Verroht und verwildert

Das Gewissen der Türkei verrohe, klagt die in einem Istanbuler Gefängnis sitzende Autorin Asli Erdogan. Deutsche Sprachverwilderung beobachtet Bodo Kirchhoff. Das trifft den Nerv von Marcel Beyer.

Joachim Güntner
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An der feierlichen Eröffnung der Buchmesse am Dienstagabend waren die Zustände in der Türkei wiederholt Thema. (Bild: Frank Rumpenhorst / EPA)

An der feierlichen Eröffnung der Buchmesse am Dienstagabend waren die Zustände in der Türkei wiederholt Thema. (Bild: Frank Rumpenhorst / EPA)

Es gehört zu den moralischen Pflichten der Buchbranche, zu ihrem Selbstverständnis und ihrer Existenzgrundlage, dass sie für die Freiheit des Wortes eintritt. Aber Verleger und Buchhändler sind keine Politiker, ihr Einfluss ist gering, und die Kampagnen ihres Dachverbandes bleiben meist im Plakativen stecken. Besorgt über die Lage in der Türkei, haben der Börsenverein des Deutschen Buchhandels, das PEN-Zentrum Deutschland und die Vereinigung Reporter ohne Grenzen eine Petition lanciert, worin Kanzlerin Merkel und EU-Kommissionspräsident Juncker aufgefordert werden, die Meinungs-, Informations- und Pressefreiheit gegenüber der türkischen Regierung kompromissloser zu verteidigen.

Hang zu wüsten Reden

Unter www.freewordsturkey.de kann jeder diese Petition unterzeichnen. Seit dem Putschversuch im Juli hat die türkische Staatsmacht mindestens 140 Medienhäuser geschlossen, darunter dreissig Buchverlage, sogar Kinderbuchverlage. Mehr als 130 Autoren und Journalisten sitzen zurzeit im Gefängnis. Das ist, in trockenen Zahlen, eine erschreckende Bilanz. An der feierlichen Eröffnung der Buchmesse am Dienstagabend waren die Zustände in der Türkei wiederholt Thema. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz verlangte die Freilassung der Inhaftierten. Der Vorsteher des Börsenvereins trug eine Grussadresse der Schriftstellerin und Kolumnistin Asli Erdogan vor, die in einem Knast in Istanbul sitzt und uns zuruft: «Hier, in meinem Land, lässt man mit einer unvorstellbaren Rohheit das Gewissen verkommen.»

Rohheit erschüttert. Gerade der Schriftsteller kann ihr nicht ausweichen, weil sie sein Lebenselixier, den Umgang mit Sprache, betrifft. Wo roh gehandelt wird, ist vorher roh gedacht und geredet worden. Eine «grauenhafte Sprachverwilderung» beklagte, nicht zum ersten Mal, Bodo Kirchhoff, als er an der Eröffnung des Messe-Lesefestes «Open Books» im Frankfurter Schauspielhaus auf dem Blauen Sofa sass. Der frisch gekürte Träger des Deutschen Buchpreises traf damit den Nerv des ebenfalls eingeladenen Marcel Beyer, der in zwei Wochen den Büchnerpreis erhält.

Beide Autoren treibt um, dass sich «im öffentlichen und halböffentlichen Raum das Reden sehr verändert hat» (Beyer). Deutsche Rechtspopulisten gefallen sich in wüsten Pöbeleien, Hass- und Mordphantasien gegen das politische Establishment. Am 3. Oktober, dem Nationalfeiertag, war das zugespitzt in Dresden zu erleben. Der Schriftsteller müsse der Verwahrlosung wehren, das sei seine Aufgabe, findet Kirchhoff. Aber wie? Durch Distanz? Für Marcel Beyer ist das keineswegs ausgemacht. Er, der nach eigenem Bekunden auch Autoren liest, «die man in Archiven nicht kopieren darf», plädiert eher dafür, «sich impfen zu lassen» mit dem, was man verabscheut.

Kirchhoff und Beyer debattierten nicht miteinander, sie wurden jeder für sich auf dem Blauen Sofa von Literaturkritikern ins Gespräch gezogen. Und da hätte man sich doch gewünscht, die Fragen nach der «Sprachverwilderung» wären bohrender ausgefallen. Welche Beispiele stehen den beiden Schriftstellern vor Augen?

Simple Grenzziehung

Es muss um mehr gehen als nur um die Ausbrüche der lautesten Schreihälse aus der Pegida-Ecke. Marcel Beyer verwies auf ein «offensives Nicht-Denken-Wollen» unter Intellektuellen. Wen und was genau meinte er? Präzision und Konkretion sind nötig, sonst steckt man zu rasch im Lagerdenken. Beyer ist ein skrupulöser Literat, kein Politiker wie Martin Schulz. Der beschwor an der Messe-Eröffnung einen «Aufstand der Anständigen» gegen Europas Populisten. So einfach geht's natürlich auch.