Ihre Kunst scheint direkt ihrem Körper zu entstammen. Blutrot sind die Fäden, die die Japanerin Chiharu Shiota verwebt

Das Werk der japanischen Künstlerin Chiharu Shiota besteht aus Abertausenden von Fäden, wie eine Ausstellung im Haus Konstruktiv zeigt. Das erinnert an die Grande Dame der zeitgenössischen Kunst Louise Bourgeois und ihre riesigen Spinnen. Dem weiblich assoziierten Handwerk bedienen sich viele Künstlerinnen seit der Moderne.

Philipp Meier 4 min
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Chiharu Shiota, «Eye to Eye», 2023, Installationsansicht, Museum Haus Konstruktiv.

Chiharu Shiota, «Eye to Eye», 2023, Installationsansicht, Museum Haus Konstruktiv.

Stefan Altenburger / © 2023, Pro Litteris, Zürich

Ein Kinderkleidchen schwebt im luftleeren Raum. Die Erscheinung in der Vitrine wirkt wie ein Hologramm oder ein 3-D-Bild. Bei der japanischen Künstlerin Chiharu Shiota ist aber alles ganz real – und sehr materiell. Dieses unheimliche Schweben erreicht sie durch ein dichtes Geflecht dünner schwarzer Fäden, die den Vitrinenkasten umgarnen und durchwirken, so dass das weiss leuchtende Kleidungsstück im Dickicht des Gebindes als unwirklich-entrückte Vision zu vibrieren scheint.

Mit solchen Fadeninstallationen ist die in Osaka geborene und heute in Berlin lebende Künstlerin mittlerweile zum Weltstar geworden. Ihre oft raumgreifenden spinnennetzartigen Gebilde, die in ihrem transparenten Inneren die verschiedensten Objets trouvées gefangen halten – oft alltägliche Gegenstände wie Möbel, Bücher oder eben Kleidungsstücke, einmal auch ein ganzes Schiff oder einen Konzertflügel –, verfügen über eine visuell starke Anziehungskraft. Sie fesseln förmlich den Blick, so dass man sich bald selber umgarnt fühlt und als Gefangener Teil wird von diesen Kunstwerken.

«Ein Bild hielt uns gefangen. Und heraus konnten wir nicht (. . .)», hat Wittgenstein einmal geschrieben. Das trifft es auf den Punkt, wenn wir uns die Wahrnehmung im Fall von Chiharu Shiotas faszinierenden Installationen für einmal nicht als aktiven Vorgang vorstellen wollen, über den wir frei verfügen, sondern vielmehr als passiv erfolgte Verführung des Blicks durch diese magisch-filigranen Fadenkreationen.

Wir haften mit unseren Augen wie durch unsichtbare Fäden festgehalten an diesem geisterhaften Kinderkleid in der gegenwärtigen Ausstellung im Zürcher Haus Konstruktiv. Und in der grossen Eingangshalle im Parterre tauchen wir ein in einen Kokon aus Tausenden von der Decke hängenden Fäden. In der begehbaren Rieseninstallation sind wir nun im Innern des Kunstwerks angekommen und sind wahrhaftig eingeschlossen im Bild in Wittgensteinschem Sinn.

Die in Osaka geborene Künstlerin Chiharu Shiota lebt und arbeitet heute in Berlin.

Die in Osaka geborene Künstlerin Chiharu Shiota lebt und arbeitet heute in Berlin.

Sunhi Mang

Sinnfäden des Auges

Dass bei Chiharu Shiota dem Auge eine besondere Bedeutung zukommt, zeigt sich gerade an dieser faszinierenden Rauminstallation mit dem Titel «Eye to Eye» von 2023. An der überwältigenden Menge von blutroten Fäden, eigentlich sind es dünnere Seile, hängen Tausende von Brillen. Es sind getragene Sonnen- und Korrekturbrillen, die die Künstlerin über die Jahre gesammelt hat. Einige von ihnen weisen zerbrochene Gläser auf, andere Beispiele wirken durch die stumpf gewordene Tönung der Sonnenbrillengläser wie erblindet.

Chiharu Shiota: «Eye to Eye», 2023 Installationsansicht im Haus Konstruktiv.

Chiharu Shiota: «Eye to Eye», 2023 Installationsansicht im Haus Konstruktiv.

Stefan Altenburger / © 2023, Pro Litteris, Zürich

Wir aber blicken gebannt auf dieses Augenmeer von unzähligen Sinnfäden und Assoziationen, die uns mit einem grösseren Geflecht von Bedeutungen verknüpfen. Ist da eine grosse Mutterspinne am Werk wie etwa jene Eier tragende, über unsere Köpfe hinwegschreitende Spinne von Louise Bourgeois, dieser Grande Dame der weiblichen Kunst der Gegenwart? Auch sie hat mit Wollknäueln gewerkt und Fäden gewirkt, mit Textilien und Gewebetexturen gearbeitet – einem traditionell weiblichen Medium, dessen sich seit der Moderne viele Künstlerinnen bedienten.

Sie stricken und weben oder malen und zeichnen mit Fäden wie Chiharu Shiota. Der vermeintlich so häuslich-harmlosen Frauentätigkeit, den Faden zu führen, ist revolutionäres Potenzial eingeschrieben. Gestricktes und Gehäkeltes gebar schon bei Sophie Taeuber-Arp ganz neue Bildwelten, mit welchen sie zur künstlerischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts beitrug. Ihren künstlerischen Beitrag mit Nadel und Faden zur feministischen Sache leisteten in den siebziger Jahren wiederum Künstlerinnen wie Rosemarie Trockel, Annette Messager oder Tracey Emin.

Und die in New York lebende Ägypterin Ghada Amer wählt bewusst das Medium des Stickens, wenn sie Abbilder von Frauen in explizit pornografischen Posen Stich für Stich auf der Leinwand nachzeichnet und dadurch diffuse Fadengebilde schafft, deren Sujets erst allmählich, bei genauerem Hinschauen aber umso schockartiger zu erkennen sind.

Die Netze der Arachne

Dass Textiles weiblich konnotiert sein soll, mag heute klischeeverdächtig geworden sein. Allerdings haben sich Frauen gezielt Alternativen gesucht in der männlich dominierten Kunstwelt, um sich behaupten zu können, und so auf vermeintlich Eigenes zurückgegriffen. Solch spezifisch weibliches Wirken in der Kunst erinnert an die mythische Macht der Schicksalsgöttinnen, die über den Lebensfaden bestimmen. Aber auch an die Weberinnen von Diego Velázquez, der die Sage der Arachne aus der griechischen Antike ins Bild gesetzt hat.

Was in seinem berühmten Gemälde «Die Spinnerinnen» auf den ersten Blick wie eine Darstellung einer Teppichmanufaktur daherkommt, entpuppt sich als die verkappte Schilderung des mythischen Wettkampfs zwischen Minerva, der Göttin der Webkunst, und der Weberin Arachne. In Ovids Mythos weben beide, das sterbliche lydische Mädchen und die olympische Göttin, einen Teppich mit mythologischen Geschichten. Arachne aber webt so gut, dass die herausgeforderte Göttin vor Wut deren Teppich zerreisst und die hochbegabte Weberin in eine Spinne verwandelt.

Seitdem ist sie bis in alle Ewigkeit dazu verdammt, Bilder wie Netze zu weben, mit welchen sie ihre Betrachter in den Bann schlägt. Dafür müssen sie und alle ihre Nachkommen den Faden für ihre Gewebe aus dem eigenen Bauch ziehen. Ihren künstlerischen Erzeugnissen tut das aber keinen Abbruch. Im Gegenteil: Kreativität verfängt umso mehr, kommt sie von innen. Und Chiharu Shiotas Fäden scheinen direkt ihrem Körper zu entstammen. Blutrot sind sie in den allermeisten Fällen.

Das erinnert bisweilen auch an die Nabelschnur. Ihre mit rotem Faden verarbeiteten Geflechte betrachtet die Künstlerin selber als Analogien für zwischenmenschliche Beziehungen. Ein Faden lässt sich verbinden und verknüpfen. Er kann sich aber auch verheddern oder gar reissen. Und so geschieht es bisweilen mit unseren innigsten Banden zu anderen Menschen.

«Out of My Body» heisst eine weitere Installation in der Zürcher Schau. Sie zeigt rot eingefärbte, an der Decke fixierte filigrane Geflechte aus Rinds- und Ziegenleder. Sie schweben in verschiedenen Grössen und auf unterschiedlicher Höhe im Raum. Darunter auf dem Boden ruhen ein paar Füsse aus Bronze. Es sind die Abgüsse der Füsse der Künstlerin selber: eine Emanation ihres eigenen Körpers als blutrotes Gewebe.

Chiharu Shiota: «Out of My Body», 2020, Ansicht der Installation im Haus Konstruktiv.

Chiharu Shiota: «Out of My Body», 2020, Ansicht der Installation im Haus Konstruktiv.

Stefan Altenburger / © 2023, Pro Litteris, Zürich

«Chiharu Shiota: Eye to Eye», Haus Konstruktiv, Zürich, bis 10. September.