Kolumne

Erliegen Sie nicht dem Irrtum, die ganze Menschheit habe auf Sie gewartet

Warum Sie am besten niemanden auf einen Sockel stellen – am allerwenigsten sich selbst.

Rolf Dobelli
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(Bild: El Bocho)

(Bild: El Bocho)

Wir haben in der letzten Kolumne die Theorie der «grossen Männer» als Denkfehler entlarvt. Sie mögen einwenden: Aber einige «grosse Männer» gab es doch – manche haben die Geschicke ganzer Kontinente geprägt! Ein Beispiel dafür wäre Deng Xiaoping. Er führte in China 1978 die Marktwirtschaft ein und befreite dadurch mehrere hundert Millionen Menschen aus der Armut – das erfolgreichste Entwicklungsprojekt aller Zeiten. Ohne Deng Xiaoping wäre China heute keine Weltmacht.

Wirklich nicht? Die Analyse des britischen Autors Matt Ridley zeigt ein anderes Bild. Die Einführung der Marktwirtschaft war keine Absicht von Deng Xiaoping. Sie war eine Entwicklung von unten.

Ein Verstoss gab den Anstoss

In dem abgelegenen Dorf Xiaogang beschlossen 18 verzweifelte Bauern, das staatliche Land unter sich aufzuteilen. Jeder sollte für sich produzieren können. Nur mit diesem kriminellen Akt, glaubten sie, würden sie genug aus dem Land herausholen können, um ihre Familien zu ernähren.

Tatsächlich produzierten sie schon im ersten Jahr mehr als in den vergangenen fünf Jahren zusammen. Die üppige Ernte weckte die Aufmerksamkeit des lokalen Parteifunktionärs. Dieser schlug vor, das Experiment auf andere Farmen auszuweiten. Schliesslich landete das Papier in den Händen von Deng Xiaoping, der entschied, den Versuch weiterlaufen zu lassen. Ein weniger pragmatischer Parteichef als Deng «hätte vielleicht die Landreform verzögert, aber sie wäre sicher früher oder später gekommen», schreibt Ridley.

Mag sein, denken Sie vielleicht, aber Ausnahmen gibt es doch: Ohne Gutenberg keine Bücher. Ohne Edison keine Glühbirne. Ohne die Brüder Wright keine Ferienflüge.

Vielleicht würde unser Smartphone heute ohne Steve Jobs etwas weniger elegant aussehen, aber funktionieren würde es ähnlich.

Auch das stimmt nicht, auch diese vier sind reine Figuren ihrer Zeit. Wenn es Gutenberg nicht gelungen wäre, hätte ein anderer den Buchdruck entwickelt – oder die Technologie hätte früher oder später den Weg von China (wo man sie längst kannte) nach Europa gefunden. Genauso mit der Glühbirne: Nach der Entdeckung der Elektrizität war es nur noch eine Frage der Zeit, bis das erste künstliche Licht anging. Und es ging nicht einmal zuerst im Hause Edison an: 23 andere Tüftler brachten nachweislich vor ihm Drähte zum Leuchten. Ridley: «Trotz all seiner Brillanz war Thomas Edison komplett unnötig. Nehmen Sie die Tatsache, dass Elisha Gray und Alexander Graham Bell den Patentantrag für die Erfindung des Telefons am gleichen Tag einreichten. Angenommen, einer der beiden wäre auf dem Weg zum Patentamt von einem Pferd zu Tode getrampelt worden – die Welt wäre heute dieselbe.»

Entsprechend waren auch die Brüder Wright nur ein Team von weltweit vielen, die Segelflugzeuge mit einem Motoraufsatz kombinierten. Hätte es die Wrights nie gegeben, hiesse das nicht, dass Sie heute die Fähre nach Mallorca nehmen müssten. Jemand anders hätte die Motorfliegerei entwickelt. Dito mit fast allen Erfindungen und Entdeckungen. «Technologie findet ihre Erfinder», fasst Ridley zusammen, «nicht andersherum.»

Der Einzelne ist austauschbar

Selbst hochwissenschaftliche Durchbrüche sind personenunabhängig. Sobald Messinstrumente die nötige Präzision aufweisen, kommen die Entdeckungen früher oder später von selbst. Das ist der Fluch in der Wissenschaft: Der einzelne Forscher ist im Grunde irrelevant. Alles, was es zu entdecken gibt, wird von irgendjemandem irgendwann einmal entdeckt.

Das Gleiche gilt für Unternehmer und Wirtschaftskapitäne. Als die sogenannten Homecomputer in den achtziger Jahren auf den Markt drängten, war es zwingend notwendig, dass irgendjemand ein Betriebssystem dafür entwickeln würde. Zufällig war dieser Jemand Bill Gates. Vielleicht wäre jemand anderem nicht derselbe unternehmerische Erfolg beschieden gewesen, aber wir hätten heute ähnliche Softwarelösungen. Vielleicht würde unser Smartphone heute ohne Steve Jobs etwas weniger elegant aussehen, aber funktionieren würde es ähnlich.

Warum sich anmassen, die Welt zu verändern? Sparen Sie sich diese Enttäuschung.

In meinem Freundeskreis finden sich einige CEO. Manche führen Grosskonzerne mit 100 000 Mitarbeitern. Sie nehmen ihren Job ernst, arbeiten teilweise bis zur Erschöpfung und kassieren dafür ordentlich ab. Und doch sind sie im Grunde austauschbar. Schon wenige Jahre nach ihrem Ausscheiden erinnert sich niemand mehr an ihren Namen. Sicherlich hatten riesige Firmen wie General Electric, Siemens oder Volkswagen einst hervorragende CEO. Doch wer kennt heute noch ihre Namen? Sie sind nicht nur austauschbar, auch die herausragenden Ergebnisse ihrer Firmen hängen weniger von ihren Entscheidungen ab als von der zufälligen Entwicklung des gesamten Marktes.

Warren Buffett drückt es so aus: «Ein gutes Geschäftsergebnis ist viel stärker von dem Boot abhängig, in dem Sie sitzen, als von der Effizienz, mit der Sie rudern.» Noch krasser sieht es Matt Ridley: «Die meisten CEO sind Trittbrettfahrer, gut bezahlt, um auf der Welle zu surfen, die ihre Mitarbeiter in Bewegung gesetzt haben (. . .). Die Illusion, sie seien feudale Könige, wird von den Medien aufrechterhalten. Aber es ist eine Illusion.»

Aufs eigene Umfeld fokussieren

Mandela, Jobs, Gorbatschow oder Gandhi, Luther, die Erfinder und die grossen CEO waren Kinder ihrer Zeit, und nicht deren Eltern. Natürlich haben sie wesentliche Prozesse mit ihrer jeweils eigenen Taktik gesteuert, aber wenn es nicht sie gewesen wären, so hätten es andere Menschen ähnlich getan. Wir sollten also zurückhaltend sein, wenn es darum geht, «grosse Männer» oder «grosse Frauen» auf den Sockel zu heben – und bescheiden bleiben, wenn es um uns selbst geht.

So aussergewöhnlich Ihre Leistungen auch sein mögen, die Wahrheit ist: Ihr persönlicher Einfluss auf die Welt ist ameisenhaft. Ganz egal, wie genial Sie sind – als Unternehmer, als Forscherin, als CEO, als General oder Präsidentin –, im grossen Weltgefüge sind Sie bedeutungslos, unnötig und austauschbar. Der einzige Ort, wo Sie wirklich eine entscheidende Rolle spielen, ist Ihr eigenes Leben. Konzentrieren Sie sich darauf, auf Ihr eigenes Umfeld. Sie werden sehen: Ihr Leben in den Griff zu bekommen, ist ambitiös genug. Warum sich anmassen, die Welt zu verändern? Sparen Sie sich diese Enttäuschung.

Klar, vielleicht wirbelt Sie der Zufall von Zeit zu Zeit in eine Position grosser Verantwortung hinein. Dann spielen Sie die Ihnen zugewiesene Rolle mit Meisterschaft. Seien Sie der beste Unternehmer, die weiseste Politikerin, der fähigste CEO und die genialste Forscherin, die Sie sein können. Aber erliegen Sie nicht dem Irrtum, die ganze Menschheit habe auf Sie gewartet.

Ich bezweifle keinen Augenblick, dass meine Bücher wie Steine im Ozean des Weltgeschehens untergehen werden. Nach meinem Tod werden wohl meine Söhne noch eine Weile von mir sprechen. Hoffentlich auch meine Frau. Vielleicht sogar noch meine Enkelkinder. Dann ist Schluss, dann wird Rolf Dobelli vergessen sein – und genau so soll es auch sein. Sich nicht allzu wichtig zu nehmen, ist eine der wertvollsten Strategien für ein gutes Leben.