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Zum 80. Geburtstag der HSV-Legende Uwe Seeler: Das Idol ohne Verfallsdatum

Von Harald Pistorius | 05.11.2016, 13:36 Uhr

Ein ehemaliger Fußballer wird 80, und die Nation verneigt sich. Ganz Deutschland gratuliert an diesem Samstag Uwe Seeler, die Laudatoren greifen ins oberste Regal, Wellen der Superlative schlagen über dem Jubilar zusammen. Warum eigentlich?

Gerd Müller hat mehr Tore erzielt, Franz Beckenbauer mehr Titel gewonnen und Lothar Matthäus doppelt so viele Länderspiele bestritten. Doch Uwe Seeler übertrifft sie an Popularität und Beliebtheit, er ist ein Fußball-Idol ohne Verfallsdatum.

Und das ist erstaunlich, weil jene, die ihn noch bewusst spielen sahen, heute mindestens Anfang 50 sind. Die Jüngeren kennen den Mittelstürmer Uwe Seeler nur aus legendären Fernsehbildern, meist in Schwarz-Weiß.

Toreschießen – nie hat er auf dem Spielfeld etwas anderes gewollt. „Ein hoffnungsvoller Sprössling Erwin Seelers schoss in einem Knaben-Vorspiel das einzige Tor“, schrieb das „Hamburger Nachrichtenblatt“ am 18. Februar 1946.

Da war Uwe noch nicht mal zehn, mit 17 debütierte er in der Ersten des HSV – muss man erwähnen, dass er ein Tor erzielte? „Der Junge schoss so herzhaft, dass die Hamburger in beste Stimmung gerieten“, schwärmte der „Kicker“. Zwei Monate später bestritt er das erste seiner 72 Länderspiele.

Wie der personifizierte Schrecken der Abwehrspieler sah er nun nicht gerade aus: 1,69 Meter groß, 75 Kilogramm schwer, mit lichtem Haarschopf und auf kurzen Beinen kam er beinahe harmlos daher. Doch auf dem Rasen wurde er zu einem unerschrockenen Stürmer und unermüdlichem Kämpfer.

„Schweiß auf der Stirn, Dreck am Hemd und Blut am Bein – das waren die Insignien dieses Fußball-Idols“, beschrieb ihn später sein Jugendfreund und langjähriger Mitspieler Gerd Krug, der erst als Fußballprofi und dann als Journalist Karriere machte.

Und dann natürlich seine Tore: Seeler brauchte auf dem Spielfeld keinen Kompass, er hätte bei verbundenen Augen gespürt, wo das Tor steht. Im Sommer 1960 im Endrundenspiel gegen Westfalia Herne bugsierte er den Ball aus 15 Metern, am Boden sitzend mit dem Rücken zum Tor, ins Netz – ein Treffer, typisch für den Instinkt dieses Stürmers. „Man müsste fässerweise Honig über ihn ausschütten“, schrieb „Die Welt“.

Seeler traf mit dem linken wie mit dem (etwas stärkeren) rechten Fuß, dank seiner gewaltigen Sprungkraft oft per Kopf. Sein Markenzeichen waren Fallrückzieher; wenn er die Flanken im Sprung mit dem Rücken zum Tor volley nahm, waren das artistische Kunststücke.

Groß in der Niederlage

Es waren nicht allein die Tore für den HSV und die Nationalelf, die ihn aus der Masse hervorhoben. Seeler war ein Sportsmann, der zum Fair Play keine Regeln brauchte. Er wollte ums Verrecken nicht verlieren, noch mit 50 kämpfte er mit hochrotem Kopf in Benefizspielen seiner Prominenten-Mannschaft um jeden Ball, um jede Chance.

Doch wenn er verloren hatte, nahm er die Niederlage hin mit einem aufrichtigen Sportsgeist, der einem heute – angesichts der über Fehlentscheidungen und unfaire Gegner jammernden Trainer und Spieler – fast rührend-altmodisch vorkommt.

Zweimal endete sein Traum vom Weltmeister-Titel vor allem, weil Schiedsrichter die deutsche Nationalmannschaft benachteiligten. 1966 im Finale von Wembley wurde ein Tor für die Engländer gegeben, das keins war. Und 1970 beim Jahrhundertspiel im Halbfinale gegen Italien gab eine Kette teils grotesker Fehlentscheidungen den Ausschlag für die Squadra Azzurra. Es war das Verdienst des Kapitäns Uwe Seeler, dass die deutsche Mannschaft diese bitteren Niederlagen ohne Wehklagen und Proteste hinnahm und der Welt zeigte, dass man auch als Verlierer ein Gewinner sein kann.

Zu dieser Haltung passte Uwes Treue zum HSV, die bis heute besteht. Vielleicht liefert die Erinnerung an den April 1961 den besten Beleg dafür. Ein Jahr nach Real Madrid buhlte Inter Mailand um den Weltklasse-Stürmer. Trainer Helenio Herrera, eine Art José Mourinho seiner Zeit, bat Seeler zum Gespräch ins Hotel Atlantic.

„Neben dem Tisch aus feinstem Glas mit goldener Umrandung stand ein schwarzer Koffer. Herrera griff nach ihm und hob ihn hoch“, beschreibt Seeler die Szene in seiner Biografie und erinnert sich an die Worte des Startrainers. „Signore Seeler! Diesen Koffer füllen wir sofort mit einer Million Mark, netto und bar, versteht sich. Das ist Handgeld, wenn Sie nach Mailand kommen.“

Dazu, so sah es der fertige Vertrag vor, sollte es pro Jahr 500 000 DM Gehalt, eine Villa und ein Auto geben. Seeler war damals der beste deutsche Fußballer, ein Stürmer internationalen Ranges – solche Spieler kassieren heute bis zu 20 Millionen Euro, im Jahr wohlgemerkt.

Als Inter Millionen bot

Seeler durfte in der Oberliga Nord offiziell nicht mehr verdienen als 500 DM im Monat, er arbeitete neben dem Fußball, war niemals Vollprofi. Dass ihm damals in der Suite im Atlantic schwindelig wurde, kann man sich vorstellen. Doch nach zwei Tagen sagte er ab und ließ den siegessicheren Startrainer fassungslos zurück.

Seeler blieb – aber nicht, weil er sich dem HSV verpflichtet fühlte. Und auch nicht wegen des offenen Briefes, in dem der Theologieprofessor Helmut Thielicke ihn mit recht schwülstigen Worten („Werden Sie der Jugend unseres Volkes ein Leitbild für die Lauterkeit der Gesinnung und für den Ernst des sportlichen Spiels“) zum Bleiben bewegen wollte.

Nein, Seeler blieb, weil er da bleiben wollte, wo er sich wohlfühlte und auskannte. Ihm war das sichere kleine Glück lieber als das große Abenteuer. Und er blieb auch, weil die Sportartikelfirma Adidas ihm einen Handelsvertreter-Vertrag gab, der ihm ein besseres Auskommen dauerhaft sicherte. Auch diesen Job nahm er ernst. Und wenn er wegen der Touren zu den Sportgeschäften in Norddeutschland abends nicht zurück in Hamburg sein konnte, suchte er sich einen Amateurverein vor Ort und bat darum, mittrainieren zu dürfen.

Es war diese Bodenständigkeit, diese Selbstverständlichkeit, mit der sich Uwe in der Öffentlichkeit bewegte, die ihm die grundlegende Sympathie von Millionen brachten. Zum Idol einer Generation wurde er, weil sich in seinem Lebensweg viele Menschen erkannten und mit ihm identifizierten, auch wenn sie es nicht so weit gebracht hatten. Sie waren stolz auf ihn, weil er einer von ihnen war und das bis heute geblieben ist.

„Wir sind einfache Leute“, sagte Uwe Seeler oft, „mein Ziel war es immer, normal zu sein – es ist schön, normal zu sein.“ Gern zitiert er Vadder Erwin Seeler, einen kantigen, selbstbewussten Hafenarbeiter, der in der Arbeitersportbewegung groß wurde und später beim HSV stürmte. „Geld ist nicht alles“, machte „Old Erwin“ seinen Kindern klar, mahnte „Ehrlich währt am längsten“ und forderte klare Kante: „Ein Seeler macht keine halben Sachen.“

Vorbild wider Willen

Das sind Maximen von Uwes Lebens, und weil er sie vorlebt, wurde er das Vorbild, das er eigentlich nie sein wollte. Seine Familie ist ihm wichtig, mit der Seemanns-Tochter Ilka ist er seit 1959 verheiratet, sie haben drei Töchter und sieben Enkelkinder. Dann kommt gleich danach sein HSV, von dem er sich heute gegen Borussia Dortmund einen Sieg wünscht. Er kümmert sich um seine Stiftung, die seit 20 Jahren unschuldig in Not geratenen Menschen hilft. Er wird froh sein, wenn der Rummel vorüber ist.

Die Interviewanfragen zum 80. erfüllte er mit Geduld und sagte oft gleich zu Beginn: „Ich weiß aber nichts Neues über mich!“

Ach, Uwe. Das Alte reicht doch. Wir können es nicht oft genug hören.

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