Hauptbild
Martin Wulfhorst: The Orchestral Violinist’s Companion.
Martin Wulfhorst: The Orchestral Violinist’s Companion.
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Marathonläufer unter den Instrumentalisten

Untertitel
Martin Wulfhorst, Autor des „Orchestral Violinist’s Companion“, im Gespräch
Publikationsdatum
Body

Mit seinem zweibändigen Opus „The Orchestral Violinist‘s Companion“ hat der Geiger und Autor bei Bärenreiter nicht einfach eine weitere Sammlung von Orchesterstellen und Probespielstücken vorgelegt. Vielmehr unternimmt der bei den Hamburger Symphonikern beschäftigte promovierte Musikwissenschaftler den Versuch, das komplette Feld des Violinspiels im Orchester sys­tematisch aufzuarbeiten und entsprechendes Studienmaterial zur Verfügung zu stellen. Für die nmz sprach Juan Martin Koch mit Martin Wulfhorst über das Umschalten in den Orchestermodus und das Überleben in demselben.

neue musikzeitung: Wie viele Orchestermusiker geben zu, dass sie einen Bedarf an Coaching, an Fortbildung haben?

Martin Wulfhorst: Man redet immer wieder drüber. Mehr als technische Dinge spielen dabei Alltagsprobleme eine Rolle: Stücke, die einem nicht gefallen, Dirigenten, mit denen man nicht zurechtkommt …

nmz: Wie beurteilen Sie den Stand der Ausbildung an den Musikhochschulen?

Wulfhorst: Der instrumentaltechnische Standard der Musiker ist höher als je zuvor. Aber die Ausbildung ist nach wie vor stark auf das solistische Spiel ausgerichtet. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Eine solistische Ausbildung auf höchstem Niveau ist unbedingt nötig für jeden Geiger, sie ist die Voraussetzung. Aber die Idee, dass man den Rest dann einfach im Orchester lernen könne, ist heute – wenn sie denn je richtig war – komplett falsch. Die Anforderungen sind größer als je zuvor, ein Orchestermusiker muss ein unglaublich breites Repertoire von Musik des 18. Jahrhunderts bis zu Crossover und Pop bewältigen, dazu ein breites Spektrum von Aufführungsstilen. Allein um das abzudecken wäre eine erheblich bessere Ausbildung nötig.

nmz: Inwiefern unterscheidet sich Orchesterspieltechnik vom solistischen Spiel?

Wulfhorst: Nehmen wir ein Beispiel: In wie vielen Solostücken lernt man systematisch Pizzicato? (Dazu eine Fußnote: Es gibt kaum Pizzicato-Stellen im greifbaren Orchesterstudienmaterial …) Hinzu kommen Elemente der Bogentechnik und der linken Hand.

nmz: Ihre grundsätzlichen Überlegungen haben Sie in Ihrem Buch als den „Orchestral mode“ in neun Prinzipien zusammengefasst, die sich dann auch als Symbole durch beide Bände ziehen. Was macht diese orchestrale Arbeits- und Geisteshaltung aus und wie kamen Sie zu dieser Einteilung?

Wulfhorst: Das kam durch Beobachtung. Ich habe mich gefragt: Was ist das Geheimnis guten Orchesterspiels? So habe ich neun „goldene Regeln“ entwickelt. Die wichtigste umfasst die Bereiche Verantwortung, Engagement und Respekt den anderen gegenüber. Das zweite Prinzip, „Anpassung“, bedeutet, dass man sein Spiel in allen Elementen an das Umfeld anpassen muss, also an die Anweisungen des Dirigenten, des Stimmführers, das Spiel in der Gruppe sowie an weitere Gegebenheiten, die oft völlig vernachlässigt werden: Akustik, Gruppengröße, Sitzordnung et cetera.

nmz: Dann kommt als Drittes der etwas merkwürdig klingende „Achtzig-Zwanzig-Fokus“. Was verbirgt sich dahinter?

Wulfhorst: Das ist besonders für junge Musiker wichtig, die das gar nicht gewohnt sind: Höchstens 80 Prozent der eigenen Energie und Konzentration können auf das eigene Spiel gerichtet sein, man braucht mindestens 20 Prozent, oft sogar bis zu 50 Prozent, um zuzuhören, zu beobachten und sich anzupassen. Im vierten Prinzip geht es um eine breite Palette technischer und musikalischer Fertigkeiten. Als Orchestergeiger muss ich zum Beispiel jede Art von Spiccato verfügbar haben, die ein Dirigent oder Stimmführer verlangt, als Solist kann ich mich auf die Arten beschränken, die mir liegen und auf meinem Instrument gut klingen. Damit hängt das fünfte, das Knopfdruck-Prinzip zusammen: Meine gesamte Breite an Technik muss jederzeit abrufbar sein. In Nummer 6 geht es um Mühelosigkeit und Ausdauer. Wir sind ja sozusagen die Marathonläufer unter den Instrumentalisten, denken Sie nur an Wagner-Opern oder Schuberts große C-Dur-Sinfonie … Das nächste Prinzip sollte selbstverständlich sein, ist es aber oft nicht: Genauigkeit, Disziplin und Gewissenhaftigkeit. Wenn ein Einzelner nachlässig, schlampig ist, kann das Spiel der ganzen Gruppe oder des ganzen Orchesters leiden. Probenzeit wird immer kostbarer, deshalb das achte Prinzip: Geschwindigkeit und Effizienz. Im letzten Punkt geht es darum, Prioritäten erkennen zu können: Was ist wichtig, was ist weniger wichtig?

nmz: Wenn ich nun als Geiger ein bestimmtes Problem anhand Ihres Buches angehen will. Wie gehe ich vor?

Wulfhorst: Nehmen wir als Beispiel die bekannten Schrägstriche für Tonrepetitionen, eine spezifische Orchestertechnik. Die finden Sie zum einen als Abschnitt im Kapitel zur Bogentechnik mit entsprechenden Übungen, zum anderen im zweiten Band, wo im 9. Kapitel alles zusammengefasst ist, was Notation betrifft.

nmz: Welche Zielgruppen sprechen Sie an, wer kann auf welche Weise mit Ihrem Kompendium arbeiten?

Wulfhorst: Das Buch ist für Berufsanfänger wie für erfahrene Musiker konzipiert. Ein Student, der es zum ersten Mal durcharbeitet, sollte auf keinen Fall jeden Satz lesen, jede Übung absolvieren, jede Orchesterstelle studieren. Wenn wir noch einmal die Tonrepetitionen nehmen, könnte er mit den technischen Erläuterungen am Beginn der Kapitel anfangen, dann jeweils die Übungen durchnehmen, die man auf der Basis einer einfachen Tonleiter machen kann und sich dann eine Auswahl der Orchesterstellen vornehmen. Auch die Verweise zu anderen Kapiteln, zur Literatur kann man, je nach Interessenlage, natürlich ignorieren.

nmz: Wie könnten die Schritte zur Einstudierung eines Werkes aussehen?

Wulfhorst: Ein neues Stück einzustudieren gleicht einer Reise, die man antritt. Man muss ein Ziel haben, muss eine innere Vorstellung davon entwickeln, wie das Werk, die Stelle klingen soll. Als nächstes sollte man die notwendigen Materialien und Informationen dazu sammeln und seinen eigenen Fähigkeitsstandort ermitteln. Darauf basierend wäre ein Plan zu machen – bis wann welche Schritte zu tun sind, was wichtig ist, was weniger – und schließlich auszuführen, immer mit dem Blick darauf, ob man die Strategie ändern muss, um ans Ziel zu kommen. Die Zielbestimmung ist im Orchester besonders schwierig, weil dann in den Proben die Vorstellung des Dirigenten eine ganz andere sein kann. Darauf muss man, soweit es geht, vorbereitet sein.

nmz: Ein wichtiger Teil Ihres Buches beschäftigt sich mit der Entzifferung des Notentextes einerseits, andererseits mit der Einrichtung durch eigene Notizen und Symbole. Auch Ihr Buch muss man mit den vielen Symbolen und Verweisen zu entschlüsseln lernen. Die Systematisierung wirkt sehr durchdacht, wie kamen Sie auf diese Konzeption?

Wulfhorst: Ich wollte lange verbale Erklärungen vermeiden, Musiker schätzen das nicht besonders, deshalb die vielen grafischen Zeichen. Die Sys-tematik zu entwickeln war ein langer, schwieriger Prozess, und ich weiß nicht, ob es mir geglückt ist. Manche werden es vielleicht als überorganisiert empfinden. Inwieweit die Struktur hilfreich ist, wird sich in der Praxis erweisen müssen. Ich habe im Keller eine riesige Materialsammlung mit Orchesterstellen und Anmerkungen darüber, was besondere Probleme bereitet. Das habe ich versucht mit Blick darauf zu filtern, was allgemein gültig, was typisch ist. Aber ich hatte kein Vorbild, an dem ich mich orientieren konnte.

nmz: Wäre es denkbar, Ihre Arbeit auf andere Instrumente, etwa Bratsche oder Cello zu übertragen?

Wulfhorst: Das will ich hoffen. Außerdem denke ich, dass schon jetzt viele Kapitel auch andere Instrumentalisten interessieren könnten, auch Dirigenten … Denn vieles ist allgemein auf die Probenarbeit anwendbar.

nmz: Was raten Sie Berufsanfängern, die sich in Richtung Orchester orientieren?

Wulfhorst: Auf keinen Fall Orchestermusiker zu werden, wenn man das Orchesterspiel, auch in der Oper, nicht liebt! Diese Frage muss man sich frühzeitig stellen: Kann ich im Orchester überleben? Sinn für Humor ist übrigens auch sehr hilfreich …

Martin Wulfhorst: The Orchestral Violinist’s Companion. Volume 1: Training, Practicing and Sight-Reading, Basic Orchestral Technique, Bowing Technique and Sound Production; Volume 2: Left-Hand-Technique, Pizzicato and Other Special Techniques, Rhythm and Ensemble Playing, Notation and Performance Practice, Repertoire and Style, Profession and Career, Resources; 2 Bände (englisch), Bärenreiter, Kassel 2013, € 69,- (nicht einzeln beziehbar), ISBN 978-7618-1758-2. Weiteres Material und Einführungsvideos sind auf der Webseite www.orch.info zusammengestellt.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!