So aufregend hat Mozart lange nicht geklungen

Das Ensemble Resonanz mischt seit Jahren die Orchesterlandschaft auf. Jetzt wagt es sich mit dem Dirigenten Riccardo Minasi an ein Heiligtum der Wiener Klassik: die letzten drei Sinfonien von Mozart. Das Hör-Erlebnis kann einen glatt aus dem Sessel heben.

Marcus Stäbler
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Mit seinen letzten drei Sinfonien hat Wolfgang Amadeus Mozart ein Heiligtum der Wiener Klassik geschaffen. Mit dem Ensemble Resonanz wirken die Werke wie neu.

Mit seinen letzten drei Sinfonien hat Wolfgang Amadeus Mozart ein Heiligtum der Wiener Klassik geschaffen. Mit dem Ensemble Resonanz wirken die Werke wie neu.

Christian Hartmann / Reuters

Was für ein Auftakt! Welch eine Kraft. Kantig und perfekt getimt. Der erste Einsatz fegt einen förmlich aus dem Stuhl. So perkussiv wie hier, beim Ensemble Resonanz, hat man den Beginn der Es-Dur-Sinfonie KV 543 von Mozart vielleicht noch nie gehört. Die markanten Schläge der Pauke knallen härter als bei anderen Orchestern, mit seinen Akzenten und harschen Kontrasten entfacht der Einstieg eine packende Dramatik. Damit gibt Riccardo Minasi gleich in den ersten Takten seiner Einspielung die Richtung vor: Für ihn sind die letzten drei Sinfonien von Mozart – entstanden 1788, im Jahr zwischen «Don Giovanni» und «Così fan tutte» – ein Schauplatz instrumentaler Dramen.

Mit dem Start der ersten CD reissen Minasi und das Ensemble Resonanz einen Vorhang auf. Und die Erwartungen, die der Anfang weckt, werden nicht enttäuscht. Der italienische Gastdirigent nutzt die ohnehin hohe Alarmbereitschaft des Kammerorchesters, das meist ohne musikalischen Leiter musiziert, für eine Interpretation auf einem bisher kaum erreichten Energie-Level.

Zum Heulen schön

Wie schon in den gemeinsamen Aufnahmen mit Werken von Carl Philipp Emanuel Bach scheinen die Mitglieder des Ensemble Resonanz auch bei Mozart immer eine Zündschnurbreite über der Stuhlkante zu sitzen. Das gilt etwa für das Finale der Es-Dur-Sinfonie mit seinen schrammelnden Sechzehntelfiguren. Sie sind hier so vehement in die Saiten geschrubbt, dass der Klang eine körperliche Präsenz bekommt, einen geräuschhaften, geradezu «schmutzigen» Anteil, der ein ohnehin längst überholtes Klischeebild des Komponisten endgültig zerstört: Minasi und seine Musiker zeigen Mozart nicht als lieblichen Götterboten, sondern als Mensch aus Fleisch und (Herz-)Blut.

Dafür nimmt sich Riccardo Minasi erstaunlich viele Freiheiten, gerade in Bezug auf das Tempo. Der Beginn der berühmten g-Moll-Sinfonie ist auffallend rasch und wie von einer inneren Unruhe vorangehetzt; beim Einsatz des zweiten Themas tritt Minasi dagegen mächtig auf die Bremse, um den Stimmungswandel zu unterstreichen. Das klingt zunächst ungewohnt, manche werden einwenden: ungehörig und manieriert. Aber wer wollte sich anmassen, bei dieser Musik von «richtig» oder «falsch» zu sprechen?

Dass Minasi genau weiss, was er tut, steht ausser Frage. Als langjähriger Geiger und Konzertmeister von Originalklang-Ensembles, etwa Il Giardino Armonico, ist der 41-jährige Italiener bestens mit den Stilfragen und Spieltechniken der historischen Aufführungspraxis vertraut. Das Ensemble Resonanz mischt moderne Streicher mit Naturhörnern und -trompeten und erzielt einen vibratolos schlanken, aber auch sehr farbigen und bisweilen rauen Sound.

Alle Nuancen in Tempo, Farbe und Artikulation stehen im Dienst der Gesten und Szenen, zu denen Minasi die Musik verdichtet. Sei es im luftigen Thema der Geigen in der Es-Dur-Sinfonie, das nach dem Gewitter des Anfangs wie eine Frühlingsbrise herbeiweht, oder im Menuett aus der «Jupiter»-Sinfonie. Dort rumpeln und stampfen die Betonungen mitunter so schwerfüssig, als würde der höfische Tanz von einer leicht alkoholisierten Dorfkapelle exerziert.

Ja, auch das Derbe, das Lärmende gehört zum Reichtum von Mozarts Musik – ebenso wie der Blick in die Abgründe der menschlichen Seele. Im wunderbaren Andante aus der g-Moll-Sinfonie dringt der Komponist in Sphären des Ausdrucks vor, wie sie in den Orchesterwerken der Wiener Klassik bis dahin nicht erkundet worden waren. Minasi nimmt sich viel Zeit, diese emotionale Weite mit dem Ensemble Resonanz auszukosten. Wenn er die zart tropfenden Motive der Holzbläser auf ein zerbrechliches Pianissimo herunterdimmt und auf Streichelklänge der Streicher bettet, scheint sich eine neue Dimension zu öffnen, eine Welt von tiefer Melancholie. Das ist tatsächlich zum Heulen schön. Verweile doch, wünscht man in diesem Augenblick, der auf eine Weise an existenzielle Erfahrungen des Daseins rührt, wie es vielleicht nur Musik vermag.

Aufrüttelungspotenzial

Aus Anlass des Jubiläumsjahres wird heuer viel und zu Recht über den revolutionären Geist Beethovens gesprochen, der alte Grenzen gesprengt und neue definiert hat. Dabei sollten wir freilich das Aufrüttelungspotenzial von Mozarts Musik nicht unterschätzen: Dies ist eine der Aussagen, welche die Aufnahme mit grossem Nachdruck vermittelt.

Basierend auf einer genauen Kenntnis der Partituren, spürt Riccardo Minasi bisher übersehene Bruchstellen auf, um die Hörer mit seinen Entdeckungen zu überraschen, zu fesseln – und manchmal auch kurz zu schockieren. Wenn etwa die mehrfache Wiederholung einer Schlussfloskel im Finale der g-Moll-Sinfonie plötzlich etwas so Zorniges, barsch Herausfahrendes bekommt, dass man fast zusammenzuckt. Aber auch wenn Mozart die sonnige Melodie im Andante der Es-Dur-Sinfonie auf einmal dunkel einfärbt – und das Ensemble Resonanz uns diesen Moment als kleine Sensation ins Ohr flüstert.

Mozarts Gabe, kontrapunktische Finesse mit musikantischem Witz zu verbinden, tritt vielleicht nirgends so deutlich zutage wie im Finale der «Jupiter»-Sinfonie, wo er fünf Themenvarianten vorstellt und kunstvoll überlagert. Mit schwindelerregender Virtuosität verzahnt der Komponist verschiedene Ebenen zu einer zeitlos modernen Musik. Gerade in dieser gewichtigen Fuge scheint die Welt der Wiener Klassik aus den Fugen zu geraten – in einer Zeit, als der zweite der sogenannten Türken-Kriege und das Vorbeben der Französischen Revolution viele Menschen zutiefst verunsicherten.

Dass sie hier dem leider wieder sehr aktuellen Gefühl, aus den Angeln gehoben zu werden und gelegentlich den Boden unter den Füssen zu verlieren, so konsequent und mit überbordender Risikofreude nachgeht, gehört zu den vielen Vorzügen einer Aufnahme, die ein ganz neues Licht auf die Sinfonien wirft und neue Massstäbe in Sachen Mozart setzt.

Wolfgang Amadeus Mozart: Sinfonien Nr. 39, 40 und 41. Ensemble Resonanz, Riccardo Minasi (Leitung). Harmonia Mundi HMM 902629.30 (2 CD). Weitere Konzerte und Projekte: https://www.ensembleresonanz.com/resonanz-digital/

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