Den Kannibalen fallen die Zähne aus

Die Literaturkritik ist matt und brav geworden. Dass sie Einfluss nehmen kann und soll, hat sie vergessen. Soll die Kritik eine Zukunft haben, muss sie wissen, was sie kann und soll.

Roman Bucheli
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Der Kritiker sollte schon hellwach und nicht denkfaul sein, wenn er ein Buch nicht bloss am erstbesten Zipfel zu fassen kriegen möchte (Bild: Dominic Steinmann / NZZ)

Der Kritiker sollte schon hellwach und nicht denkfaul sein, wenn er ein Buch nicht bloss am erstbesten Zipfel zu fassen kriegen möchte (Bild: Dominic Steinmann / NZZ)

Eine robuste Scheinheiligkeit gehört zur Literaturkritik. In der Theorie gibt sie sich gepflegt und gebildet und ist auf virtuose Subtilität bedacht. In der Praxis aber herrschen entweder die Biederkeit oder das lustvoll Ordinäre vor. Der Kreis der Romantiker um die Gebrüder Schlegel gab dafür eine lebhafte Anschauung zu einer Zeit, als sich die moderne Kunstkritik gerade erst herausbildete. Kritisieren heisse, so verkündete Friedrich Schlegel mit Pathos und Inbrunst, einen Autor besser verstehen, als er sich selbst verstanden hat. Zugleich verbreitete Caroline Schlegel lustvoll die Anekdote, man sei bei der Lektüre von Schillers «Lied von der Glocke» in ihrem Kreise «fast von den Stühlen gefallen vor Lachen».

Auch so also – im gnadenlosen Gelächter und Gespött – kann es enden, wenn der Leser oder der Kritiker den Autor besser versteht als dieser sich selbst. Friedrich Schlegel wird in seiner heroischen Selbstbeschreibung freilich anderes, nämlich Erhabeneres, vor Augen gestanden haben. Vor der Praxis jedoch hat noch kaum eine graue Theorie lange bestanden.

Wie gross und unwiderstehlich die Versuchung zur polternden Polemik bisweilen sein kann, wusste schon Goethe. Sein berühmter, von Kant hergeleiteter und bis in unsere Tage unverdrossen angewandter kunstkritischer Dreischritt (Was hat sich der Dichter vorgenommen? Ist der Vorsatz vernünftig? Ist dessen Ausführung gelungen?) war ihm selber langweilig genug: In seinen Rezensionen konnte er pöbeln wie ein Anfänger («Schauder und Abscheu» heisst es über Kleist).

Noch heute, oder vielmehr: Heute erst recht klaffen Anspruch und Wirklichkeit auseinander. Mehr denn je hat die Literaturkritik Massstäbe und Maximen verloren. Wer wüsste noch, was sie soll oder will, geschweige: müsste. Und wer, wenn er es wüsste, wagte, danach zu handeln? Die Kritik hat an Profil verloren – und damit an Relevanz im intellektuellen Diskurs und an Einfluss auf das literarische Geschehen. Sie hat sogar vergessen, dass sie Einfluss nehmen kann und soll. Sie ist müde und matt geworden. Henry James forderte vom Kritiker, dass er «unendlich neugierig und unverbesserlich geduldig» sei. Doch das Gegenteil barmherziger Geduld müsste dem Kritiker auch ins Pflichtenheft geschrieben werden.

Unfug der Unflätigen

Walter Benjamin wäre der bessere Ratgeber für solche Zeiten wohlwollender Herablassung. In der zehnten seiner dreizehn Thesen zur «Technik des Kritikers» schrieb er: «Echte Polemik nimmt ein Buch sich so liebevoll vor, wie ein Kannibale sich einen Säugling zurüstet.» Ähnlich intrikat konnte nur Benjamin formulieren. Trifft das zu auf Rausschmeisser vom Format einer Elke Heidenreich? Ach wo, sie redet zu häufig einfach Unfug. Oder gebärdete sich Jan Wiele im Stile eines solchen Kannibalen, als er in der «FAZ» Judith Hermanns neuste Erzählungen nicht rezensierte, sondern lauter Sätze daraus zu einer Collage zusammenschrieb? Ach nein, er war einfach unflätig.

Heutigen Kannibalen im Literaturbetrieb fehlen sowohl die Zähne, wie ihnen zugleich die heillose, unerschütterliche, besinnungslose, unbelehrbare Liebe selbst zu den schlechtesten Büchern abgeht. Zu Benjamins These gehört ja gerade dieser unauflösbare Widerspruch, dass der Kannibale nicht aus Boshaftigkeit oder Mordlust handelt, sondern aus triebhafter Liebe zur ruchlosen Tat schreitet.

Die Literaturkritik erreicht ihre Schwundstufe ausgerechnet da, wo sie sich auf ihre angeblich vornehmste Aufgabe kaprizieren zu müssen glaubt: ästhetische Kritik, genauer: das Abarbeiten eines poetologischen Proseminars. Stimmt die Perspektive? Spricht auch tatsächlich, wer sprechen soll? Passen die dramaturgischen Kniffe und die Zeitsprünge? Sind die Figuren und ihre Psychen komplex genug für heutige Ansprüche? Doch Hand aufs Herz: Welchen Leser kümmert's, wenn er nur gut unterhalten wird von einem Buch oder die Geschichte bewegend genug ist?

Solche kunstkritischen Spiegelfechtereien sind ehrenvoll, aber unergiebig und irrelevant. Mit ihnen manövriert sich die Kritik in die Bedeutungslosigkeit, um sich da mit einem grossen Teil jener Literatur wiederzufinden, der sie wacker applaudiert hatte. Im postideologischen Zeitalter haben sich nach den festgefügten politischen auch die mit ihnen assoziierten Kunstpositionen aufgeweicht. Hinfällig ist die Frage, wo einer steht. Denn er steht immer zugleich da und dort.

Fragt darum noch jemand nach dem Geist, der aus einem Buch spricht? Oder, um die Frage umzudrehen: Spricht denn überhaupt noch irgendwo ein Geist aus einem Buch? Werden Haltungen, Anschauungen, Wertvorstellungen sichtbar? Und wäre es so, wüsste damit noch jemand umzugehen? Hätte jemand das Herz, sie zu bejahen, ein anderer die Stirn, sie zu bekämpfen?

Es ist längst aus der Mode gekommen, das Buch als ein bald subtiles, bald rustikales Instrument im kulturellen, politischen, gesellschaftlichen Kampf zu verstehen (weil das Buch selbst es verbietet, als Bekenntnis für dies oder jenes gelesen zu werden). Selbst ein solches Vokabular kann in einem Umfeld der verfeinerten Schöngeister eher mit Unbehagen als mit Zustimmung rechnen.

Die Kritik ist weit davon entfernt, solche veränderten Verhältnisse und den Umgang damit zu problematisieren. Lieber eiert der Kritiker heute mit gepflegtem Relativismus herum: Jedes Werk soll an den Kriterien gemessen werden, die es gleichsam selber vorgibt. Aber wie soll das wiederum gehen in einer Zeit, da der Kanon verloren ging und Massstäbe an keiner Tradition mehr geeicht werden können?

Je bedeutungsloser indessen die Kritik auf solchen Positionen wird, umso vehementer besteht sie auf ihrer angeblichen Unabdingbarkeit. Doch die Literatur gedeiht und misslingt ganz ohne Zutun der Kritiker. Ist die Literatur etwa besser geworden, seit am Ende des 18. Jahrhunderts die Kritik angesichts der entfesselten Mittel der Kunst ihre wahre Aufgabe entdeckte? Der Leser wiederum findet Orientierung ohnehin auf anderen, leichter zugänglichen Wegen. Er schaut nicht mehr so sehr darauf, ob einer den Daumen rauf oder runter hält.

Die Kritik muss angriffiger werden. Sie soll wieder fordernder auftreten. Zu lange schon hält sie Zurückhaltung für eine Tugend, die Sainte-Beuve (der Botaniker unter den Kritikern) Mitte des 19. Jahrhunderts einmal so umschrieben hatte: «Alles Geschriebene in dem Geist zu lesen, der es eingegeben hat.»

Dass ein Werk auch gegen seinen Strich gebürstet werden kann, ja, muss, scheint in den gemässigten Zonen der gegenwärtigen intellektuellen Genügsamkeit in Vergessenheit zu geraten. Auch der Kritiker will geliebt sein, gewiss. Aber muss er sich darum gleich einem Autor an den Hals werfen? Auch für die Kritik gilt, was Richard Kämmerlings den «Wahrheitstest» der Literatur nannte: Je mehr sie weh tut, desto wahrer ist sie.

Kritik soll weh tun

In Zeiten eines halb selbstverschuldeten, halb von veränderten Voraussetzungen im Literaturbetrieb bedingten Relevanzverlusts der Kritik muss sie ihre Rolle neu erfinden. Wie diese Rolle aussehen könnte, hat der Schriftsteller Rainald Goetz einmal in unnachahmlicher Weise beschrieben: «Kunst haut einen um, Kritik bringt einen zum Denken.»

Wenn man wahre Sätze daran erkennt, dass auch ihr Gegenteil zutrifft, dann steht die Wahrheit dieser Formulierung fest. Kunst und Kritik hauen um – und bringen einen zum Denken. Das darf man getrost auch in den Imperativ setzen: Kritik soll umhauen und zum Denken bringen – oder sie ist nicht.

Nur wenn das gelingt, wird die Kritik wieder zu einem Genre, das nicht allein Orientierung in der Unübersichtlichkeit der Neuerscheinungen verspricht, das nicht nur Kaufempfehlungen formuliert, das nicht nur über ästhetisch Gelungenes oder Misslungenes urteilt. Die Kritik findet dann wieder zu eigener intellektueller Kraft. Indem sie über die Geister spricht, die in einem Werk walten – oder eben nicht walten. Indem sie sich selbst abverlangt, was sie von Büchern fordert: dass sie zum Denken anstiften und verführen.