Auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen

«Mehr Streit!», fordert die politische Theorie. Und zwar immer entschiedener. Aber was soll am Konsens denn eigentlich so schlecht sein?

Wolfgang Hellmich
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Streit? Auseinandersetzung? Debatten? Ach was. Eigentlich braucht der Mensch zu seinem Glück nicht mehr als Wasser und einen ruhigen Abendhimmel. (Bild: Imago)

Streit? Auseinandersetzung? Debatten? Ach was. Eigentlich braucht der Mensch zu seinem Glück nicht mehr als Wasser und einen ruhigen Abendhimmel. (Bild: Imago)

Jemanden als streitbare Persönlichkeit zu bezeichnen, drückt immer auch Wertschätzung aus. Daniel Cohn-Bendit – fast wäre er auf seine alten Tage noch neuer französischer Umweltminister geworden – ist eine streitbare Persönlichkeit. Auch Günter Grass, Cristiano Ronaldo und Alice Schwarzer sind streitbare Charaktere. Sie haben etwas, woran man sich stösst. Oder stossen kann. Das macht sie zu besonderen Menschen. Streit hat ein gutes Ansehen. Er sei heilsam, heisst es. Das ist komisch, denn eigentlich scheint Streit eher zu verletzen. Je häufiger man streitet, desto grösser werden die Wunden. Eheleute lassen sich scheiden, wenn sie nur noch streiten.

Dieses Risiko blenden jene aus, die klagen, wir stritten zu wenig. In Berlin hat man erwogen, im Bundestag das Rednerpult zu entfernen. Weil es eine den politischen Streit formalisierende Wirkung habe. Reden sollten besser direkt von den Abgeordnetenbänken aus gehalten werden. Nach der Logik, die hinter dieser Forderung steckt, wäre es vielleicht noch besser, wenn sich die Parlamentarier ohne grosse formale Beschränkungen einfach angrölten. Davon sind wir in Teilen Deutschlands, und nicht nur dort, ohnehin nicht mehr allzu weit entfernt.

Bitte kein Meer der Ruhe

Die Ankurbelung des Streits ist auch zu einem Thema der politischen Theorie geworden. Da wird allenthalben geklagt, die politische Praxis sei erstarrt und entleert. «Echte» Auseinandersetzungen fänden überhaupt nicht mehr statt, und sie seien auch gar nicht gewollt, denn man wähne sich anscheinend in der besten aller möglichen Welten.

Der Soziologe Oliver Marchart findet in seinem jüngsten Buch, fast schon poetisch, wir lebten in einem «Meer der Ruhe». Die neuere politische Theorie aber will lieber Sturm und schwere See. In diesem Unwetter soll die vielgeschmähte «Postpolitik» endlich untergehen. Der Philosoph Jacques Rancière hat sie, die Schwundform der «echten» Politik, erfunden. Vor zwanzig Jahren. Sein schmales Buch trägt den Titel «Das Unvernehmen».

Was heute kursiert, findet sich dort bereits anschaulich vorformuliert. An die Stelle der «glücklichen Konsensualität» will Rancière etwas setzen, «was den Gang aufhält». Leider sagt er uns nicht, was denn so schlecht ist am Einvernehmen. Die Theoretiker des Streits, die Apologeten des Kampfs sind publizistisch sehr erfolgreich. Seit Jahren versorgt die belgische «Antipolitikerin» Chantal Mouffe den Theoriemarkt mit links gewendeten Adaptionen der Freund-Feind-Theorie von Carl Schmitt – und sie findet eine beachtliche Resonanz.

Einmal kurz mit der Lichthupe gifteln

Irritierend an der neuen Sehnsucht nach Streit ist, dass das Bedürfnis eigentlich mehr als genug befriedigt sein müsste. Schalten wir die Fernsehnachrichten ein, wird fast nur gestritten. Krieg und Gewalt sind die höchste Eskalationsstufe des Streits. Die Medien berichten davon zur Genüge. Nach den Nachrichten wird in Talkshows fröhlich (und inszeniert) weitergestritten. Und man hat den Eindruck, dass es Menschen gibt, die nur wirklich dann ganz bei sich und bei uns sind, wenn sie streiten. Wenn sie angreifen. Sei es auch nur auf der Autobahn mit der Lichthupe.

Völlig aus der Zeit gekippt scheint da eine Stelle aus den «Minima Moralia». Adorno skizziert seine Idee von einem gelungenen Leben, und da heisst es: «anstatt unter irrem Zwang auf fremde Sterne einzustürmen . . . auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen». Einige Jahre nachdem Adorno sein Bild des guten Lebens entworfen hatte, im November 1960, hielt der Politologe Dolf Sternberger in seiner Heidelberger Antrittsvorlesung fest, der Mensch sei ein prinzipiell friedliches und keineswegs ein streitlustiges Wesen. Der Politik, folgerte er, müsse es deshalb darum gehen, den Streit auszuschliessen und den Frieden zu ermöglichen. Damals herrschte der Kalte Krieg. Dies macht das Postulat verständlich. Aber sollte es nicht generell gelten?

Lange Zeit bestimmten konstruktive Begriffe den philosophischen und politischen Diskurs. «Theorie des kommunikativen Handelns», «Gerechtigkeit als Fairness», «Demokratie im Zeitalter der Globalisierung» lauten die Stichworte. Heute wird der Dissens – das «dissoziative» Moment (Mouffe) – zum Paradigma des Politischen erhoben. Warum? Weil es einfacher ist zu zerstören, als trotz allen Differenzen im «Einvernehmen» zu leben?