Die Asylsuchende fragt die Entscheiderin: «Haben gute Geschichtenerzähler bessere Chancen auf Asyl?»

Für ein Filmprojekt spielten Flüchtlinge ihre eigene Anhörung nach. Die Doku von Lisa Gerig gibt zu reden. In Solothurn hat «Die Anhörung» den Hauptpreis gewonnen, jetzt ist der Film im Kino.

Andreas Scheiner 4 min
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«Nigeria ist nicht wie hier, wo man Sicherheit hat.» Die Asylbewerberin (rechts) versucht, ihre Situation begreiflich zu machen, die Übersetzerin (links) hilft.

«Nigeria ist nicht wie hier, wo man Sicherheit hat.» Die Asylbewerberin (rechts) versucht, ihre Situation begreiflich zu machen, die Übersetzerin (links) hilft.

Outside the Box

Kann man «Asylchaos» sagen? Die Zahl der Asylgesuche in der Schweiz ist hoch, Verfahren ziehen sich hin, Notunterkünfte braucht das Land. Aber wie chaotisch geht es zu beim Staatssekretariat für Migration (SEM)? Hat man dort die Anträge im Griff? Den Dokumentarfilm «Die Anhörung» von Lisa Gerig kann man so oder so lesen: Die einen werden sagen, die Asylbewerber werden gehört; die andern: Klar, aber braucht es nicht mehr?

Der Einblick in die Asylverfahren, den Gerig gibt, ist zunächst einmal demonstrativ sachlich. Gerig fokussiert über weite Teile des Films einfach darauf, wie die Anhörungen von Asylbewerbern beim SEM ablaufen.

Nun sind diese Anhörungen nicht öffentlich, mit der Kamera kann man schlecht einfach hereinplatzen. Aber Gerig hatte eine Idee: Sie bat Asylbewerber, aus der Erinnerung heraus die eigenen Hearings nachzuspielen. Und das SEM machte auch mit. Echte Asylbewerber sitzen also echten Beamten gegenüber. Im Hintergrund protokolliert jemand fleissig mit, auch ein Rechtsbeistand ist dabei. Authentisch scheint das Reenactment allemal.

Vom Regimekritiker über die Trans-Aktivistin

Es bittet also ein junger Mann aus Afghanistan in der Schweiz um Schutz. Islamisten hätten ihn an den Füssen aufgehängt und gefoltert, erzählt er. «Mein Vater hat gesagt: ‹Entweder müssen wir gegen sie kämpfen, oder du musst schweigen, oder du musst gehen.›»

Dann gibt es die Tamilin, die Indien fluchtartig verlassen hat, weil sie transgender ist. Ihre Schilderung der stümperhaften Geschlechts-OP ist schon grausig. Aber vor allem soll die Polizei sie drangsaliert haben, als Aktivistin habe man ihr «mit Vergewaltigung und Tod» gedroht.

Auch ein Regimekritiker aus Kamerun berichtet, wie er von Ordnungshütern verprügelt wurde, jetzt ist er auf einem Auge blind. Aus Nigeria kommt schliesslich eine Frau, die nicht zurück in ihre Heimat kann. Denn sie hat einen Mann geheiratet, dessen Vater der Hexerei beschuldigt wird. Die Anschuldigung würde automatisch auf die Familie der Ehefrau übertragen, sagt die Asylsuchende. Deswegen sei sie in Gefahr. «Nigeria ist nicht wie hier, wo man Sicherheit hat.»

Das sind die vier Leute im Film, die um Asyl ersuchen. Ob es ihnen gewährt wurde, verrät Lisa Gerig erst zum Schluss. Die Geschichten sind jedenfalls eindringlich, man ist sofort geneigt, den Schutzsuchenden zu glauben. Aber das tun die Mitarbeiter des SEM eher nicht, hat man den Eindruck.

Lapidare Fragen

Er sei also auf dem linken Auge blind, hakt etwa der Beamte beim Antragsteller aus Kamerun nach: «Ich kann das selber so nicht erkennen. Aber ist das so?» Die Art und Weise, wie die Aussagen der Asylsuchenden hinterfragt werden, wirkt manchmal etwas lapidar. Wie soll der daraus einen Schluss ziehen?, fragt man sich gelegentlich.

Gleichzeitig kann so ein Film natürlich nur Aus- und Zusammenschnitte aus den Hearings zeigen. Die tatsächlichen Anhörungen dürften deutlich detaillierter und stringenter verlaufen. Ausserdem tragen zum Asylentscheid kaum nur die mündlichen Erzählungen bei. Ein Antragsteller legt sicherlich, wann immer möglich, Dokumente vor, die seinen Asylgrund belegen. Von zusätzlichen medizinischen Abklärungen darf man ausgehen.

Trotz seiner bemerkenswerten Versuchsanordnung vermag der Film letztlich also nur eine Ahnung von einer Asylanhörung zu vermitteln. Man ist nahe dran, und doch bleibt der Einblick ein Ausschnitt. Das wirkt zunächst problematisch: Man sieht die gutschweizerischen Leute vom Amt, die mit (bewusst?) unbeholfenen Fragen die womöglich traumatisierten Ausländer löchern. Intuitiv nimmt man für letztere Partei. Das System scheint kalt.

Asyl als Notausgang? Szenenbild aus «Die Anhörung».

Asyl als Notausgang? Szenenbild aus «Die Anhörung».

Outside the Box

Dazu trägt auch die Inszenierung bei. «Die Anhörung» zeigt weder ein Asylchaos noch sonst ein Chaos. Sondern aufgeräumte Büros, die sicher gut gestaubsaugt sind, überall ist grauer Spannteppich, überhaupt ist viel grau. Die Kamera von Ramon Giger misst gerne die Winkel aus, das Szenenbild ist um Minimalismus bemüht. Der Film geht auf Distanz, das wirkt erst einmal systemkritisch.

Die Entscheider müssen sich erklären

Aber Gerig macht es sich nicht zu einfach. Nach zwei Dritteln ändert sie das Konzept. Dokumentieren heisst ja immer auch Inszenieren, das weiss die Regie: Jeder Mensch verhält sich anders, sobald er eine Kamera auf sich gerichtet sieht. Gerig gaukelt uns nichts vor, im Gegenteil greift sie für den letzten Akt rabiat in die Inszenierung ein. Und ihr Kniff ist clever: Sie dreht den Spiess um und lässt die Asylsuchenden zur Abwechslung die Fragen stellen.

Die Befrager müssen sich nun erklären. Dadurch wirkt das System gleich menschlicher. Und der Film entzieht sich einer einfachen ideologischen Vereinnahmung. Das zeichnet die Doku aus, die in Solothurn den Hauptpreis Prix de Soleure gewonnen hat und nun in den Kinos läuft.

«Haben gute Geschichtenerzähler eine bessere Chance, Asyl zu bekommen?», fragt etwa die Frau aus Indien ihre Entscheiderin. Oder die Nigerianerin will vor allem eins wissen: «Denken Sie, dass das Asylsystem in der Schweiz wirklich fair ist?» Die Beamtin bittet um Nachsicht: Sie könne das in ihrer Position nicht beantworten. Auch Gerig kann das nicht. Aber ein Dokumentarfilm, der Antworten offenlässt und sich nicht zur moralischen Instanz erklärt, macht vieles richtig.