sich die Nachbarn an der Grenze im Süden des Libanon mit Raketen. Am Tag nach Nasrallahs Auftritt meldet die Hisbollah den Tod von vier Kämpfern.

Ein Anschlag mitten in Dahiyye schien bis Dienstag nahezu ausgeschlossen. Immerhin leben in dem südlichen Vorort Beiruts eine halbe Million Libanesen. Die Bilder der Attacke an einer der belebtesten Straßen von Südbeirut verbreiteten sich an dem Abend blitzschnell. Schon zweimal seit dem barbarischen Hamas-Überfall auf Israel am 7. Oktober hatte Nasrallah eine Rede gehalten. Beide Male wurde deutlich, dass die Hisbollah trotz ihrer andauernden Scharmützel mit Israel einen offenen Krieg vermeiden will.

In einem Friseursalon im etwa sechs Kilometer entfernten Stadtteil Verdun sind die dutzenden Angestellten kurz etwas aufgeregt, als von einer Explosion die Rede ist. Sie versuchen, Angehörige, die im dicht besiedelten Dahiyye leben, telefonisch zu erreichen. Doch alles wirkt eher routiniert und keinesfalls panisch. Wer hier lebt, ist an Krisen gewöhnt. Die Haare der Kundinnen werden weiter gewaschen, geföhnt und gestylt. Business as usual.

Der Staat hat keinen Einfluss auf die Hisbollah

Schnell ist die Rede von einer Drohne und mehreren Toten. Die Hamas gibt später bekannt, dass Saleh al-Aruri, der stellvertretende Leiter ihres Politbüros, bei dem Anschlag getötet wurde, zusammen mit sechs weiteren Hamas-Funktionären. Er war der zweithöchste Anführer der Terrororganisation im Ausland. Die zentrale Frage nach dem Anschlag war, wie die Hisbollah reagieren werde.

Schon seit mehr als einem Jahr ist der Libanon politisch gelähmt: Das Amt des Präsidenten ist unbesetzt, auch die Regierung ist nur geschäftsführend im Amt. Doch auch wenn sich der Libanon politisch nicht in einer völligen Sackgasse befinden würde, könnte der Staat keinen Einfluss auf die Hisbollah nehmen, sagt David Wood, Libanon-Experte bei der International Crisis Group. Schließlich sei die Hisbollah nicht nur eine bewaffnete Miliz, sondern auch politische Partei und fest im öffentlichen Leben des Zedernstaates verwurzelt. Sie stellt Minister, ist im Parlament vertreten, an öffentlichen Einrichtungen des Landes beteiligt und engagiert sich karitativ. Der Staat habe keine Möglichkeit, die Hisbollah zu zwingen, ihre Entscheidungen einer offiziellen staatlichen Überprüfung zu unterziehen, sagt Wood ntv.de.

Die von der EU in Teilen als terroristisch eingestufte Organisation ist weitaus mächtiger und stärker bewaffnet als die Hamas. Sie verfügt über ein Waffenarsenal von mehr als 100.000 Raketen, die nicht der staatlichen Kontrolle unterliegen und hat Zehntausende von Kämpfern, die nur der Parteiführung unterstehen. Hinzu kommen Langstreckenraketen, mit denen die Miliz hunderte Kilometer entfernte Ziele wie Tel Aviv, Jerusalem und den Süden Israels treffen könnte. Im Kriegsfall könnte die Hisbollah mehrere Tausend Raketen pro Tag auf Israel abfeuern - und so womöglich sogar die modernen israelischen Abfangsysteme überlasten.

Normalerweise boomt Beirut zum Jahresende

Gemäß der UN-Resolution 1701, die nach dem Libanon-Krieg 2006 verabschiedet wurde, ist es der Hisbollah verboten, in der Nähe der Grenze zu Israel zu operieren. Doch die Idee, dass die Regierung die Hisbollah mithilfe der libanesischen Streitkräfte zwingen könnte, sich zurückzuziehen und die Zusammenstöße an der Grenze zu Israel zu beenden, sei nicht einmal Teil der öffentlichen Debatte, sagt David Wood. Denn mit einer solchen Aktion würde die Regierung den Zerfall der Armee riskieren. Es bestünde die Gefahr eines Bürgerkriegs.

Bisher war die Lage an der israelisch-libanesischen Grenze einigermaßen übersichtlich. In der Bevölkerung kehrte in den vergangenen Wochen eine verhaltene Gelassenheit ein. Auch wenn wegen der Kämpfe Zehntausende im Südlibanon ihre Häuser verlassen mussten, galt die große Eskalation als abgewendet. Doch der wirtschaftliche Preis der militärischen Auseinandersetzungen ist hoch - und spürbar. Normalerweise boomt Beirut um die Weihnachtsfeiertage und den Jahreswechsel. In dieser Zeit kommen viele Libanesinnen und Libanesen, die im Ausland leben, zu Besuch. Einige haben ihre Reise wegen der Spannungen an der Grenze jedoch abgesagt.

Das merkt auch Houssam Siafi, der im Hotel Hamra Urban Gardens an der Rezeption arbeitet. Die Buchungen seien verhalten, sagt er. Viele Gäste würden nachfragen, ob der Libanon überhaupt noch sicher sei. Er habe das stets bejaht, sagt Siafi. Auch Adam Ayoub gibt sich trotz der wochenlangen Gefechte im Grenzgebiet unbeeindruckt. Der 18-Jährige mit den langen, braunen Locken arbeitet in einem hippen Beiruter Café. Die ersten fünfzehn bis zwanzig Tage nach dem 7. Oktober habe er noch intensiv die Nachrichten verfolgt. Mittlerweile lese er aber nur noch die großen Schlagzeilen, sagt er, während er routiniert die Hebel der Kaffeemaschine bedient. Angst? Ayoub schüttelt den Kopf. Die habe er nicht. Er kenne es seit seiner Geburt nicht anders. Der Libanon ist kriegsgebeutelt. Der letzte Krieg mit Israel liegt keine 20 Jahre zurück.

Instabilität und Unsicherheit gehören in dem fragmentierten Land zum Leben dazu. Bislang sei er nie wirklich politisch aktiv gewesen und habe auch keiner bestimmten Partei angehört, aber dass die Hisbollah nun tatsächlich zurückschlage, das gefalle ihm irgendwie, sagt Ayoub. "Ich unterstütze sie, weil sie jetzt unsere Grenzen verteidigen."

Dennoch wünscht auch er sich vor allem Frieden. Seine Familie habe im Süden ein Haus. Sein Vater wolle in den nächsten Tagen mal nach dem Rechten schauen, so der junge Libanese. Die Lage bleibt angespannt. Bereits am Freitag will sich der Hisbollah-Chef erneut an die Öffentlichkeit wenden.

Quelle: ntv.de

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