Der Mann, der Lava spie – ein neues Buch das Isländers Hallgrimur Helgason

In der Geschichte des 22-jährigen Isländers Jung, der in München «seekrank» wurde, erzählt der Isländer Hallgrimur Helgason literarisch verbrämt seine eigene Biografie. Eine wilde Sache.

Aldo Keel
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So wild und schräg, wie man sich einen Isländer vorstellt – der Schriftsteller und Maler Hallgrimur Helgason. (Bild: Kristinn Ingvarsson)

So wild und schräg, wie man sich einen Isländer vorstellt – der Schriftsteller und Maler Hallgrimur Helgason. (Bild: Kristinn Ingvarsson)

Ein Künstler wird geboren: Hallgrimur Helgason, Maler und Schriftsteller zugleich, erzählt in seinem wilden autobiografischen Roman «Seekrank in München» neun Monate aus dem Leben des 22-jährigen Isländers Jung, der nach München reist, um an der Kunstakademie zu studieren. Ohne seine Münchner Erfahrung wäre er nicht der Künstler, der er heute ist, sagte Helgason – inzwischen ein führender isländischer Romancier – der Zeitung «Frettatiminn». Der Münchner Winter sei der schwerste seines Lebens gewesen.

Im Stil eines Rotzlöffels

«Seekrank in München» ist ein Bildungsroman à l'islandaise, verfasst im burschikosen Stil eines Rotzlöffels. Niemand würde im Autor einen glücklichen Grossvater vermuten. Er nimmt uns mit ins Jahr 1981, bietet Rückblenden in die Teenagerzeit, verzichtet aber darauf, eine besserwisserische «vision par derrière» einzubringen, so dass Unsicherheit und Sinnsuche des werdenden Künstlers deutlich hervortreten. Helgason hatte 1984 seine erste Einzelausstellung, er lebte in New York und Paris und trat auch als Komiker auf. Auf literarischem Parkett debütierte er 1990 mit einem Roman, der das Genre der Künstlerbiografie ironisiert und die Geschichte einer ebenso ehrgeizigen wie talentlosen Opernsängerin erzählt . . .

1981 gab es in Reykjavik keine Pubs, zwei Restaurants und eine Disco, die zwei Tage wöchentlich offenhielt, Bier war verboten, und die einzige Radiostation spielte pausenlos Fugen und Sonaten – so lesen wir es im Roman, und ungefähr so war es wirklich, wir können es bezeugen. München signalisiert zunächst den Traum von Freiheit. Aber der Kulturschock sitzt tief. Die Stadt steht in Jungs Augen für Biertrinken, Oper und Philosophie – kulturelle Äusserungen, die den Insulaner allesamt erschrecken. Er leidet unter Heimweh oder, wie er es ausdrückt, «Seeweh» – darauf spielt der Titel des Romans an. Dennoch findet der Professor die Bilder des leidenden Studenten «zu witzig». Der «deutsche Ernst» macht dem Isländer zu schaffen.

Aber auch der Isländerverein, dessen Präsident in einer Vitrine eine Brezel aufbewahrt, in die einst Halldor Laxness biss, ödet Jung an. Schüchtern und mit grimmigem Blick stolpert er durch die Strassen, «verschwitzt und verpickelt, bei Sonnenschein in einem Wintermantel, mit einem pochenden Bierglas in Höhe des Herzens». Dieses Glas dient ihm als «Kotzbecher» und «Notaufnahmebecken».

Gefährliche isländische Lava

Sein Leid drückt sich darin aus, dass er sich ständig übergeben muss – er speit brandgefährliche isländische Lava. An Heiligabend erbricht er sich am Dante-Denkmal in Florenz, um danach in einer schummrigen Herberge von einem Jugoslawen vergewaltigt zu werden. Er sei damals tatsächlich vergewaltigt worden, offenbarte Helgason im oben zitierten Interview. Die Schilderung dieser finsteren Initiation in die Kunstwelt provozierte den greisen Doyen der isländischen Literatur Gudbergur Bergsson, der im Roman unter vollem Namen auftritt. In einer üblen Zeitungsglosse höhnte er: «Welche Schwuchtel hat einen derart schlechten Geschmack?»

«Seekrank in München» ist ein Roman über die «teuflische Magie» der Kunst. Der Konzeptkünstler Marcel Duchamp ist Jungs Idol. Wochen verbringt der Isländer in einem DDR-Knast, wo er den Verhörenden zu erklären versucht, dass es sich beim Inhalt des Kotzbechers nicht um Dynamit, sondern um ein Kunstwerk handelt. Erfahrungsgesättigt kehrt er nach dem deutschen Winter als Künstler nach Island zurück. Sein erster Text ist ein Nachruf auf seinen Grossvater. Dabei kommen ihm Einfälle zu weiteren Nachrufen – noch fehlen die zu besingenden Toten. Der Kotzbecher jedoch ist jetzt überflüssig, Jung wirft ihn ins offene Grab.

Hallgrimur Helgason: Seekrank in München. Aus dem Isländischen von Karl-Ludwig Wetzig. Tropen, Stuttgart 2015. 416 S., Fr. 26.90.