Der Kaiser trinkt Moselwein, und Rom steht in Flammen: wie das Römische Reich untergegangen ist

Während gut zwei Jahrhunderten hat sich das Imperium Romanum langsam aufgelöst. Aber ganz verschwunden ist es nie. Drei Ausstellungen in Trier fragen nach den Gründen des Zerfalls.

Thomas Ribi
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Achtung, die Barbaren kommen: Alarichs Horden plündern Rom im Jahr 410 n. Chr. Gemälde von Joseph-Noël Sylvestre (1890).

Achtung, die Barbaren kommen: Alarichs Horden plündern Rom im Jahr 410 n. Chr. Gemälde von Joseph-Noël Sylvestre (1890).

Eric Teissedre / Rheinisches Landesmuseum Trier

Ein hübscher Jüngling soll er gewesen sein, fast noch ein Kind. Sechzehn Jahre alt, feingliedrig und völlig unerfahren. Er hiess Romulus, eine verwehte Reminiszenz an den grossen Romulus, von dem man erzählte, er habe in grauer Vorzeit Rom gegründet. Sein Vater war ein römischer General namens Orestes, der früher dem Hunnenkönig Attila gedient hatte. Er liess den kleinen Romulus von seinen Truppen zum Kaiser ausrufen, im Oktober 475 n. Chr. Selbst wollte Orestes nicht Kaiser werden, die Stellung als Offizier war ihm lieber. Einflussreicher war sie allemal. Und weniger gefährlich.

Romulus war ein knappes Jahr lang Kaiser, aber von Herrschaft konnte nicht die Rede sein. Sein Vater zog die Fäden und gab sich auch keine Mühe, das zu verschleiern. Er tat es umtriebig, aber selten glücklich. Von Politik hatte Orestes keine Ahnung, von Diplomatie erst recht nicht. Er war Soldat, ein rauer Troupier, aber am Ende vielleicht doch zu wenig rücksichtslos, um den Landsknechten Paroli zu bieten, die Italien durchstreiften, Land forderten, Städte plünderten und der kaiserlichen Armee das Leben schwermachten.

Von all dem bekam Romulus nur wenig mit. Er lebte in der Residenz in Ravenna, abgeschottet von der Welt. Ein Platzhalter, eine Marionette ohne Einfluss. Keinen Schritt konnte er machen, ohne dass Leibwächter ihm folgten. Seine Feinde nannten ihn verächtlich Augustulus, «Kaiserlein», da hallte spöttisch die Erinnerung an den grossen Augustus nach, den ersten Kaiser Roms. Feinde hatte Romulus viele, auch in nächster Nähe. Und sie waren von den Freunden kaum zu unterscheiden. Die, die ihn bewachten, konnten sich morgen gegen ihn erheben, die Loyalitäten am Kaiserhof wechselten rasch. Trauen konnte Romulus niemandem.

Seine Stellung war untrennbar an die seines Vaters geknüpft. Und dessen Position war nicht so sicher, wie dieser selbst glaubte. Erlangt hatte er sie mit Hilfe eines germanischen Stammesführers: Flavius Odoaker, dessen Vater ebenfalls ein früherer Vasall von Attila gewesen war. Mit ihm zusammen nahm Orestes Ravenna ein, das seit Anfang des 4. Jahrhunderts eine der Hauptstädte im Westen des Römischen Reichs war.

Kein Kaiser, ein König

Als Dank für die Unterstützung hatte er Odoaker die Herrschaft über einen Drittel des italischen Bodens versprochen. Nach der Eroberung hatte er es freilich nicht eilig, das Versprechen zu erfüllen. Odoaker wurde zornig und reagierte umgehend. Er zog mit eilends rekrutierten germanischen Söldnern gegen Orestes, überwältigte dessen Truppen und richtete ihn am 28. August 476 in der Nähe von Placentia, dem heutigen Piacenza, hin.

Dann ging es rasch. Eine gute Woche später, am 4. September, nahm Odoaker Ravenna ein und setzte Romulus ab. Das geschah ohne grosses Blutvergiessen, Widerstand gab es kaum, und anscheinend ging Odoaker sehr rücksichtsvoll vor. In den Chroniken heisst es, das Schicksal des zarten Kaiserleins habe ihn so gerührt, dass er ihm aus Mitleid ein Landgut in der Nähe von Neapel geschenkt habe, auf dem dieser mit seinen Angehörigen leben konnte. Mitsamt einer Rente von 6000 Goldstücken pro Jahr.

Die Abdankung des Romulus setzt einen leisen, fast ironischen Schlusspunkt hinter die Geschichte der Antike. Mit dem Kaisertum war Schluss. Odoaker übernahm die Macht über Italien, aber nicht den Titel seiner Vorgänger. Er nannte sich «Rex Italiae», Fürst von Italien, und setzte sich mit dem Kaiser im Osten ins Vernehmen. Durch eine Gesandtschaft von Senatoren liess er den Kaiserornat nach Konstantinopel bringen. Man brauche im Westen keinen Kaiser mehr, liess er ausrichten. Es waren neue Zeiten angebrochen.

Geschichte verläuft nicht in Epochen. Aber seit der frühen Neuzeit steht das Ende des Romulus symbolisch für den Untergang des Römischen Reichs, obwohl Romulus, genaugenommen, gar nicht der letzte römische Kaiser im Westen war. Sein Mitkaiser Julius Nepos residierte noch vier Jahre lang in Dalmatien. Dann wurde er ermordet, im Palast, den Kaiser Diocletian einst gebaut hatte. Macht in dem Sinn, wie man sich das bei einem römischen Kaiser vorstellt, hatte freilich auch Nepos nicht mehr gehabt. Die war schon lange im Osten, beim Kaiser in Konstantinopel, der die von Augustus ausgehende Tradition bis 1453 fortsetzte. Und bei den kaiserlichen Heerführern, die Italien in wechselnden Koalitionen unter sich aufteilten.

In den Staub mit allen Feinden Roms: Das Fragment eines Reliefs mit kämpfenden Barbaren vom Anfang des 2. Jahrhunderts n. Chr. zeigt das Selbstbewusstsein der Römer als Hüter einer von den Göttern gefügten Ordnung.

In den Staub mit allen Feinden Roms: Das Fragment eines Reliefs mit kämpfenden Barbaren vom Anfang des 2. Jahrhunderts n. Chr. zeigt das Selbstbewusstsein der Römer als Hüter einer von den Göttern gefügten Ordnung.

René-Gabriel Ojéda / Grand Palais / Rheinisches Landesmuseum Trier

Die Macht geht in die Provinz

Für die Zeitgenossen dürfte die Vertreibung des Romulus kein entscheidender Einschnitt gewesen sein. Und dies nicht deshalb, weil man historische Ereignisse oft erst aus der Distanz in ihrer ganzen Tragweite erkennt, sondern weil im Alltag der meisten Menschen alles so weiterging wie vorher. Von Romulus hatten die Leute sowieso nie viel gespürt, der Hofstaat in Ravenna, die Verwaltung und das Heer bestanden fort, und auch die Kirche funktionierte weiter. Odoaker pflegte gute Beziehungen zu den Bischöfen und setzte ein paar Jahre nach der Machtübernahme sogar einen neuen Papst ein, ohne dass irgendjemand daran Anstoss genommen hätte.

Dass Kaiser nur kurze Zeit an der Macht waren, daran hatten sich die Menschen schon lange gewöhnt, und im von Ravenna aus regierten Reichsteil waren es schon vor Romulus nicht die Kaiser gewesen, die die Macht verkörperten, sondern die hohen Beamten, Generäle und Patrizier. Es gab keinen Kaiser mehr, also brauchte es auch keinen. Die Stadt Rom, das frühere Zentrum der Macht, spielte bereits seit Jahrzehnten keine grosse Rolle mehr, und abseits der städtischen Zentren war die Frage, ob man sich nun im Römischen Reich befinde oder nicht, sowieso belanglos.

In gewisser Weise war der römische Westen untergegangen, bevor die letzten Kaiser von der Bildfläche verschwanden. Leise, aber unaufhaltsam. Vielleicht ging das Imperium unter, seit es aus organisatorischen und militärischen Gründen Ende des 4. Jahrhunderts formell in einen West- und einen Ostteil geteilt worden war. Vielleicht auch schon, seit Diocletian gut hundert Jahre früher das Herrschaftssystem reformiert hatte. Statt eines Kaisers gab es seit damals vier. Zwei Oberkaiser (Augusti) und zwei Unterkaiser (Caesares), die je selbständig ihnen zugeteilte Gebiete des Reiches betreuten.

Das Zentrum Rom verlor damit schrittweise an Bedeutung. Dort waren die alten Institutionen, der Senat, der Kaiserpalast, das Forum, die Tempel. Dort standen die Monumente, die an die grossen Ereignisse der Vergangenheit erinnerten. Rom blieb der ideelle Mittelpunkt des Reichs. Aber die Macht wurde mehr und mehr in Gebieten ausgeübt, die früher als Provinz gegolten hatten. Die Kaiser errichteten Residenzen in Städten, die näher an den militärischen Brennpunkten lagen: in Trier an der Mosel, am Bosporus in Konstantinopel, in Ravenna, Mailand oder in Split an der dalmatischen Küste, im heutigen Kroatien.

Ein Königreich für ein Huhn

Einen Kaiser gab es keinen mehr in Rom. Aber als Mythos war die Stadt, die einst den ganzen Erdkreis regiert hatte, im Bewusstsein der Menschen noch präsent. Und der frühere Glanz des Kaisers irgendwie auch. Als Alarich, ein gotischer Söldner in römischen Diensten, mit seinen Truppen 410 in Rom einzog, das Kapitol in Brand setzte und die Stadt verwüstete, reagierten die Zeitgenossen schockiert, Christen wie Heiden. «Die Stimme stockt mir, und vor Schluchzen kann ich nicht weiterdiktieren», schrieb der heilige Hieronymus in einem Brief: «Die Stadt Rom ist eingenommen, die zuvor die ganze Welt besiegt hatte.»

Die Siege lagen lange zurück, aber die Erinnerung an sie war lebendig. Bei den meisten wenigstens. Kaiser Honorius zeigte sich über Alarichs Einfall eher verwirrt als erschüttert. Als man ihm, der sich in Ravenna befand, meldete, mit Roma sei es zu Ende, habe er ungläubig eingewendet, das könne nicht sein. Sie habe doch eben erst aus seiner Hand gefressen, soll er gesagt haben, weil er meinte, die Diener sprächen von seinem Lieblingshuhn Roma. Dass Rom in Flammen stand, habe den Kaiser beruhigt, schreibt der Historiker Prokop. Hauptsache, die Henne war bei guter Gesundheit.

Der historischen Wahrheit dürfte diese Geschichte kaum entsprechen, auch wenn man bereit ist, den Begriff weit zu fassen. Aber durch sie ist der Kaiser, der sich lieber der Hühnerzucht widmet, als den Tatsachen ins Gesicht zu sehen, in die Literatur eingegangen – bis hin zu Friedrich Dürrenmatts «Romulus der Grosse», der Romulus und Honorius suggestiv zu einer Figur verschmilzt.

Ganz am Rand des Reichs

Historisch zeigt die Episode immerhin, dass die Menschen spürten, wie sich das Machtgefüge verschoben hatte. Die starken Männer waren nicht mehr die Kaiser, sondern deren Generäle. Sie bestimmten, was geschah, und nur Herrscher von Format konnten sich gegen sie durchzusetzen. In den meisten Fällen waren sie keine Römer mehr, sondern Angehörige von Stämmen, die man früher als barbarisch bezeichnet hätte.

Sind also die «Barbaren» die Ursache für den Untergang des Weltreichs, das im 2. Jahrhundert n. Chr. die ganze Mittelmeerwelt umfasst hatte? Oder war es die innere Schwäche einer Gesellschaft, die nach einer historisch beispiellos langen Zeit des Friedens und des Wohlstands träge und dekadent geworden war? War die Aufteilung der Macht auf mehrere Herrscher der Anfang des Endes? Änderten sich die Umweltbedingungen, so dass die von Missernten, Seuchen und wirtschaftlichen Problemen gebeutelten Menschen nur noch tatenlos zuschauen konnten, wie um sie herum das zerfiel, was in glorreichen, aber lang zurückliegenden Jahrhunderten aufgebaut worden war?

Der Untergang des Römischen Reiches ist seit Jahrhunderten ein Paradeproblem der Geschichtswissenschaft. Dutzende und Aberdutzende von Theorien sind dazu schon vorgebracht worden, noch immer kommen neue hinzu, und oft spiegeln sie eher die Probleme der Zeit, in der sie entstanden, als dass sie fruchtbare Erklärungsansätze zur Lösung der historischen Frage liefern würden.

Es ist fast unmöglich, den Blick auf die Fakten von der Vorstellung zu trennen, die man sich von den Gründen für den Untergang macht. Je nachdem, wie man die historischen Ereignisse verstehen will, wird man den Zeitpunkt des Untergangs anders ansetzen – und sich vielleicht sogar fragen, ob denn tatsächlich von einem Untergang die Rede sein könne.

Am Hof der spätantiken Kaiser wuchs die Macht der Generäle, zum Beispiel des Heermeisters Stilicho (rechts), der aus einem vandalischen Adelsgeschlecht stammte. Diptychon aus dem Ende des 4. Jahrhunderts.

Am Hof der spätantiken Kaiser wuchs die Macht der Generäle, zum Beispiel des Heermeisters Stilicho (rechts), der aus einem vandalischen Adelsgeschlecht stammte. Diptychon aus dem Ende des 4. Jahrhunderts.

Rheinisches Landesmuseum Trier

Am Rand des Reichs

Geschichte ist ein Kontinuum, und die Geschichte des spätantiken Rom erst recht. Das zeigt sich an wenigen Orten so deutlich wie in Trier, wo gerade drei grosse Ausstellungen über den Untergang des Römischen Reichs zu sehen sind (siehe Zusatztext). Seit Ende des 3. Jahrhunderts war die Stadt an der Mosel, am Rand des Reichs, eine der wichtigsten Städte im Westen des Reichs. Constantius, einer der Mitkaiser Diocletians, machte Augusta Treverorum 293 zu seiner Residenz, und unter dessen Sohn Konstantin wurde sie zur Hauptstadt ausgebaut. Mit einer monumentalen Palastanlage, repräsentativen Thermen und einer riesigen Audienzhalle, die noch heute besteht und als evangelische Kirche dient.

Bis zum Anfang des 5. Jahrhunderts war Trier einer der Brennpunkte von Roms Macht. Einer Macht freilich, die stets bedroht war, so angenehm es sich an der Mosel leben liess, wo bereits damals ein herausragender Wein angebaut wurde. Die Völker jenseits der Reichsgrenze waren nah. Und die Grenze war durchlässiger, als man sich das wünschte, auch wenn zeitweilig ein immenser Aufwand betrieben wurde, um sie zu sichern. Laufend fielen Germanen, Gallier, Goten, Franken oder wer auch immer ein und führten den Römern vor Augen, wie fragil ihre Herrschaft war. Um das Jahr 400 zog der Hof weiter nach Mailand, kurze Zeit später wurde das Verwaltungszentrum nach Arles verlegt, Trier wurde wieder Provinzstadt.

Doch es blieb Bischofssitz. Die Kirche sorgte für eine Kontinuität, die der Staat nicht mehr gewährleisten konnte, und das nicht erst, als sich die Strukturen des Reichs auflösten. Anfang des 3. Jahrhunderts waren die Christen, die vom Kaiser wenige Jahre vorher noch brutal verfolgt worden waren, durch ein Edikt von Kaiser Konstantin zur geduldeten Minderheit geworden. Im Jahr 380 erklärte Theodosius das Christentum faktisch zur Staatsreligion. Christen bekleideten nach und nach hohe Staatsstellen, Kirchen wurden gebaut oder Tempel zu Kirchen umgestaltet.

Die alten Götter rächen sich

Zwischen Kaiser und Kirche kam es zu einer Annäherung. Doch das Verhältnis zwischen Heiden und Christen blieb angespannt, zumal in der Bevölkerung das Bewusstsein dafür verbreitet war, dass sich im Reich Verfallserscheinungen zeigten und die Grösse Roms je länger, desto mehr der Vergangenheit angehörte. Die heidnischen Zeitgenossen führten das darauf zurück, dass die Kulte der alten Götter nicht mehr so gepflegt wurden, wie die Vorfahren das getan hatten.

Venus, Jupiter, Minerva, Juno und Vesta hatten Rom in ihren Augen gross gemacht. Ebenso der Kriegsgott Mars, schliesslich war der mythische Stadtgründer Romulus sein Sohn. Und auch die Götter aus dem Osten, Isis, Osiris, Mithras und wie sie alle hiessen, die nach und nach auch in Rom heimisch geworden waren, hatten zu Roms Glanz beigetragen. Dass ihre Kulte vernachlässigt wurden, dass Kaiser Konstantin sogar das Christussymbol auf die Feldzeichen des Heers hatte setzen lassen, das rächte sich nun.

Die Christen ihrerseits erklärten sich die zunehmende Unsicherheit, die Konflikte an den Grenzen, die immer wieder aufflammenden Bürgerkriege, Wirtschaftskrisen und den sichtbaren Verfall der Städte als Strafe Gottes oder als Vorzeichen des nahenden Jüngsten Gerichts. Die Kaiser waren kaum mehr in der Lage, die unmittelbar anstehenden Probleme auch nur halbwegs zu lösen. Eine Reform folgte auf die andere, und einige davon waren langfristig fatal, auch wenn sie im Augenblick alternativlos schienen – die Trennung von militärischer und ziviler Befehlsgewalt etwa, die die Kaiser mehr und mehr von der Gunst ihrer Generäle abhängig machte.

Auch die Gesellschaft veränderte sich. Der Sieg des Christentums ging einher mit der Institutionalisierung religiöser Intoleranz, was der vorchristlichen Antike fremd gewesen war. Ein Gott mehr im Pantheon – für die Anhänger der alten Götter war das kein Problem gewesen. Aber wenn dieser Gott keine anderen Götter neben sich duldete und es sogar verbot, am Geburtstag des Kaisers auch nur ein paar Weihrauchkörner zu verbrennen, wurde es schwierig.

Die heidnischen Götter mussten weg, als die Christen an die Macht kamen. Aber man konnte sie auch christianisieren: Kopf einer Venusstatue mit einem nachträglich eingekerbten christlichen Kreuz auf der Stirn.

Die heidnischen Götter mussten weg, als die Christen an die Macht kamen. Aber man konnte sie auch christianisieren: Kopf einer Venusstatue mit einem nachträglich eingekerbten christlichen Kreuz auf der Stirn.

Th. Zuehmer / Rheinisches Landesmuseum Trier

Kein Platz für Toleranz

Die Kaiser zögerten lange, die heidnischen Kulte zu stark zurückzudrängen. Selbst den Kaiserkult, der für die Christen das grösste Ärgernis war, liessen sie fortbestehen. Konstantin, der als erster christlicher Kaiser in die Geschichte eingehen sollte, war nach wie vor «Pontifex maximus», oberster Priester des römischen Staatskults. Im Jahr 326 beging er den zwanzigsten Jahrestag seines Regierungsantritts, mit einem Festzug, der zum Jupitertempel auf dem Capitol führte. So hatte man es seit Hunderten von Jahren gehalten.

Doch Konstantin war das auf einmal peinlich. Obwohl er damals noch nicht getauft war, empfand er die heidnische Feier als unpassend, liess den Umzug auflösen und sagte die Feier ab. Die Oberaufsicht über die heidnischen Kulte behielt der Kaiser trotzdem noch ein paar Jahrzehnte lang. Erst Ende des 4. Jahrhunderts liess Theodosius den Titel «Pontifex maximus» aus der Kaisertitulatur streichen und verbot die heidnischen Kulte unter Androhung härtester Strafen.

Auch Götterstatuen und heidnische Kunstwerke waren damit dem Untergang geweiht. Die christlichen Kaiser schleiften das antike Erbe wie einst Alarichs Horden. Es gab, was es nie gegeben hatte: einen richtigen und einen falschen Glauben. Für Toleranz gegenüber anderen Glaubensrichtungen gab es im Christentum keinen Platz. Obwohl bei den frühen Christen doch die Erinnerung daran hätte lebendig bleiben müssen, was die Verfolgungen durch heidnische römische Kaiser in den eigenen Reihen angerichtet hatten.

Trier im Zeichen des Untergangs

rib. · Trier ist die älteste Stadt Deutschlands. 17 v. Chr. von Augustus gegründet, wurde sie im 4. Jahrhundert zur kaiserlichen Residenzstadt ausgebaut. Besonders Kaiser Konstantin liess repräsentative Bauten errichten: eine Palastanlage, Thermen und eine grosse Audienzhalle, deren Überreste noch heute zu sehen sind. In der gleichen Zeit entstanden in Trier die ersten grossen Kirchenbauten, vor allem der Dom, der als älteste Bischofskirche Deutschlands gilt. In drei Ausstellungen widmet sich die Stadt zurzeit dem Untergang des Römischen Reichs. In einem grossangelegten Projekt zeichnen das Rheinische Landesmuseum, das Museum am Dom und das Museum Simeonstift anhand von rund 700 Exponaten die politische, wirtschaftliche, religiöse und kulturelle Entwicklung Roms zwischen 350 und 500 n. Chr. nach und fragen nach Brüchen und Kontinuitäten im Übergang von der Antike zum Mittelalter. Die Ausstellungen sind bis zum 27. November 2022 zu sehen. (Informationen unter www.untergang-rom-ausstellung.de)

NZZ Live-Veranstaltung: Die Furie des Verschwindens – was die Zeit mit uns macht
Das Zerrinnen der Zeit setzt uns zu. Je rascher Neues entsteht, desto jäher verschwindet es auch. Rasend verwandelt sich das Gesicht der Welt. Was bedeutet diese Beschleunigung? Wie halten wir stand?
1. Dezember 2022, 18:30 Uhr, Festsaal Kunsthaus-Erweiterung, Kunsthaus Zürich
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