Zum Tod der Literaturkritikerin Gunhild Kübler: Sie las in den Büchern wie Musiker in den Partituren

Gunhild Kübler gehörte zu den profiliertesten Literaturkritikern im deutschsprachigen Raum. Nun ist sie 77-jährig in Zürich gestorben.

Roman Bucheli
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Die Literaturkritikerin Gunhild Kübler (1944–2021) hat das literarische Leben hierzulande in den letzten Jahrzehnten mitgeprägt.

Die Literaturkritikerin Gunhild Kübler (1944–2021) hat das literarische Leben hierzulande in den letzten Jahrzehnten mitgeprägt.

Str / Keystone

Sie war eine Schnelldenkerin. Man sah hinter ihren sich unablässig in Bewegung befindlichen hellwachen Augen die Gedanken förmlich aufblitzen. Und so wie sie dachte, so sprach sie auch: Vielleicht kam der in Karlsruhe Geborenen auch der badische Dialekt entgegen, den sie sich nie abgewöhnt hatte, jedenfalls lief ihr Mundwerk wie ein munteres Maschinchen, das messerscharfe Überlegungen in das sanfte Licht eines Schalks zu rücken wusste, der seinesgleichen suchte. So war sie einem immer einen Gedanken und einen halben Satz voraus.

Die Literaturkritikerin Gunhild Kübler vereinte, was sie vor vielen ihres Fachs auszeichnete: Kompetenz paarte sich bei ihr mit Charme und Unerschrockenheit, nur besserwisserisch war sie nicht. Auch darum stritt man sich gerne mit ihr, selbst wenn man im Gespräch immer einen Schritt zu spät war. Denn ihr Temperament befeuerte auch das Gegenüber. Da sie eine gute Zuhörerin war, und das heisst: immer etwas ungeduldig, indem sie mit den Lippen bereits einen sanften Widerspruch erprobte, zwang sie einen noch während des Redens, die eigenen Gedanken zu schärfen. Am Ende glaubte man, durch eigene Kraft etwas klüger geworden zu sein.

Blicke in die Herzkammern

1944 geboren, studierte Gunhild Kübler Germanistik und Anglistik an den Universitäten Heidelberg, Berlin und Zürich, wo sie den grössten Teil ihres Lebens verbracht hat und wo sie am vergangenen Samstag gestorben ist. Ihr ganzes Leben war von der Leidenschaft für die Literatur geprägt. Viele Jahre schrieb sie als freie Kritikerin für die NZZ, später ging sie als Literaturredaktorin zur «Weltwoche», wo sie während einiger Zeit ein literarisches Supplement betreute.

Von 1990 bis 2006 gehörte sie zur Kritikerrunde des «Literaturclubs» beim Schweizer Fernsehen und prägte hier einen Diskussionsstil, der Kontroversen nicht scheute, vor allem aber mit Witz und kluger Schlagfertigkeit glänzte. Bis vor kurzem war sie überdies regelmässige Mitarbeiterin der Bücherbeilage der «NZZ am Sonntag».

Die schnelle Denkerin und Sprecherin war denn auch eine äusserst kenntnisreiche und elegante Schreiberin. Gunhild Kübler hatte den genauen Blick für das Innenleben literarischer Texte und ausserdem das Gehör, um jene Töne wahrzunehmen, die im Hintergrund die Sprachmusik eines Werks prägen. Sie las Bücher wie Musiker ihre Partituren, und sie schrieb darüber in einer Weise, dass man mit ihren Ohren zu hören und mit ihren Augen zu lesen glaubte. Man verstand mehr, wenn man ihre Kritiken las, da sie die Bücher nicht nacherzählte, aber in deren Herzkammern hineinschauen liess.

Eine übersetzerische Grosstat

Als sie Ende der neunziger Jahre ein Reclam-Bändchen mit Gedichten der amerikanischen Lyrikerin Emily Dickinson in die Hände bekam, hat das, wie Gunhild Kübler einmal sagte, ihr Leben verändert. Weil die Gedichte sie elektrisierten – und weil sie schlecht übersetzt waren. So wagte sie sich an das riesige Gebirge eines bis dahin erst in Teilen übersetzten poetischen Werks. Nahezu zwei Jahrzehnte lang vertiefte sie sich in die Verse dieses Solitärs unter den Dichterinnen. 2015 erschienen sämtliche überlieferten 1789 Gedichte. Zum ersten Mal lag damit das Gesamtwerk von Emily Dickinson auf Deutsch vor: Es war eine übersetzerische und mit Nachwort und Anmerkungen zugleich eine editorische Grosstat.

Gunhild Kübler prägte als hingebungsvolle Kritikerin das literarische Leben dieses Landes über viele Jahrzehnte. Ihr waches Auge entdeckte grosse Talente. Sie verstand wie nur wenige, die Literatur mit Sprachkraft und Klugheit zu vermitteln. Und sie war ein Ansporn auch für alle, die sich der Literaturkritik widmen wollten. Nicht erst jetzt, da sie fehlt, weiss man, was man an ihr hatte. Aber nun erst recht.