Politik

Übereilter Angriff im Osten? Welche Truppen Putin in den Donbass schickt

Ein Viertel seiner Streitmacht soll Russland bereits verloren haben.

Ein Viertel seiner Streitmacht soll Russland bereits verloren haben.

(Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com)

Vor wenigen Tagen beginnt Russland seine Offensive im Osten der Ukraine. Doch Militärexperten zweifeln, ob die russischen Streitkräfte den Donbass tatsächlich erobern können. Sie sprechen von dezimierten Einheiten, schlechter Moral und verweigerten Befehlen.

Am Abend des 18. April verkündet der ukrainische Präsident, was viele Menschen seit Tagen befürchten: "Die Schlacht um den Donbass" habe begonnen, teilt Wolodymyr Selenskyj mit. Auf breiter Front rücken Tausende russische Soldaten in den Regionen Donezk und Luhansk vor. Auch in der nördlichen Region Charkiw toben weiter Kämpfe. Genauso, wie in der Hafenstadt Mariupol, die schon seit Wochen in Trümmern liegt.

Eine neue, die dritte Phase des Krieges habe begonnen, erklärte Militärexperte Carlo Masala von der Bundeswehr-Universität in München jüngst im "stern"-Podcast "Ukraine - die Lage": "Eine große, schwere Offensive, die möglicherweise sehr lange dauern könnte"

Russische Streitmacht schwindet zügig

Vor gut zwei Wochen hatte Russland die zweite Phase, den Angriff auf Kiew, abgeblasen und sich aus weiten Teilen des Landes zurückgezogen. Statt der ukrainischen Hauptstadt will Präsident Wladimir Putin jetzt den Donbass erobern, um seine selbsternannte "militärische Spezialoperation" doch noch zu retten.

Aber die russische Armee ist dezimiert. Das US-Verteidigungsministerium glaubt, dass Russland in nur zwei Monaten Krieg bereits ein Viertel seiner anfänglichen Streitmacht verloren hat, wie ein ranghoher Beamter des Pentagon Anfang der Woche erklärte. Betroffen seien alle Bereiche, hieß es. Soldaten, Artillerie, Flugzeuge, Hubschrauber, ballistische Raketen und Marschflugkörper.

Bestätigen lassen sich die Angaben nicht. Daraus lässt sich auch nicht ablesen, wie viele russische Truppen noch einsatzfähig sind. Aber schon Ende März war berichtet worden, dass 40.000 russische Soldaten außer Gefecht sind, weil sie in der Ukraine getötet, verwundet oder gefangen genommen wurden. Russland verzeichnet sehr hohe Verluste in sehr kurzer Zeit - das ist ein Grund dafür, warum sich Militärexperte Masala keinen schnellen russischen Erfolg im Donbass vorstellen kann.

"Russland ist noch nicht bereit"

Diese Einschätzung deckt sich mit den ersten Erkenntnissen der russischen Ost-Offensive. Nach fast zwei Monaten brutaler Bombardements hat Russland die Überreste der Hafenstadt Mariupol anscheinend doch noch erobert. Abgesehen davon erkennen Militärbeobachter aber nur wenige Fortschritte. Zuletzt vermeldete das britische Verteidigungsministerium in seinem Geheimdienst-Update sogar das Gegenteil: Die Ukraine wehre etliche Angriffe erfolgreich ab, hieß es unter der Woche. Denn anders als die russischen Truppen scheinen die ukrainischen motiviert, strategisch bestens aufgestellt und von kompetenten Köpfen ins Schlachtfeld geführt.

"Russland ist noch nicht für eine Großoffensive bereit", beginnen die amerikanischen Militärexperten des "Institute for the Study of War" ihren täglichen Lagebericht vom 19. April. Sie sind nach der Analyse unterschiedlicher Quellen überzeugt, dass die russischen Truppen, die aus der Region Kiew abgezogen wurden, noch Zeit brauchen, um sich für den Angriff im Osten neu aufzustellen. "Die Russen scheinen anzugreifen, obwohl Logistik und Militärführung noch nicht eingerichtet sind", heißt es.

Möglicherweise, weil der russische Präsident erneut auf einen schnellen Sieg drängt: Am 9. Mai, dem Tag des russischen Sieges über Nazi-Deutschland, soll der Donbass erobert sein. "Russland hat so viel in die Waagschale geworfen, so horrende Verluste erlitten", meint auch Joachim Weber, Experte für Sicherheitspolitik von der Universität Bonn bei ntv. "Putin muss jetzt Erfolge produzieren."

Sieg bis zum 9. Mai

Nach allem, was man weiß, sollte die "militärische Spezialoperation" nur wenige Tage dauern und mit der Eroberung von Kiew sowie der Absetzung oder Ermordung des ukrainischen Präsidenten Selenskyj enden. Eine gigantische Fehleinschätzung, die sich jetzt wiederholen könnte. Denn das Ziel, den Donbass bis zum 9. Mai zu erobern, sei "willkürlich festgelegt", schreiben die Militärstrategen des "Institute for the Study of War". Das könne den russischen Angriff erschweren oder sogar gefährden.

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Denn schon seit einer ganzen Weile zeichnet sich ab, dass eine Neuaufstellung der russischen Streitmacht schwierig wird: Kriegsgerät wie Panzer wurde zerstört, stark beschädigt oder von ukrainischen Bauern gestohlen und kann anscheinend weder ersetzt noch repariert werden. Laut dem ukrainischen Geheimdienst fehlen unter anderem wegen der westlichen Sanktionen dringend benötigte Ersatzteile. Das Pentagon teilt diese Einschätzung.

Nicht besser ist die Lage bei den russischen Soldaten. Ihre Moral soll aufgrund der hohen Verluste im Keller sein, ihr Gehorsam gegenüber den Offizieren schwinden. Viele Truppen aus Kiew würden eine Rückkehr in die Ukraine verweigern, meldet der ukrainische Militärgeheimdienst. Auch, weil Bonuszahlungen, die ihnen einen weiteren Einsatz schmackhaft machen sollten, den Angaben zufolge vielfach zu spät oder gar nicht überwiesen wurden.

Die Meldung des US-Verteidigungsministeriums, wonach bisher vor allem angeschlagene und notdürftig zusammengestellte Kampfeinheiten aus der Region Kiew in den Osten der Ukraine verlegt wurden, verwundert daher kaum. Ebenso wenig, dass mehr als die Hälfte der nördlichen Truppen noch immer bei Belgorod, ganz nahe an der ukrainischen Grenze, auf neue Ausrüstung wartet.

Kämpfer ohne Kampferfahrung

Ein Problem, denn obwohl die russischen Streitkräfte in ihrer Gesamtheit mehr als eine Million aktive Soldaten umfassen, waren die 150.000 Soldaten, mit denen Russland am 24. Februar in die Ukraine einmarschierte, praktisch schon das gesamte verfügbare Heer, wie Joachim Weber von der Uni Bonn bereits vor einigen Wochen im ntv-Podcast "Wieder was gelernt" erklärte. Denn bei heutigen Armeen sei es so, dass von zehn Soldaten nur einer kämpfe, sagt der Experte für Sicherheitspolitik. "Die anderen neun sind für Dinge wie Kampfunterstützung, Reparaturen und Wartung, für Logistik und Nachschub zuständig."

Wie viele Truppen Russland für die Offensive im Donbass noch zur Verfügung stehen, kann niemand genau sagen, aber Weber ist überzeugt: Putin könne den Angriff nicht mehr nennenswert verstärken, ohne sich an anderen Stellen "extrem verwundbar zu machen".

Dazu passt ein Bericht der ukrainischen Armeeführung, wonach das russische Militär Truppen, die eigentlich auf dem Weg nach Syrien sein sollten, zurückbeordert und in den Donbass verlegt hat. In der Heimat soll Russland zudem ehemalige Soldaten rekrutieren, um erlittene Verluste auszugleichen. In den selbsternannten Republiken Donezk und Luhansk wurden mehrere Hundert Bürger für die Offensive zwangseingezogen - allerdings hätten nur fünf bis zehn Prozent von ihnen bisher irgendeine Art von Kampferfahrung, heißt es.

Ähnlich soll es mit den Soldaten aus den abtrünnigen georgischen Regionen Südossetien und Abchasien aussehen. So stellt es jedenfalls US-General Michael Repass, der vor seinem Ruhestand in Europa stationiert war, in der "New York Times" dar: Sie hätten bisher nur in Friedensmissionen, nicht in Kampfeinsätzen gedient, sagt er zur Erklärung. Zahlenmäßig sollen sie ebenfalls keine große Hilfe für das russische Militär sein: Es handele sich lediglich um wenige Hundert Soldaten, selbst wenn man die Truppen aus Tschetschenien und Syrien mit einrechne, zitiert die Zeitung europäische Geheimdienste.

"Russland fehlen Truppen"

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Alles in allem befinden sich dem US-Verteidigungsministerium zufolge derzeit 78 sogenannte Taktische Bataillonskampfgruppen der russischen Armee in der Ukraine. Jede dieser BTG ist etwa 800 bis 1000 Soldaten groß. Im besten Fall stünden Wladimir Putin also noch 78.000 eigene Soldaten für die Eroberung des Donbass zur Verfügung. Wobei unklar ist, wie gut oder schlecht die einzelnen Verbände nach zwei Monaten Krieg noch aufgestellt sind.

Eher schlecht, glaubt Michael Kofman. Der Direktor für Russland-Studien an der amerikanischen Militärdenkfabrik CNA war vor wenigen Tagen in der "New York Times" überzeugt: "Russland fehlen Truppen. Sie sind nicht gut für einen längeren Krieg aufgestellt."

"Wieder was gelernt"-Podcast

"Wieder was gelernt" ist ein Podcast für Neugierige: Warum wäre ein Waffenstillstand für Wladimir Putin vermutlich nur eine Pause? Warum fürchtet die NATO die Suwalki-Lücke? Wieso hat Russland wieder iPhones? Mit welchen kleinen Verhaltensänderungen kann man 15 Prozent Energie sparen? Hören Sie rein und werden Sie dreimal die Woche ein wenig schlauer.

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(Dieser Artikel wurde am Freitag, 22. April 2022 erstmals veröffentlicht.)

Quelle: ntv.de

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