Wirtschaft

Rückgang der Investitionen Steht Deutschland am "Beginn der Deindustrialisierung"?

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Die finanziellen Aufwendungen ausländischer Firmen in Deutschland schrumpften laut IW, das sich auf Zahlen der OECD beruft, auf 10,5 Milliarden Euro.

Die finanziellen Aufwendungen ausländischer Firmen in Deutschland schrumpften laut IW, das sich auf Zahlen der OECD beruft, auf 10,5 Milliarden Euro.

(Foto: picture alliance / SvenSimon)

Top-Manager warnen seit Monaten vor einem zunehmenden Abgang von Unternehmen ins Ausland, gepaart mit rasant sinkenden Investitionen in Deutschland. Angaben von Managern und Zahlen aus der Wissenschaft belegen den Trend. Olaf Scholz und Robert Habeck sprechen von Panikmache.

Wenn es eine Wahl zum "Schwarzseher des Jahres" unter den Vorstandschefs der Dax-Konzerne gebe, hätte BASF-Chef Martin Brudermüller 2022 beste Chancen gehabt. Er warnte im April - Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine war knapp sechs Wochen im Gang - vor einem kompletten Importstopp von Gas- und Öllieferungen aus Russland. "Das könnte die deutsche Volkswirtschaft in ihre schwerste Krise seit Ende des Zweiten Weltkriegs bringen", sagte Brudermüller damals der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" und fragte: "Wollen wir sehenden Auges unsere gesamte Volkswirtschaft zerstören?"

Mehr als ein Jahr später wissen wir: Deutschland hat die Situation im Griff gehabt, erlebte keine Stromausfälle, zudem ging die Industrie offenkundig mit Energie effizienter um. Die Bundesrepublik verzeichnete 2022 ein Wachstum von 1,9 Prozent. Alles gut also? Mitnichten. In der Wirtschaft ist eine große Verunsicherung erkennbar, das Land steckt in einer Rezession - und das böse Wort von der "Deindustrialisierung" macht immer häufiger die Runde, was heißt, dass Unternehmen oder einzelne Produktionsstätte das Land auf Nimmerwiedersehen verlassen.

Als die "Wirtschaftswoche" Robert Habeck unter Hinweis, dass BASF wegen der hohen Energiepreise Stellen abbauen wolle, fragte, wie er die Lage einschätze, sagte der Bundeswirtschaftsminister: "Das Schlagwort 'Deindustrialisierung' ist eines, das in interessierten Kreisen zirkuliert. Aber es wird der Wirklichkeit und Dynamik überhaupt nicht gerecht. Wir registrieren gerade große Investitionen in Deutschland." Thyssenkrupp und Salzgitter bauten die erste grüne Stahlfertigung auf. ZF wolle in Saarbrücken Halbleiter produzieren, Infineon erweitere den Standort Dresden.

IW: Größter Rückgang seit Nachkriegszeit

Der Ökonom Thomas Fricke stützt Habecks Aussagen. Der Mitgründer des Forum New Economy warnt vor "falschen Krisenpropheten" und der "Rückkehr der Gaga-Economics". In einem Beitrag für den "Spiegel" führte Fricke als ein Beispiel für seine Position eine Umfrage des Beratungskonzerns EY an, wonach ausländische Unternehmen "immer weniger in Deutschland investieren". Bei "näherem Hinsehen" entpuppten sich die Zahlen "nur als stark energiekrisenbedingt und vorübergehend".

Frickes Position, die düsteren Prognosen als lobbygetriebene, kollektive Schwarzmalerei, also "typisch Deutschland", abzutun, stehen Berechnungen der Wissenschaft und mehreren Umfragen unter Top-Managern entgegen. Nach Erkenntnissen des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) haben Unternehmen noch nie so viel Geld aus der Bundesrepublik ins Ausland transferiert wie im vergangenen Jahr. Der IW-Studie zufolge war der Rückgang unter dem Strich der größte der Nachkriegszeit: Die Lücke zwischen Direktinvestitionen heimischer Firmen außerhalb Deutschlands und ausländischer Firmen hierzulande ergab ein Minus von 125 Milliarden Euro. Das heißt: Letztere schränken ihr Engagement mehr oder weniger drastisch ein oder machen gleich einen Bogen um die Bundesrepublik.

Die finanziellen Aufwendungen ausländischer Firmen in Deutschland schrumpften laut IW, das sich auf Zahlen der OECD beruft, auf 10,5 Milliarden Euro. Unternehmen mit Hauptsitz zwischen Ostsee und Alpenrand hätten jedoch rund 135,5 Milliarden Euro im Ausland direkt investiert. Der Abwärtstrend habe vor der Corona-Pandemie mit ihren Lieferengpässen und dem russischen Überfall auf die Ukraine sowie den damit verbundenen hohen Energiepreisen begonnen. "Im schlimmsten Fall ist das der Beginn der Deindustrialisierung", erklärte das Institut zu seiner Erhebung.

Hemmnis ist auch eklatanter Mangel an Arbeitskräften

Auch hier haben es Ökonomen mit gegenteiliger Meinung leicht, die Zahlen als Alarmismus zu werten - das IW ist bekanntlich arbeitgebernah. Ignoriert werden kann die Entwicklung aber auch nach Ansicht des Präsidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, nicht. Der DIW-Chef, der politisch eher links steht, erklärte in einem Beitrag für das "Handelsblatt" zwar: "Aktuelle Zahlen deuten nicht darauf hin, dass der Untergang ganzer Industriezweige unmittelbar bevorsteht." Allerdings: "Verschläft die deutsche Wirtschaft weiterhin die ökologische Transformation und die Digitalisierung, könnte eine Deindustrialisierung in zehn bis 15 Jahren tatsächlich Realität werden."

Das passt zu der Aussage des Hauptgeschäftsführers des Verbands der Chemischen Industrie (VCI), Wolfgang Große Entrup. Er spricht von einer "schleichenden Deindustrialisierung". Unternehmen steckten zwar noch Geld in den Erhalt bestehender Anlagen, sagte er der "Berliner Zeitung". Doch neue Investitionen seien rar. Es fehle an internationaler Wettbewerbsfähigkeit. Als Ursache nennt er die hohen Energiepreise - weshalb die Branche Vorteile beim Industriestrom verlangt.

Die Unternehmensberatung Deloitte befragte 120 Managerinnen und Manager aus der deutschen Industrie, die für Einkauf und Logistik zuständig sind. Ergebnis: Die Hälfte (52 Prozent) gab an, dass Deutschlands Image als attraktiver Standort schon schwer gelitten habe - mit anhaltender Negativ-Tendenz. Etwas weniger (45 Prozent) schätzte das Risiko der Deindustrialisierung als "groß oder sehr groß" ein.

Als großes Hemmnis werden auch ein eklatanter Mangel an Arbeitskräften und die ständig wachsende Bürokratie genannt: "Wir haben im Moment die Situation, dass eine Firma ständig aus Brüssel, aus Berlin oder auch aus den Bundesländern mit neuen Verordnungen, Rechtsvorschriften, Maßnahmen, Gesetzen konfrontiert wird", erklärte der Präsident der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK), Peter Adrian, kürzlich. Zur Rezession sagte er: "Wir sind eines der wenigen Länder in Europa, die wieder unter dem Vor-Corona-Niveau bei der Wirtschaftsleistung sind. Das ist ein Alarmsignal."

Das Szenario könnte überzogen sein

Also doch die alte Masche, den Teufel an die Wand zu malen, um Forderungen durchzudrücken? Wenn es so ist, hält auch die Chefin des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Yasmin Fahimi, einen Pinsel in der Hand. "Es ist wirklich nach wie vor existenzbedrohend, was sich derzeit in der Industrie abspielt", sagte sie Ende Dezember der dpa. Auch sie nahm das Wort "Deindustrialisierung" in den Mund. "Je tiefer die Schnitte in die Wertschöpfungskette werden, je mehr Unternehmen der Wertschöpfungskette Deutschland verlassen, desto dramatischer wird der Dominoeffekt sein", sagte Fahimi. "Und das ist keine Frage von zwei, drei Jahren. Das ist eine Frage von ein bis drei Quartalen in 2023. Das muss allen politisch Verantwortlichen klar sein."

Das Szenario könnte überzogen sein, ist aber nicht unwahrscheinlich. In einer im April veröffentlichten Umfrage des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) unter Mitgliedsunternehmen gaben 16 Prozent an, Teile der Produktion und Arbeitsplätze ins Ausland zu verlagern. Weitere 30 Prozent dächten "konkret darüber nach", sagte BDI-Präsident Siegfried Russwurm. Die Politik stehe in der Verantwortung, die Rahmenbedingungen zu verbessern.

Die "Bild am Sonntag" verwies in einem Interview mit Olaf Scholz auf eine mögliche Deindustrialisierung Deutschlands und andere Entwicklungen wie dem freiwilligen Abschied von Linde, dem bis dahin wertvollsten Konzern am deutschen Aktienmarkt, aus dem DAX und fragte, ob es sich um Panikmache handele. "So, wie Sie es zusammenfassen, ja", antwortete der Kanzler. Ihm sei klar, was geschehen müsse, den Wirtschaftsstandort Deutschland zu stärken: "Mehr Tempo hereinkriegen, Genehmigungen schneller machen. Das neue Deutschland-Tempo soll nicht nur für die Errichtung von LNG-Terminals gelten, sondern für alle Projekte."

Quelle: ntv.de

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