Politik

Oliver Stone: Die Geschichte Amerikas Spiegel für "großartigstes Land der Welt"

Oliver Stone vor der "Atombombenkuppel" in Hiroshima. Stone und sein Co-Autor Peter Kuznick trafen sich dort im August mit Überlebenden.

Oliver Stone vor der "Atombombenkuppel" in Hiroshima. Stone und sein Co-Autor Peter Kuznick trafen sich dort im August mit Überlebenden.

(Foto: ASSOCIATED PRESS)

An diesem Montag startet bei n-tv "Die Geschichte Amerikas" von Hollywood-Regisseur Oliver Stone. Seine Interpretation der amerikanischen Geschichte ist nicht unumstritten: Vom Kalten Krieg bis zum Krieg gegen den Terror wirft Stone den USA eine Politik der permanenten Konfrontation vor.

n-tv.de: Bei seiner "Geschichte Amerikas" hat Oliver Stone mit Peter Kuznick zusammengearbeitet, einem Historiker der American University in Washington. Was hätten Sie gesagt, wenn Stone Sie gefragt hätte?

Michael Cullen: Ich hätte Ja gesagt, aber ich bin nicht sicher, ob wir dann zu einem Ergebnis gekommen wären. Stone benutzt spannende Bilder, aber an einigen Stellen ist mir das Ergebnis zu suggestiv.

Dr. Andreas Etges ist Historiker am Amerika-Institut der Ludwig-Maximilians-Universität München. Einer seiner Schwerpunkte ist die Geschichte der US-Außenpolitik.

Dr. Andreas Etges ist Historiker am Amerika-Institut der Ludwig-Maximilians-Universität München. Einer seiner Schwerpunkte ist die Geschichte der US-Außenpolitik.

(Foto: n-tv.de)

Andreas Etges: Weil ich die Filme von Oliver Stone kenne, hätte ich ziemliche Bedenken gehabt - auch wenn ich sagen muss, dass mich die Serie insgesamt wirklich positiv überrascht hat. Stone hat eine klare politische Agenda, es gibt die Guten und die Bösen, die Helden und die Bösewichte. Aber seine Darstellung folgt nicht den Verschwörungstheorien, die er zum Teil in seinen Filmen verarbeitet hat. Selbst bei Kennedys Ermordung hält er sich sehr zurück.

Die Serie ist also deutlich seriöser als seine Spielfilme?

Cullen: Auf jeden Fall. Ich hatte erwartet, dass Stone die alte Geschichte serviert, dass Präsident Roosevelt wusste, dass die Japaner einen Angriff auf Pearl Harbor planen. Stone hat jahrelang damit operiert. In der Serie taucht das glücklicherweise nicht auf.

Oliver Stone wendet sich mit seiner "Geschichte der USA" vehement gegen das Konzept des "American Exceptionalism". Worum geht es da?

Etges: Es ist eine der Mythen, die die Identität des Landes prägen. "American Exceptionalism" bedeutet, dass sich die USA vom klassischen Entwicklungspfad der europäischen Staaten entfernt haben und Freiheit, Liberalität und Chancengleichheit verkörpern. Implizit ist damit auch gemeint, dass die USA immer für das Gute stehen - egal, was sie machen.

Gottes eigenes Land?

Etges: Gott spielt da auch eine Rolle, aber es sind auch nicht-religiöse Ideen damit verbunden: etwa das Sendungsbewusstsein, das Land zu erschließen, es zu besiedeln und "Freiheit" und Demokratie" auszuweiten. In der amerikanischen Politik spielt dieses Konzept bis heute eine wichtige Rolle, auch Präsident Obama benutzt es häufig. Letztlich heißt es: Amerika ist das großartigste Land der Welt. Diese Position findet man in gewisser Weise auch bei Stone. Er sagt, Amerika könnte das großartigste Land sein, wenn es nur nach den Prinzipien handeln würde, für die es eigentlich steht.

Michael S. Cullen ist Historiker und Journalist. Der gebürtige Amerikaner war Ideengeber für das Projekt "Verhüllter Reichstag". Er lebt seit 1964 in Berlin.

Michael S. Cullen ist Historiker und Journalist. Der gebürtige Amerikaner war Ideengeber für das Projekt "Verhüllter Reichstag". Er lebt seit 1964 in Berlin.

(Foto: n-tv.de)

Cullen: Obama hat erst kürzlich vom "American Exceptionalism" gesprochen, als er eine Rede über Syrien gehalten hat. Für ihn war es der Grund, warum die USA den Syrern helfen müssen. Dafür hat er gleich vom russischen Präsidenten eins aufs Dach bekommen. Für Putin ist der "American Exceptionalism" Ausdruck eines amerikanischen Imperialismus.

Im Original läuft die Serie unter dem Titel "The Untold History of the United States". Eigentlich wollte Stone sie sogar "The Secret History of the United States" nennen. Gibt es wirklich etwas Neues darin?

Cullen: Neu im Sinne einer Enthüllung ist das nicht. Aber Stone präsentiert eine andere Sicht, die der allgemein akzeptierten Geschichte der USA in einigen Punkten widerspricht. Dazu pickt er sich ein paar Rosinen heraus - vor allem die Geschichte von Henry Wallace, die in der amtlichen Geschichtsschreibung viel kürzer kommt. Geheim ist das nicht, es ist nur wenig bekannt.

Stone und Kuznick sagen, dass ihre Darstellung dem akademischen Konsens entspricht. Ist dieses sehr kritische Geschichtsbild tatsächlich Konsens unter Historikern in den USA?

Etges: Nicht in jedem Punkt, aber im Großen und Ganzen wird die amerikanische Geschichte an den Universitäten in den USA heute so gelehrt. Ich bin Mitglied im Verband der Außenpolitikhistoriker in den USA. Die Mehrheit meiner Kollegen und Kolleginnen haben einen ähnlich kritischen Blick auf den Vietnamkrieg oder auf Präsident George W. Bush. Aber das ist natürlich ein ganz anderes Geschichtsbild, als etwa im "History Channel" transportiert wird.

Henry A. Wallace war Vizepräsident von Franklin D. Roosevelt, wurde aber im Wahlkampf 1944 durch den bis dahin unbekannten Harry Truman ersetzt. Stone spricht viel darüber, was anders gelaufen wäre, wenn im April 1945, als Roosevelt starb, Wallace statt Truman Präsident geworden wäre.

Henry A. Wallace bei einer Radio-Ansprache im Jahr 1942.

Henry A. Wallace bei einer Radio-Ansprache im Jahr 1942.

(Foto: AP)

Cullen: Wallace war sicherlich ein interessanter Mann, und ich habe bisher viel zu wenig über ihn gewusst, von daher kann ich sagen, ich habe etwas gelernt. Aber für meinen Geschmack übertreibt Stone es ein wenig. Ich glaube sogar, das ist der Kern seiner "Untold History": die Rehabilitierung von Henry Wallace.

Etges: Für Stone ist die Verdrängung von Wallace letztlich die Ursünde der amerikanischen Außenpolitik im 20. Jahrhundert. Mit Wallace als Präsident hätten die Amerikaner die Russen nicht bekämpft, sondern mit ihnen kooperiert - so stellt Stone es dar.

Cullen: Wallace hätte die Bombe nicht entwickelt, Wallace hätte die Bombe nicht abgeworfen ... aber wer weiß, was er wirklich getan hätte, wenn er an der Macht gewesen wäre.

Oliver Stone sagt, Truman habe die Atombomben über Hiroshima und Nagasaki abgeworfen, weil er die Russen abschrecken wollte.

Cullen: Das war ein Nebenaspekt. Ich glaube aber schon, dass Truman geglaubt hat, aus guten Gründen etwas Gutes zu tun. Er wollte den Krieg schnell zu Ende bringen. Natürlich gab es noch andere Gründe. Es gab zum Beispiel Lieutenant General Leslie Groves, den militärischen Leiter des Manhattan Project. Der wollte um jeden Preis einen Erfolg haben.

Nagasaki wurde am 9. August 1945 bombardiert, drei Tage nach Hiroshima.

Nagasaki wurde am 9. August 1945 bombardiert, drei Tage nach Hiroshima.

Etges: Wenn ich mit meinen Studenten darüber diskutiere, versuche ich zunächst verständlich zu machen, welche Punkte aus amerikanischer Sicht für den Abwurf der Atombomben sprachen. Es gab ja bereits massenhafte Todesopfer durch die Feuerstürme in den bombardierten Städten in Japan - das zeigt Oliver Stone ja auch. In diesem Krieg wurden zehntausende Menschen in einer Nacht umgebracht, auch ohne Atombombe. Grundsätzlich gilt: Wenn amerikanische Präsidenten Krieg führen, sind sie eher bereit, viele Tote der Gegenseite hinzunehmen, um möglichst wenige US-Soldaten zu opfern. Wenn Truman darauf verzichtet hätte, die Atombomben zu werfen, hätte er sich später vorwerfen lassen müssen, viele tausend US-Soldaten auf dem Gewissen zu haben. Das bedeutet aber nicht, dass der Atombombenabwurf nicht moralisch und ethisch in Frage gestellt werden kann. In dem Dokumentarfilm "Fog of War" bringt es Kennedys Verteidigungsminister Robert McNamara, der 1945 als Stabsoffizier mit im Planungsstab für die konventionellen Luftangriffe auf Japan arbeitete, auf den Punkt: Hätten die USA den Krieg verloren, so wären die Verantwortlichen als Kriegsverbrecher vor Gericht gestellt worden - zu Recht, so McNamara.

Wie finden Sie das Stalin-Bild, das Oliver Stone transportiert?

Etges: Mir gefällt, dass Stone auch beim Kalten Krieg immer wieder versucht zu zeigen: Wie haben die anderen die Amerikaner gesehen? In der vorherrschenden Perspektive sehen sich die Amerikaner beständig bedroht: zuerst vom Kommunismus, heute vom Terrorismus. Stone dreht den Spiegel gewissermaßen um. Er zeigt, dass auch die Sowjetunion Grund hatte, sich von den USA bedroht zu fühlen. Aber an einigen Stellen kommt Stalin sicherlich zu gut weg.

Churchill, Roosevelt und Stalin am 4. Februar 1945 beim Treffen im Kurort Jalta auf der Krim.

Churchill, Roosevelt und Stalin am 4. Februar 1945 beim Treffen im Kurort Jalta auf der Krim.

(Foto: ASSOCIATED PRESS)

Am Ende der Serie ruft Stone die Amerikaner ausdrücklich dazu auf, die Welt durch die Augen ihrer Gegner zu sehen.

Etges: Ja, und das ist ein guter Perspektivenwechsel, den er immer wieder reinbringt.

Stone betont, dass die Sowjetunion beim Sieg über Nazideutschland den Löwenanteil getragen habe.

Cullen: Aber wie misst man das? An Opfern hat die Sowjetunion zweifellos am meisten verloren, dreißig bis vierzig Millionen Menschen, so genau weiß man das nicht. Bei den Amerikanern war die Zahl sehr viel kleiner, da sind es 400.000 Tote. Die USA kämpften stärker mit ihrer technischen und wirtschaftlichen Überlegenheit. Sie produzierten 1000 Kriegsschiffe pro Jahr. In der Oakland Bay, der Bucht von San Francisco, lief täglich ein Schiff vom Stapel. Dazu war die Sowjetunion nicht in der Lage.

Etges: Richtig ist sicherlich, dass es in den USA nur wenig Bewusstsein für den russischen Anteil am Sieg über Hitler gibt. In Hollywood-Filmen über den Zweiten Weltkrieg kommen die Russen in der Regel nicht vor, und wenn, dann werden die Deutschen - nicht die Nazis - oft besser dargestellt als sie. Stone betont zu Recht in der Passage über Kennedy, dass er der erste Präsident war, der aussprach, wie viele Millionen Menschen die Russen während des Zweiten Weltkriegs verloren hatten. Das war in seiner berühmten Rede an der American University.

Hätte der Kalte Krieg vermieden werden können, wenn Wallace Präsident geworden wäre?

Etges: Zu Konflikten wäre es in jedem Fall gekommen. Mich stört an Stone, dass er nur Truman kritisiert, nicht Roosevelt. Man muss sich das vorstellen: Roosevelt ist todkrank, er hat einen neuen Vizepräsidenten, Deutschland und Japan sind noch nicht besiegt. Trotzdem bindet er den Vizepräsidenten nicht in Verhandlungen und Entscheidungen ein. Bis Truman Präsident wurde, hatte er nichts vom Manhattan-Projekt gehört. Das war unverantwortlich.

Stone zufolge war das Misstrauen der USA die zentrale Ursache für den Kalten Krieg.

Cullen: Das Misstrauen war tatsächlich groß. Ein Beispiel: Die Amerikaner hatten schon 1943 eine Besatzungswährung für Deutschland geplant. Die Russen erfuhren davon und wollten da mitmachen, aber die Amerikaner wollten das nicht - sie trauten den Sowjets nicht. Am Ende gelang es sowjetischen Agenten in den USA, die Druckplatten für die Banknoten in die Hände zu bekommen. Sie konnten sie jedoch nicht duplizieren, daher hatten sie nichts von ihrer Entdeckung.

Lassen Sie uns zu Kennedy springen. Bei Stone ist Kennedy ein Präsident, der zwar ein paar Fehler gemacht hat, aber letztlich das Gute wollte. Zum Beispiel habe er die Invasion in der Schweinebucht 1961 nicht gewollt. War das so?

Etges: Kennedy befand sich in einer Zwangslage. Im Wahlkampf hatte er sich als Kalter Krieger gezeigt und Präsident Eisenhower als zu schwach kritisiert. Von Eisenhower übernahm er dann die Pläne für die Invasion in der Schweinebucht. Wenn Kennedy das abgeblasen hätte, wäre er innenpolitisch beschädigt gewesen.

Im Oktober 1962 bringt dann die Kuba-Krise die Welt an den Rand des Dritten Weltkriegs. Führte das wirklich dazu, dass Kennedy dachte, jetzt müssen wir uns mit den Russen einigen und das Rüsten beenden?

November 1962: Die Raketen werden wieder abtransportiert. Dass auch die Amerikaner Raketen aus der Türkei abziehen, wird erst später bekannt.

November 1962: Die Raketen werden wieder abtransportiert. Dass auch die Amerikaner Raketen aus der Türkei abziehen, wird erst später bekannt.

Cullen: Den Showdown in der Raketenkrise wollten weder Kennedy noch Chruschtschow. Beide befanden sich in einer Zwangslage. Chruschtschow lieferte den Kubanern die Raketen, und Kennedy konnte nicht erlauben, dass die in seinem "Hinterhof" aufgestellt wurden. Seine erste Reaktion war die Blockade. Das hat ja auch teilweise funktioniert. Aber am Ende lief einiges schief.

Etges: Stone stellt die Kuba-Krise zu Recht in einen größeren Kontext. Es waren nicht nur die bösen Russen, die die Verantwortung für die Eskalation trugen. Am Ende erkannten beide Seiten, dass sie zu weit gegangen waren.

Cullen: Trotzdem sah Kennedy als Sieger aus, weil der geheime Deal erst später bekannt wurde. Nicht nur die Russen zogen ihre Raketen aus Kuba ab, auch die Amerikaner holten ihre Raketen aus der Türkei zurück. Dieser Teil des Deals sollte allerdings geheim bleiben.

Etges: Bemerkenswert ist, dass sich die Russen immer daran gehalten haben. Selbst als Chruschtschows Karriere zu Ende ging, unter anderem weil er aus der Kuba-Krise als "Verlierer" hervorgegangen war, wurde dieses Geheimabkommen nicht öffentlich gemacht. Ich habe vor zehn Jahren mal einen der engsten Chruschtschow-Berater, Valentin Falin, kennengelernt. Da habe ich ihn gefragt, warum die Russen nicht ausgeplaudert haben, dass auch die USA in der Kuba-Krise eingeknickt waren. Er sagte, man habe damals angefangen, miteinander zu verhandeln - die Sowjets hätten diese Vertrauensbasis nicht zerstören wollen.

Über Kennedys Ermordung heißt es bei Stone, man werde nie erfahren, wer für die Ermordung verantwortlich war, aber man wisse, dass zu Kennedys Feinden einige derselben Kräfte gehört hatten, die Henry Wallace 1944 abgesägt hatten. Hatte Kennedy sich tatsächlich so viele Feinde gemacht?

Am 22. November 1963, dem Tag seiner Ermordung, warten Kennedy-Gegner auf dem Flughafen von Dallas auf die Ankunft des Präsidenten.

Am 22. November 1963, dem Tag seiner Ermordung, warten Kennedy-Gegner auf dem Flughafen von Dallas auf die Ankunft des Präsidenten.

(Foto: AP)

Cullen: Hillary Clinton hat ja bereits 1998 von der "vast right-wing conspiracy" gesprochen, also von der großen Verschwörung der Rechten. Mittlerweile glaube ich, dass auch die Linksliberalen ihre Verschwörungen haben. Kennedy hat mit der Mafia zusammengearbeitet, mit Frank Sinatra, mit diesen ganzen Leuten. Klar ist auch, dass es viele Leute gab, die froh waren, dass Kennedy weg war, auch Leute in den Geheimdiensten und in der Armee. Trotzdem bin ich sicher, dass Lee Harvey Oswald ein Einzeltäter war. Ein Mordplan der CIA, um den Präsidenten zu beseitigen? Das ist absurd.

In den späteren Folgen der Serie legt Stone einen Schwerpunkt auf all die Länder, in denen die USA direkt oder indirekt interveniert haben: Griechenland nach dem Zweiten Weltkrieg, Iran 1953, Kuba 1961, Brasilien 1964, Indonesien 1965/66, Vietnam, Kambodscha, Chile 1973, Afghanistan 1979, Nikaragua, das Massaker in El Salvador 1981, Panama 1989, Irak 1990, Afghanistan 2001, Irak 2003 - die Liste ist ziemlich lang. Ist es fair, wenn Stone einen Strich unter all diese Interventionen zieht und sagt, das war alles falsch?

Cullen: Ich finde, damit hat er zu 90 Prozent Recht. Wir sollten uns sehr viel häufiger einfach heraushalten. Der zweite Irak-Krieg war absolut idiotisch. Nach den Nürnberger Prozessen wäre das strafbar gewesen. Bei vielen anderen Dingen, wie dem Putsch in Chile, haben wir Amerikaner uns verhoben. Da gibt es eine ganz Reihe von Interventionen, die nicht hätten sein dürfen. Das meiste passierte aus wirtschaftlichen Gründen, da muss ich Stone zustimmen.

Etges: Das sehe ich ähnlich. Was mir bei Stone ein bisschen zu kurz kommt ist, dass der Zweite Weltkrieg für eine fundamentale Änderung im amerikanischen Sicherheitsdenken gesorgt hat. Die nationale Sicherheit wurde jetzt nicht mehr an den Landesgrenzen verteidigt, sondern weltweit. Insofern ist der Krieg gegen den Terrorismus eine Spiegelung des Kalten Krieges. Natürlich gab es auch handfeste wirtschaftliche Interessen, aber viele der Kalten Krieger waren in einem Konsens gefangen. Eine Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg war eben auch: kein Appeasement mehr. Korea war da sozusagen der Testfall: Wenn Amerika seine Freunde nicht schützt, die Angst bei allen Präsidenten, denkt die andere Seite beim nächsten Mal, dass Amerika nicht eingreifen wird und auch die eigenen Verbündeten würden an Amerikas Glaubwürdigkeit zweifeln. Das ist auch eine Erklärung für Vietnam: Ökonomisch war das Land nicht wichtig, aber jeder Präsident hatte Angst davor, die Truppen abzuziehen. Alle Präsidenten waren in dieser schrecklichen Logik gefangen.

Stone rechnet die 2500 Toten des Volksaufstands in Ungarn gegen die Opfer von US-Interventionen in Dritte-Welt-Ländern auf. Ist das ein legitimer Vergleich?

Cullen: Wo sind die Maßstäbe? Gemessen an den eigenen Ansprüchen sind die Amerikaner sicherlich schlimmer. Weil sie gegen ihre eigenen Maßstäbe verstoßen.

Etges: Ich denke auch, dass man so eine Rechnung nicht machen kann. Geschichte ist viel komplizierter. Aber es stimmt: Im Namen der westlichen "Freiheit" wurden viele Verbrechen begangen.

Die Serie endet mit dem Appell, es doch anders zu machen. Zu seinen Momenten der Hoffnung gehört auch die Wahl von Barack Obama, obwohl er ihn als "Wolf im Schafspelz" bezeichnet.

Cullen: Stone wäre bestimmt nicht für Romney oder McCain, aber Obama ist eine Enttäuschung. Das muss man sagen. Auch für die, die ihn gewählt haben - wie mich.

Aber gibt es diese Hoffnung? Stones Theorie ist ja, dass Amerika immer einen Gegner braucht, den es bekämpfen kann.

Cullen: Es gibt nicht dieses eine Amerika. Es gibt viele Amerikas. Es gibt diese verrückten Typen von der Tea Party, die im Repräsentantenhaus 40 Mal versucht haben, Obamas Gesundheitsreform zu kippen. Aber es gibt auch das andere Amerika.

Etges: Dennoch gibt es eine gewisse Tendenz zum Extremen in den USA - eine Tendenz, jeden Gegner als "unamerikanisch" zu diffamieren. Das war im Kalten Krieg so, das war auch so, als George W. Bush die Welt nach 9/11 in Gut und Böse eingeteilt hat: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.

Also können die USA die Welt nie durch die Brille ihrer Gegner sehen?

Cullen: Eine offene Gesellschaft hat immer die Möglichkeit, sich selbst zu reinigen, geschlossene Gesellschaften haben es da schwerer. Nehmen Sie die Sowjetunion: Kaum ein Staats- und Parteichef hat seine Memoiren geschrieben. In den USA macht das praktisch jeder Präsident, jeder Außenminister. Als Chruschtschow seine Memoiren schrieb, war das eine unglaubliche Ausnahme.

Etges: Die Offenheit ist ein wichtiger Punkt: Man weiß mehr über die amerikanischen Verbrechen. Da ist es auch leichter, zu kritisieren.

Mit Michael S. Cullen und Andreas Etges sprach Hubertus Volmer

Quelle: ntv.de

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