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Keine Sitten auf märkischem Sand

Berlin zieht an – das war auch in den vergangenen Jahrhunderten schon so

  • Yannic Walther
  • Lesedauer: 4 Min.
Tage ohne Parksuchverkehr: Prenzlauer Berg an Weihnachten
Tage ohne Parksuchverkehr: Prenzlauer Berg an Weihnachten

Während der Tage zwischen Weihnachten und Neujahr zeigt sich in Berlin ein alle Jahre wiederkehrendes Bild: In einigen Ecken der Stadt ist es auf einmal ungewohnt ruhig. Dass über die Feiertage nicht wenige Zugezogene, die mittlerweile über die Hälfte der Einwohner ausmachen, zu ihren Verwandten in alle Himmelsrichtungen reisen, wird vielleicht am offensichtlichsten an der komplett entspannten Parkplatzsituation in Vierteln, in denen sonst keine Lücke frei bleibt.

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Bei der einen oder dem anderen hier Geborenen und in den Innenstadtquartieren Wohnenden gibt es dann gelegentlich diese Verbrüderungsmomente, dieses verschwörerische Zunicken im Treppenhaus: Du auch hier? Doch die Verreisten werden wiederkommen. Das kann ihnen auch niemand verübeln, denn Berlin hat seinen Reiz. Einen, den auch schon der vor 200 Jahren geborene Schriftsteller Ernst Dronke erkannte. »Es kann jeder leben, wie er will, weil eben alles zu finden ist, was man nur suchen kann«, schrieb Dronke in seinem 1846 erschienenen Band mit dem leicht fasslichen Titel »Berlin«. Ein Satz, der auch aus einer städtischen Marketingkampagne der Gegenwart stammen könnte.

Das war Mitte des 19. Jahrhundert noch anders. Nicht nur wegen des fehlenden Stadtmarketings, vor allem aber, weil der preußische Obrigkeitsstaat nicht zulassen wollte, dass jeder zumindest versucht so zu leben, wie er will. Dronkes »Berlin«, das die Grenzen einzelner Textgattungen überschreitet, ist deshalb nicht nur Berlin-Reportage, sondern zugleich politische Anklageschrift. So untersucht der Autor im Ballsaal wie auch im Bordell geduldig und humorvoll das großstädtische Leben der verschiedenen Schichten. Der größte Teil seines Buches indes ist ein Pamphlet gegen den preußischen Beamten- und Offiziersstaat.

Diese Kritik brachte Dronke, dessen 200. Geburtstag im Sommer dieses Jahres nur wenig Aufmerksamkeit erfuhr, einigen Ärger ein, unter anderem eine Verurteilung wegen Majestätsbeleidigung. Während der Revolution von 1848 setzte er sich dann nach Brüssel ab, wo er Karl Marx und Friedrich Engels kennenlernte, die ihn unter anderem zur Mitarbeit bei der »Neuen Rheinischen Zeitung« in Köln bewegten. Dass der Kommunist sich später im englischen Exil eine Existenz als Kaufmann aufbaute, führte schließlich zum Bruch mit Marx und Engels.

Von Engels’ »Lage der arbeitenden Klasse in England«, das mitunter als erste stadtsoziologische Arbeit gilt und ein Jahr vor »Berlin« erschienen war, hat Dronke sich einiges abgeschaut bei seinen Milieustudien. Bemerkenswert vor allem die Konsequenz, mit der er moralisch geächtete gesellschaftliche Phänomene mit den ökonomischen und sozialen Verhältnissen begründet. Spannend ist seine Abhandlung über das Bedürfnis zu strafen und die Moral als Tugend, die sich nur jene Menschen ohne Not leisten können. »Dem Besitz ist manches erlaubt, was an der Armut als gegen die Moral verstoßend geahndet wird«, schreibt Dronke. Nicht groß anders steht es auch in Ronen Steinkes »Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich. Die neue Klassenjustiz«, einem der (zu Recht) meistbesprochenen Bücher des zu Ende gehenden Jahres. Ob 1846 oder 2022: Im Kapitalismus bleibt eben manches unverändert.

Was in den über 170 Jahren aber alles andere als unverändert blieb, ist Berlin als Stadt. Mit ihr haben sich gleichwohl auch die literarischen und filmischen Bilder über sie gewandelt. Dronkes »Berlin«, das entweder antiquarisch oder in der hochpreisigen, aber außergewöhnlich und illustriert gestalteten Ausgabe der Buchreihe »Die Andere Bibliothek« erhältlich ist, kann dabei als Anfangspunkt einer langen Auseinandersetzung mit der großen Stadt an der Spree gelten, die unter anderem mit Alfred Döblins »Berlin Alexanderplatz« gebührend fortgesetzt wurde, aber auch – auf Sachbuchebene – mit Walther Kiaulehns »Berlin« von 1958 oder Jens Biskys Berlin-»Biografie« von 2019.

Schaut man sich dagegen an, was in jüngerer Zeit mit »Oh Boy« oder »Fucking Berlin« an Berlin-Stoffen über die Leinwand lief, möchte man am liebsten wieder ausschalten angesichts der Witze über Cafés, die eben keinen normalen schwarzen Kaffee anbieten, oder maximal unangenehmer Plattitüden wie: »Berlin ist keine Stadt, sondern ein Rhythmus.«

Doch auch in letzterem der beiden Filme findet sich wieder der Verweis, dass man in Berlin nun mal sein kann, wer man will. Irgendwas muss da ja dran sein. Zwar ist das Versprechen mehr Folklore als Realität. Aber im Verhältnis zu dem, was manche in den Dörfern, in denen sie aufgewachsen sind, ertragen mussten, hat es dann doch einen gewissen Wahrheitsgehalt. Wer nach seinem Weihnachtsbesuch aus der Provinz zurückkommt, der macht das vielleicht auch, weil der Nachbar sich hier nicht dafür interessiert, wen man mit nach Hause bringt. »In der großen Stadt bekümmert sich niemand um den andern«, schreibt Dronke. »Dies Verschwinden der sogenannten Rücksichten gibt, wie gesagt, dem Aufenthalt in Berlin den Reiz und den größeren Vorzug vor der Provinz.«

Ernst Dronke: Berlin, Die Andere Bibliothek, 416 Seiten, 30 Euro

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