Undine, zu oft ins Wasser geschickt

24. März 2024. Ödön von Horváths eher selten gespieltes Stück imaginiert zur berühmtesten Totenmaske des frühen 20. Jahrhunderts eine Geschichte der Abgehängten. Anna Bergmann inszeniert sie mit dystopischem Rahmen – und einem Ensemble zum Niederknien.

Von Gabi Hift

"Die Unbekannte aus der Seine" am Volkstheater Wien © Marcel Urlaub / Volkstheater

24. März 2024. Die Totenmaske einer anonymen Selbstmörderin, die um 1900 aus der Seine gezogen wurde, entwickelte sich zum Popphänomen. Porzellankopien hingen in unzähligen Schlafzimmern. Rilke, Döblin, Friedell, Claire Goll, Aragon, Nabokov und viele mehr haben über das Rätsel ihres glückseligen Lächelns geschrieben. War sie vielleicht gar kein Mensch, sondern ein Engel? Ein Wassergeist? Eine Meerjungfrau?

Was war denn das jetzt?

Ödön von Horváth erfand für "Die Unbekannte aus der Seine" folgende Geschichte: Mittellose junge Frau wirft sich Hallodri Albert an den Hals, den sie für einen Seelenverwandten hält. Er begeht einen Raubmord, sie gibt ihm ein Alibi. Als er sie verlässt und zu seiner früheren Geliebten Irene, einer Blumenhändlerin, zurückkehrt, schwört sie, sie werde eher ins Wasser gehen, als ihn zu verraten.

Anna Bergmann, noch bis zum Ende der Spielzeit Schauspieldirektorin am Staatstheater Karlsruhe, hat daraus am Volkstheater Wien ein überbordendes, opulentes Spektakel gemacht. Man wird von einem Strudel aus Bildern, Zitaten, Stilen und Formen verschlungen, betritt verschiedenste Welten, vergangene und zukünftige, wird zwischen Märchen, Mysterythriller, großer Oper mit Kinderchor, einem Meer voller Wasserleichen und mit ganz feiner Klinge gespielten Horvathszenen herumgeschleudert. Wenn man nach nicht mehr als zwei Stunden wie besoffen wieder auftaucht, hat man ganz viel noch nicht begriffen, das Hirn puzzelt wie wild und fragt sich: Was war denn das jetzt alles? Jedenfalls war es keinen einzigen Moment langweilig. Manches an diesem Abend leuchtet nicht ein, manches ist überbordender Overkill. Aber das Ensemble spielt so pointiert, individuell, lustig, traurig Horvath, dass es ein großes Vergnügen ist.

Als alles begann

Zu Anfang erscheint auf einer Leinwand das Bild der berühmten Totenmaske, dahinter Leichen, die im Wasser treiben, Tang und Algen im Haar, Wasserwesen, die Gedichte aus einem fremden Universum murmeln. Nach dem Muster der Serien-Intros zieht einen ein schnell geschnittener surrealer Bilderrausch in den Bann: Totenengel, Ratten, verrottende Substanzen, eine Torte, die in einen Mund hineinquillt, eine weiße Frau im Vogelkäfig (Video: Sophie Lux). Die Unterwasserwelt bleibt auch während des Stücks an den Rändern bestehen. Sona MacDonald durchstreift sie als kaltes, weißes Nixenwesen und singt die Arie aus Antonin Dvoraks Oper "Rusalka": "Wehe Unbekannte, Menschenart wird dir zum Fluch".

Zum Niederknien gut: Fabian Reichenbach, Nick Romeo Reimann, Irem Gökçen, Uwe Schmieder, Evi Kehrstephan, Christoph Schüchner, Hardy Emilian Jürgens © Marcel Urlaub / Volkstheater

Der Prolog spielt in einer nicht näher erklärten Militärdiktatur, Roboter-Polzisten treiben einen nackten, kriechenden Mann vor sich her. Ein Kinderchor, ganz in schwarz mit schwarzen Käppis, singt unheimlich. Aus diesem Rahmen kommt man mit einem "Als alles begann" in die dreißiger Jahre, in denen das eigentliche Stück spielt. Auf der Bühne ein dreistöckiges Gründerzeithaus, auf der einen Seite der Blumenladen, nach vorne zu ein Café.

Bis sie die Kusslust überwältigt

Hier entspinnen sich die Verwicklungen des Krimi- und Liebesplots. Die Schauspieler und Schauspielerinnen sind allesamt grandios, sie haben für ihre Figuren jeweils ein eigenes Bewegungsrepertoire gefunden: Lukas Gregorowicz kombiniert als Albert lässigen Realismus mit weitausholenden Armschwingern, plötzlichem Zubodenstürzen und wurmartigem Kriechen. Evi Kehrstephans Blumenhändlerin Irene ist solange souverän, bis sie Wut oder Kusslust überwältigt. Christoph Schüchner entdeckt als Irenes neuer Liebhaber Ernst einen betörenden Charme der Spießigkeit. Uwe Schmieder ist eine hinreißende nervöse alte Wirtin mit philosophischen Höhenflügen und Nick Romeo Reimann ist so bezaubernd lustig in seiner Traurigkeit, dass man sich restlos in seinen Nachbarn Emil verliebt. Anna Bergmann hat ihnen allen kleine Sehnsuchtssätze der Marianne aus "Geschichten aus dem Wienerwald" in ihre Texte gemischt. Hier gibt es viele, die im Inneren sehnsüchtige Fräuleins sind, auch der heimlich schwule Emil gehört dazu.

Nur die Unbekannte ist ein ganz anderes Kaliber. Bei Horvath ist sie ein junges, unscheinbares Mädchen. Birgit Unterwegers Figur marschiert dagegen souverän auf hohen Stilettos durch die Gegend, wirkt abgebrüht. Anna Bergmann hat ihr zusätzlich zu ihrem Text lange Passagen aus Christine Lavants Gedichten und aus den "Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus" gegeben. Aber so wunderbar die Sprache dieser Texte ist, so geht dadurch doch der Figur der Unbekannten das Naive, Rätselhafte verloren.

Einen Trost gibt es

Aber am Ende zeigt sich, dass Anna Bergmann ohnehin etwas Anderes mit ihr vorhat. Nach dem Mord erscheint die Unbekannte bei Albert zu Hause. Dazu fährt das ganze massive Gründerzeithaus in die Höhe. Darunter hat Bühnenbildner Volker Hintermeier ein ärmliches Zimmer hergerichtet. Das Haus schwebt drohend darüber und könnte es jederzeit zerquetschen. Mitten im Zimmer regnet es wie aus Scheffeln. Die Liebesszene zwischen Albert und der Unbekannten wird zum Showdown, der in seiner Brutalität und Komik von Wolfgang Bauer oder von Franz Xaver Kroetz stammen könnte.

Und so lässt Anna Bergmann sie auch enden. Nachdem Albert sich entscheidet, zu Irene zurückzugehen, verspricht ihm die Unbekannte zwar, ihn nie zu verraten, eher gehe sie ins Wasser. Aber Albert lässt es nicht darauf ankommen und drückt ihr den Kopf so lange in eine Regenpfütze, bis sie aufhört zu zappeln. Das selige Lächeln auf dem Gesicht der Toten lässt sich so allerdings nicht erklären.

DIE UNBEKANNTE Marcel Urlaub Volkstheater Das Wasser für den Mord steht schon bereit: Birgit Unterweger, Lucas Gregorowicz © Marcel Urlaub / Volkstheater

Nun folgt der Epilog, den man schon am Anfang gesehen hat, in einem neuen dystopischen Setting. Diesmal bunt und glitzernd: Albert und Irene sind verheiratet und haben einen kleinen Albert. Als Albert die Maske in die Hand nimmt, die Irene für ihr Schlafzimmer bestellt hat und sich fragt: "Bist dus?", erscheint die Unbekannte selbst in voller Größe. Aus der rührend verzichtenden kleinen Meerjungfrau hat Anna Bergmann eine Rächerin gemacht. Und die Männer müssen sich fragen, ob sie ihre Undinen einmal zu oft ins Wasser zurückgeschickt haben.

Einen Trost gibt es doch für diejenigen, die sich am Ende wenigsten ein bisschen Romantik wünschen: Die alte Wirtin sitzt jetzt im Rollstuhl, mit blonden Locken und schuppig glitzerndem Fischschwanz. Da ist ein Fräulein auf seine alten Tage wieder zur Nixe geworden und Uwe Schmieders wässrig blaue Augen schauen so naiv und zuversichtlich in die Welt, wie wir es uns von einer Unbekannten erwarten, die vielleicht ein Engel ist.

 

Die Unbekannte aus der Seine
von Ödön von Horváth mit Texten nach Christine Lavant
Regie: Anna Bergmann, Bühne: Volker Hintermeier, Kostüm: Lane Schäfer, Musik: Heiko Schnurpel, Video Art: Sophie Lux, Lightdesign: Ines Wessely, Chorleitung: Barbara Kier, Dramaturgie: Thomaspeter Goergen.
Mit: Birgit Unterweger, Lucas Gregorowicz, Sona MacDonald, Evi Kehrstephan, Christoph Schüchner, Nick Romeo Reimann, Günther Wiederschwinger, Hardy Emilian Jürgens, Uwe Schmieder, Irem Gökçen, Fabian Reichenbach, Theresa Eilenberger, Elisaveta Lyssenko; Kinderchor: Rising Voices.
Premiere am 23. März 2024
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.volkstheater.at

 

Kritikenrundschau

"Leider müssen die meisten Darstellenden geradezu zwanghaft outrieren. Psychopathisch ist Albert angelegt, die Unbekannte muss stets überspannt wirken, Wirtin, Polizist und Strizzi sind Knallchargen. Vielleicht war es ja gewollt, dass sie so gekünstelt wirkten. Etwas subtiler sind die Rollen von Irene und Ernst. Sie deuten eine Art Emanzipationsprozess an, der zur Trennung führt", schreibt Norbert Mayer von der Presse (24.03.2024). "In dieser grellen Aufführung werden Sachverhalte seriell auf den Kopf gestellt." Bei all der Überlastung gebe es jedoch auch magische Momente.

Michael Wurmitzer vom Standard (24.3.2024) erkennt eine Flut von Regie-Einfällen, "die alle entweder im Gag-Stadium stecken bleiben (...) oder einen ratlos machen". Das spreche nicht gegen den stark akklamierten Abend. "Wenig kann man aber so gewiss sagen, als dass er sehr formbewusst ist. Das lässt sich ungeachtet der Fragezeichen schätzen."

Kommentare  
Die Unbekannte aus der Seine, Wien: Schade
Habe selten so einen langweiligen, umzusammenhängenden, wirren Schwachsinn gesehen, ..... das war mein letzter Volktstheaterbesuch ... Schade um die Zeit!
Die Unbekannte aus der Seine, Wien: Uff
Ich fand das Stück leider wahnsinnig schlecht inszeniert. Die Schauspieler*innen wirkten durchweg so, als wären sie von der Regie im Stich gelassen worden und würden jetzt händeringend versuchen das Beste daraus zu machen. Absolut kein Rythmus in der Inszenierung, ausschließlich irgendwelche - sicher schöne, aber völlig zusammenhanglose - Bilder.
Und am schlimmsten: die misogyne Geschichte und die Reproduktion von Gewalt an Frauen. Es mag zwar spektakulär Aussehen, wenn sich die beiden Hauptdarsteller:innen im mit Wasser gefüllten Schlafzimmer streiten, wenn der Szene aber eine inszenatorische Tiefe fehlt, ist sie aber erstens gefühlt endlos lang(weilig) und zweitens unerträglich, ab dem Moment in dem die Unbekannte ertränkt wird. Spektakuläre Bilder mögen zwar so aussehen, als wären sie Kunst, können Misogynie und schlechte Schauspieler:innenregie, aber trotzdem nicht verdecken.



Die schier nicht enden wollende Zweierszene im mit Wasser gefüllten Schlafzimmer mit dem Ertränken der Frau im Wasser zu enden, ist in einer von Femiziden geprägten Gesellschaft
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