Xanten. Humperdinck wurde mit seiner Märchenoper „Hänsel und Gretel“ weltbekannt. Eine Ausstellung im Siegfriedmuseum beleuchtet seine Zeit in Xanten.

Bei Mondschein spazierte Engelbert Humperdinck über den Fürstenberg in Xanten, genoss die idyllische Natur des Niederrheins, plauderte mit seiner Familie. Später im Bett las er noch einige Grimmsche Märchen, „von denen ich mich sehr angeregt fühlte, so dass die arbeitende Phantasie mich lange nicht zur Ruhe kommen ließ.“ So schrieb er es am 25. September 1879 in sein Tagebuch. Lässt sich darin schon seine tiefergehende Faszination für Grimmsche Märchen erkennen, die später in seiner weltberühmten Märchenoper „Hänsel und Gretel“ gipfelte?

Eine endgültige Antwort darauf gibt’s heute, 100 Jahre nach dem Tod des Komponisten Humperdincks, natürlich nicht. Doch zumindest lauschte er bei seinen Wanderungen rund um Xanten dem Rauschen der Blätter, erkannte die Musik des Waldes und ließ die gesammelten Eindrücke später in seine musikalischen Naturbeschreibungen – auch in „Hänsel und Gretel“ – einfließen. Damit könnte die romantische Geschichte eines weltbekannten Komponisten am beschaulichen Niederrhein eigentlich auch schon auserzählt sein. Ist sie aber noch lange nicht.

Wanderausstellung „Engelbert Humperdinck 2021 – Lebenslinien“

„Engelbert Humperdinck 2021 – Lebenslinien“ lautet der Titel der Wanderausstellung, die an allen wichtigen Lebensstationen des Komponisten Halt macht und mittlerweile auch in Xanten angekommen ist. Allerdings hat Anke Lyttwin, Leiterin des Siegried Museums, in der Ausstellung einen eigenen Schwerpunkt gesetzt, um das ambivalente Verhältnis von Humperdinck und Xanten zu thematisieren. Denn die beiden führten keine Liebesbeziehung, vielmehr eine Zweckgemeinschaft. Doch um das zu verstehen, geht’s einmal quer durch den Ausstellungsraum bis zu einer Schulbank.

Die Büste im Siegfriedmuseum in Xanten zeigt, wie der Komponist Engelbert Humperdinck aussah.
Die Büste im Siegfriedmuseum in Xanten zeigt, wie der Komponist Engelbert Humperdinck aussah. © Sara Schurmann

„Die Familie zog von Siegburg nach Xanten, weil der Vater Gustav Humperdinck hier die Leitung des katholischen Lehrerinnenseminars im ehemaligen Kapuzinerkloster übernehmen sollte“, erklärt Lyttwin. Gustav Humperdinck war katholisch, allerdings sehr liberal eingestellt. Das den Lehrerinnen auferlegte Zölibat kritisierte er und drückte deshalb auch schon mal ein Auge zu – „wenn er jemanden hinter dem Heuhaufen verschwinden sah“, so Lyttwin. Das ging jedoch nur so lange gut, bis es im Oktober 1878 zum „Skandal im Lehrerinnenseminar“ kam.

Skandal im katholischen Lehrerinnenseminar in Xanten

Das Ehepaar Humperdinck wollte seine Silberhochzeit mit einem großen Fest feiern, Sohn Engelbert hatte extra ein romantisches Herbstgedicht vertont. „Die Leute hörten nur die Musik und sprachen direkt von einer Orgie“, erzählt Lyttwin. Das gab einen lauten Aufschrei, der bis nach Berlin drang. Im berühmt-berüchtigten Kladderadatsch erschien sogar ein humoristisches Gedicht, das nun zum Nachlesen auf der Schulbank liegt. Der umgedichtete Anfang des Nibelungenliedes erzählt von der „Orgie“, die gefeiert wird, „weil fünfundzwanzig Jahr Er seiner braven Gattin ein solider Gatte war“.

Gustav Humperdinck durfte die Leitung zwar behalten, doch im katholisch-konservativen Xanten hatte die Familie nun endgültig ihren Ruf weg. Insgesamt zehn Jahre lang war Sohn Engelbert hier gemeldet, doch war er in dieser Zeit auch viel unterwegs. „Es waren seine Lehr- und Wanderjahre“, sagt Lyttwin. Davon erzählen die nächsten Stationen der Ausstellung. Humperdinck lernte sein großes Idol Richard Wagner kennen, durfte zwei Jahre für ihn als Assistent arbeiten und schrieb für das Stück „Parsifal“ sogar eine kleine Ergänzung – die Wagner akzeptierte. Eine echte Ehre!

Engelbert Humperdinck, der „Siegfried aus Xanten“

Übrigens hatte der junge Komponist in Bayreuth einen Spitznamen, wie Lyttwin verrät: „Wenn er wieder aus Xanten zurückkam, wurde er immer begrüßt mit ‘Da kommt ja unser Siegfried aus Xanten!’“ Ob ihn das freute? Wohl eher nicht. Dennoch taten ihm die Aufenthalte bei seiner Familie gut. „Hier in Xanten habe ich mit Schwester und Bruder ziemlich ‘stillekes’“, lässt sich in seinem Tagebuch nachlesen. Hier konnte er Kraft tanken und mal einer ganz anderen Leidenschaft nachgehen. Dem Kneipen. Richtig gelesen, nicht dem Durchs-Wasser-Stapfen, sondern dem Bier-In-Der-Kneipe-Trinken.

In der Ausstellung im Siegfriedmuseum in Xanten darf natürlich dieses wichtige Kapitel nicht fehlen: Engelbert Humperdinck wurde mit seiner Märchenoper „Hänsel und Gretel“ berühmt.
In der Ausstellung im Siegfriedmuseum in Xanten darf natürlich dieses wichtige Kapitel nicht fehlen: Engelbert Humperdinck wurde mit seiner Märchenoper „Hänsel und Gretel“ berühmt. © Sara Schurmann

So gestärkt ging’s für ihn dann wieder zurück ins Bohème-Leben, das mit seinem Welterfolg „Hänsel und Gretel“ in 1893 noch aufregender wurde. Das Thema darf natürlich auch in der Ausstellung nicht fehlen. In einer Vitrine liegen Hefte in verschiedenen Sprachen, an der Wand hängt eine Polyphonscheibe – „die MP3 des 19. Jahrhunderts“, so Lyttwin. Und an einer der Medienstationen ertönen auf Knopfdruck die opulenten, prachtvollen und manchmal auch ganz zarten, leisen Lieder aus der Märchenoper.

Humperdinck war vor seinem Erfolg noch einige Male nach Xanten zurückgekehrt, hatte dort seine Atemwegskrankheiten auskuriert und den ein oder anderen Wein im Niederrheinischen Hof, im heutigen Hotel van Bebber, getrunken. 1886 aber war die Familie endgültig weggezogen. Und Humperdinck? Ein glückliches Ende für ihn und seine Heimatstadt auf Zeit gab’s nicht, wie Lyttwin erklärt: „Er kam nie wieder zurück nach Xanten.“

>>> Humperdinck in Xanten – eine kaum erzählte Geschichte

Lange Zeit interessierte sich kaum jemand dafür, dass einer der bekanntesten Komponisten der Spätromantik in Xanten gelebt und gearbeitet hatte. Erst Tim Michalak beschäftigte sich intensiv mit Humperdincks Zeit am Niederrhein und brachte gemeinsam mit Christian Ubber „ein biografisch-musikalisches Lesebuch“ heraus.

Im Ausstellungskatalog „Hokuspokus Hexenschuss“ hat Michalak ein Kapitel über Humperdincks Zeit in Xanten geschrieben, ebenso Museumsleiterin Anke Lytwinn. Sie betont zudem, dass der Komponist in Zukunft auch Thema in der Dauerausstellung sein wird und neue Wander- oder Radtouren ausgearbeitet werden. „Damit man die Welt mit Humperdincks Augen wie im 19. Jahrhundert sehen kann.“