Der andere Blick

Einsam im Kanzleramt: Olaf Scholz droht in der Taurus-Frage bald allein dazustehen

Am Donnerstag wollen die Regierungsfraktionen den deutschen Kanzler zwingen, endlich weitreichende Waffen an die Ukraine zu liefern. Doch die Causa könnte eine neue Wendung nehmen. Scholz hat noch andere Optionen.

Marco Seliger, Berlin 551 Kommentare 5 min
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Das hat es in Deutschland selten gegeben: Demonstranten fordern vor dem Kanzleramt in Berlin, Waffen wie den Marschflugkörper Taurus in ein Kriegsgebiet zu liefern.

Das hat es in Deutschland selten gegeben: Demonstranten fordern vor dem Kanzleramt in Berlin, Waffen wie den Marschflugkörper Taurus in ein Kriegsgebiet zu liefern.

Omer Messinger / Getty

Die deutsche Taurus-Inszenierung ist wieder ein Stück aus dem Repertoire der Berliner Ampelregierung. Sie trägt Züge einer Tragikomödie, driftet nun aber in peinlich-groteskes Polittheater ab.

Die Tragik besteht im Kriegsgeschehen in der Ukraine. Die Verteidiger mussten am Wochenende nach monatelangem Kampf die Industriestadt Awdijiwka im Donbass räumen, weil die russische Übermacht an Soldaten, Waffen und Munition zu gross geworden ist. Auch an anderen Stellen der Front wächst der Druck auf die Ukrainer. Vor allem der Munitionsmangel sorgt dafür, dass die Lage immer schwieriger wird.

Da die USA durch den aufziehenden Präsidentschaftswahlkampf gelähmt sind und Europa erst jetzt seine Produktionskapazitäten hochfährt, dürfte es noch länger dauern, bis wieder genug Raketen und Granaten zur Verfügung stehen. Bis dahin brauchen die Ukrainer dringend Entlastung vom russischen Angriffsdruck. Dazu müssten sie Logistik und Nachschub der Angreifer im Hinterland unterbinden sowie Bereitstellungsräume und Kommandozentralen unter Feuer nehmen können. Das geht nur mit weitreichenden Waffen.

Spiel mit komödiantischen Zügen

Deutschland hat diese Waffen. Im Mai vergangenen Jahres formulierte der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski zum ersten Mal die Bitte, die Bundesregierung möge Taurus-Marschflugkörper liefern. Von da an entwickelte sich in Berlin ein politisches Spiel mit inzwischen komödiantischem Charakter.

Weil Bundeskanzler Olaf Scholz partout nicht will, dass der gut 500 Kilometer weit reichende Lenkflugkörper an die Verteidiger geht, bemühen sich Teile der Regierungsfraktionen und der Opposition mit allerlei parlamentarischen Winkelzügen, Druck auf den Regierungschef aufzubauen. So brachte die oppositionelle Union im November einen Antrag ein, der die Regierung zwingen sollte, Taurus zu liefern. Er wurde von der Regierungsmehrheit im Bundestag in den zuständigen Ausschuss verwiesen. Sie wollte damit Zeit gewinnen, um den Kanzler umzustimmen.

Im Januar lehnten die Abgeordneten der Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen erneut einen entsprechenden Antrag der Union ab, obwohl grosse Teile vor allem bei Grünen und Liberalen für eine Lieferung von Taurus sind. Sie begründeten ihr Handeln damit, dass es der Union gar nicht um die Ukraine gehe, sondern dass sie sich innenpolitische Vorteile verschaffen wolle.

Misstrauensvotum gegen Scholz?

Diese Vorteile hätten darin bestehen können, dass eine mit Stimmen der Regierungsparteien erzielte Parlamentsmehrheit für den Unionsantrag ein Misstrauensvotum gegen den Kanzler dargestellt hätte. Das wollten die Ampelfraktionen nicht. Nun aber, und damit zum vorläufigen Höhepunkt der Komödie, sieht es offenbar anders aus.

Für diesen Donnerstag haben SPD, Grüne und Liberale einen Entschluss in den Bundestag eingebracht, in dem sie Kanzler und Regierung zur «Lieferung von zusätzlich erforderlichen weitreichenden Waffensystemen und Munition» auffordern, um die Ukraine in die Lage zu versetzen, «völkerrechtskonforme, gezielte Angriffe auf strategisch relevante Ziele weit im rückwärtigen Bereich des russischen Aggressors zu ermöglichen». Das Wort Taurus kommt in dem Antrag zwar nicht vor, aber Deutschland verfügt über kein anderes Waffensystem, das die skizzierten Fähigkeiten sonst hätte (Jagdbomber scheiden aus, weil sie von der russischen Flugabwehr mutmasslich abgeschossen würden).

Parallel dazu hat auch die Union einen Antrag eingebracht, in dem sie die «unverzügliche Lieferung» explizit von Taurus fordert. Eine prominente Vertreterin der Ampelfraktionen, die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Marie-Agnes Strack-Zimmermann von den Liberalen, hat schon angekündigt, mit der Union zu stimmen. Einen Monat zuvor hatte sie noch zu den entschiedenen Gegnern des Antrags gehört.

Würde Deutschland zur Kriegspartei?

Egal, wie der Antrag formuliert ist, Olaf Scholz scheint nun die breite Mehrheit der parlamentarischen Mitte gegen sich zu haben. Wenn er dennoch weiter auf seiner Haltung bestehen sollte, müsste er zwingende Gründe gegen eine Taurus-Lieferung haben. Welche sollten das sein? Das Argument, Deutschland würde zur Kriegspartei, wenn es Zieldaten mit der Ukraine austausche und eigene Soldaten den Flugkörper programmierten, ist nicht trivial. Doch haben weder Aussen- noch Verteidigungsministerium dazu ein Rechtsgutachten eingeholt, wie sie auf Anfrage der Union vor einigen Wochen einräumten. Das scheint also nicht das Problem zu sein.

Auch die hohe Wirksamkeit von Taurus wird innerhalb der Regierungsparteien als Hemmnis bei der Entscheidungsfindung im Kanzleramt beschrieben. Weil der Marschflugkörper, anders als die von Frankreich und Grossbritannien gelieferten Scalp und Storm Shadow, auch für Russland strategisch wichtige Brücken zerstören könne, schrecke Scholz zurück. Die Brücke von Kertsch auf die Krim sei eine rote Linie für Wladimir Putin. Doch deren Zerstörung liesse sich durch entsprechende Zielprogrammierung verhindern.

Kriege werden oft nicht an der Front, sondern im Hinterland entschieden. Das gilt vor allem für einen Abnutzungskrieg wie in der Ukraine. Hier kommt es nicht auf einzelne Panzer, Geschütze und Flugzeuge an, sondern auf Nachschub, Führungsfähigkeit, auf Essen und Munition. Es mussten offenkundig erst Tausende ukrainische Soldaten sterben, russische Durchbrüche drohen und der Kremlkritiker Alexei Nawalny mutmasslich ermordet werden, ehe ein Umdenken vor allem bei den deutschen Sozialdemokraten einsetzte.

Ein Ausweg für den Kanzler

Selbst wenn der Antrag der Regierungsfraktionen am Donnerstag durch den Bundestag gehen sollte, heisst das jedoch nicht, dass Scholz von seiner Starrköpfigkeit ablassen muss. Es gibt für ihn vielleicht einen Ausweg. Einerseits könnte Deutschland in den USA Artillerieraketen vom Typ Atacms kaufen und an die Ukraine weiterreichen. Diese Flugkörper reichen bis zu 300 Kilometer weit, haben aber eine geringere Zerstörungskraft. Andererseits könnte die Bundesrepublik den Briten den Taurus liefern, während diese ihren Storm Shadow im Gegenzug den Ukrainern geben.

Beides würde dem im Antrag der Koalitionsparteien benutzten Begriff «weitreichende Waffensysteme» entsprechen. Beides würde Scholz helfen, das Gesicht zu wahren. Und beides entspräche dem «deutschen Weg», immer gemeinsam mit den Partnern zu agieren.

Das Bittere aber ist, dass die deutsche Regierung im Vorjahr mit einer entschiedeneren militärischen Unterstützung gezögert hat. Sie fürchtete einen ukrainischen Erfolg, der Russland weiter provoziert hätte. Für die Ukraine ist das nach hinten losgegangen. Sie steckt in einer dramatischeren Lage als 2023. Nun droht ein weiterer russischer Vormarsch. Gleich ob deutsche, amerikanische oder britische Flugkörper – bei der Taurus-Inszenierung in Berlin muss endlich der Vorhang fallen.

551 Kommentare
Thomas Hanke

Die männlichen Ukrainer, die da mit ihren Flaggen demonstrieren, sollten vielleicht zunächst mal selbst an der Front kämpfen. Sich vor dem Krieg verstecken, aber Deutschland hineinziehen zu wollen, ist schon krass.

Jürg Simeon

Das Theater wiederholt sich zum x-ten Mal. Zuerst nur Helme, keine Munition, keine Panzer, Kriegsverbrecher Putin könnte verstimmt sein. Die brutal angegriffenen Ukrainer sind auf die Taurus angewiesen, Taurus jetzt!