«Ich habe oft davon geträumt...»

«Die Inseln» machten den jungen Albert Camus trunken. Später schrieb er ein Vorwort zu dem Buch, dessen Verfasser mehr als sein Philosophielehrer war. Wieso blieb es weitgehend unbeachtet?

Raoul Schrott
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Der «einzigartige und allumfassende Glanz der Dinge», von dem Jean Grenier schreibt, ist kein geografischer Begriff. (Bild: Meyer / Tendance Floue)

Der «einzigartige und allumfassende Glanz der Dinge», von dem Jean Grenier schreibt, ist kein geografischer Begriff. (Bild: Meyer / Tendance Floue)

Lassen Sie mich Ihnen ein Buch nahelegen, das ich insgeheim für eines der schönsten halte. Ich kenne Sie nicht, vermag mir jedoch, da Sie dieses Feuilleton lesen und wir offensichtlich die Liebe zur Literatur teilen, schwer vorzustellen, dass es Ihnen missfallen könnte. Was mich betrifft, ist es das einzige Buch, das ich in mehreren Ausgaben besitze; am liebsten ist mir ein mit «Exemplar Nr. 1534» markiertes, bei dem die Seiten mit dem Brieföffner aufzuschneiden waren, als würden sie dadurch zu meinen.

Wirkliches, durchsichtig

Gestossen bin ich darauf vor mehr als dreissig Jahren zufällig irgendwo in Paris, habe es allein des Titels wegen – «Die Inseln» – gekauft und völlig anderes entdeckt. Die darin beschriebenen Kerguelen, die Osterinsel und die St.-Peters-Insel, die Glückseligen und die Borromäischen Inseln haben weniger mit Geografie zu tun denn mit John Donnes Meditationen anlässlich sich eröffnender Gelegenheiten, deren berühmtes Zitat – «Niemand ist eine Insel, in sich ganz» – sie ins Gegenteil verkehren. Denken Sie dabei aber nicht an in sich Gewandtes, eher an alltäglich Wirkliches, wie es uns in seiner und unserer Vereinzelung umgibt, und an eine Schrift, die es und uns gleichsam durchlässig macht, durchsichtig.

Es ist eines jener Bücher, über die man nicht zu viele Worte verlieren mag, auch um es nicht zu zerreden, bevor Sie es gelesen haben; ich will Sie vielmehr mit der Leere locken. Camus, der dazu 1959 ein Vorwort verfasste, blieb seinerseits am ersten Satz der «Kerguelen» hängen: «Ich habe oft davon geträumt, allein in einer fremden Stadt anzukommen, allein und ohne alle Mittel. Ich hätte bescheiden gelebt, vielleicht sogar erbärmlich. Doch vor allem hätte ich das Geheimnis bewahrt.» Er erzählt darin die Erschütterung, als ihm das 1933 erschienene Buch Jean Greniers in die Hände fiel, unter dessen Einfluss er dann zu schreiben begann: «Wir brauchten subtilere Lehrer, einen Menschen etwa, der an anderen Ufern geboren worden war, ebenfalls das Licht und die Herrlichkeit der Körper liebte, aber kam, um uns in einer unnachahmlichen Sprache zu sagen, dass die Erscheinungen der Natur schön, doch vergänglich sind und man sie deshalb hoffnungslos lieben muss.»

Der Ton solcher Zeilen machte den jungen Camus «trunken, wenn ich sie, durch die Abende von Algier laufend, für mich wiederholte; in den über zwanzig Jahren, in denen ich sie lese, haben sie nicht aufgehört, in mir zu leben – noch heute widerfährt mir, dass ich Sätze schreibe oder sage, als ob sie von mir wären, obwohl sie sich in den ‹Inseln› oder anderen Werken ihres Autors finden». Camus' Essays, von «Licht und Schatten» über die «Hochzeit des Lichts» bis zur «Heimkehr nach Tipasa», schrieben sie weiter, aber sie sind, denke ich, mit ihrem Pathos und ihrer inzwischen leicht überstiegenen Rhetorik schlechter gealtert als diese zeitlosen «Inseln», in denen vom Geburtstag, von dem Realen des Reisens und dem Imaginären Indiens, der Krankheit eines Metzgers oder dem Tod des Katers Mouloud die Rede ist.

Im Schatten einer Linde

Von Camus hatte ich damals alles gelesen. Insofern war mir Greniers Buch irgendwie vertraut, dessen luzide Sprache mich aber beeindruckte – und die Diskretion einer Haltung, die hinter den Dingen und Menschen zurücktrat, um sie desto klarer zu umreissen. Der Satz, an dem ich hängenblieb, stand bereits auf der zweiten Seite: «Ausgestreckt im Schatten einer Linde, auf einen beinah wolkenlosen Himmel schauend, sah ich diesen Himmel kippen und sich verschlingen im Leeren: das war mein erster Eindruck vom Nichts, der umso eindringlicher war, als darauf jener einer reichen und vollen Existenz folgte.» Ich habe dieses Bild in einem Band namens «Weissbuch» weitergeschrieben; das sage ich nicht, um mich vorzudrängen, sondern um zu bekräftigen, dass «Die Inseln» nichts von ihrem berückenden Leuchten verloren haben.

Von ihrem Autor, Jean Grenier, habe ich erst später erfahren, dass er nicht nur Camus' Philosophielehrer war, sondern eine Art Ersatzvater, der den halbverwaisten Sohn armer Eltern in die Kultur einführte und ihm die Skepsis gegenüber allen Dogmen beibrachte, einen existenziellen und autonomen Individualismus, das Humane hinter jedweder Ideologie, um dennoch sein Leben lang zweifelnder und unsicherer zu bleiben als der kämpferisch selbstgewisse Camus. Und ich habe erst allmählich erkannt, dass sich von Greniers Stil Linien zu Xavier de Maistres «Reise um mein Zimmer», Senancour und weiter zu Montaigne ziehen lassen, habe allenfalls bei Francis Ponge ein ähnlich im Uneigentlichen aufgehendes Ich gefunden und das Buch schliesslich zwischen Melvilles «Encantadas» und D. H. Lawrence' «Der Mann, der Inseln liebte» gestellt: Dennoch bleibt es ein Solitär. Das nimmt ihm auch diese Neuauflage nicht.

«Insgeheim» habe ich gesagt, weil es, obwohl bereits 1985 einmal auf Deutsch vorgelegt, gänzlich unbeachtet geblieben ist. Das liegt zum einen daran, dass sich für Greniers poetisch genaue Prosa und sein mediterranes Denken des Lichts keine deutsche Tradition findet, in der sie sich einordnen liessen, zum anderen am Herausgeber, der damals wie heute derselbe ist. Ein rechter Verballhorner, übersetzt er selbst in dieser «neu durchgesehenen» Ausgabe weiterhin eher flächig über alles hinweg, drängt sich sonst jedoch ins Buch, schiebt seine Versuche aufdringlich zwischen das erste und das zweite Kapitel, hängt eigene Untertitel an, schreibt sich in das Nachwort ein und ergeht sich in sogenannten Nachdenklichkeiten mit Gadamer, Iser, Blumenberg, die mit Grenier so wenig zu tun haben wie er mit ihnen – weshalb ich Ihnen all diese Stellen kurzerhand mit einem schwarzen Filzstift überstrichen habe. So geht es mit Büchern, die man sehr mag: Man vergisst leicht, sich hintanzuhalten.

Die volle Sonne

Dafür hat dieser Bearbeiter den «Inseln» eine Auswahl anderer Texte Greniers beigelegt, und dem Verlag ist zu danken, dass er ein derart unbekanntes Werk erneut unter die Leute zu bringen sucht: Das Buch übersteht es, trotz diesen Makeln, ja es freut mich sogar ein wenig, weil es auf diese Weise sein Geheimnis bewahrt. Da Sie wahrscheinlich Schweizer sind, liegt Ihnen das Französische ohnehin nahe genug, um es selbst im Original zu entdecken – umso mehr, als einige Stellen gar nicht übertragen wurden. Lassen Sie mich Ihnen eine davon ins Deutsche bringen, damit diese Rezension zu etwas nütze ist, aber auch, um noch ein wenig länger in Greniers Sprache zu bleiben: «Ich bewundere die Sonne, die volle Sonne. Ging ich jedoch als Kind den staubigen Strassen der Hügel entlang, liess mich alles – das Weisse des Wegs, die Wirbel des Staubs, der Schweiss auf meiner Haut, dieser einzigartige und allumfassende Glanz der Dinge – in eine Betäubung voller Unbehagen verfallen, mich sträubend unter einer erdrückenden und bewundernswerten Lüge: Wie kommt es, dass ich nun derart zu strahlen vermag – vor Leere? Ich hatte Angst gehabt und wollte in diesem hohlen Schmelztiegel der Einheitlichkeit zergehen.»

Sie sehen, am liebsten würde ich das Buch für mich behalten, ich gebe es nur ungern aus der Hand, deswegen habe ich es Ihnen jetzt in weisses Papier eingeschlagen: Das entspricht diesem Buch, scheint mir, am besten. Darauf lässt sich zeichnen, was einem die Lektüre eingibt, mit Bleistift oder blau, in sorgfältigen Lettern oder irgendeiner Skizze, womit immer wir dem Licht Gestalt zu geben denken, bevor es wieder zerfällt.