Wie nah dürfen Pressefotografen den Hamas-Terroristen sein? Beim Massaker vom 7. Oktober waren einige von ihnen sehr nah

Im israelischen Kibbuz Kfar Azza schickte die Hamas ganze Familien in den Feuertod und ermordete Babys auf brutale Weise. Wie eine Rekonstruktion der NZZ ergibt, konnte sich der für AP arbeitende Freelance-Fotograf Hassan Eslaiah in den Stunden des Grauens auf dem Gelände frei bewegen.

Marcel Gyr, Roman Sigrist 6 min
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Auf der israelischen Seite des Grenzzauns zu Gaza zeigt der Fotograf Hassan Eslaiah jubelnde Hamas-Leute vor und auf einem brennenden Panzer.

Auf der israelischen Seite des Grenzzauns zu Gaza zeigt der Fotograf Hassan Eslaiah jubelnde Hamas-Leute vor und auf einem brennenden Panzer.

Hassan Eslaiah via AP

Am Morgen des 7. Oktober war der in Gaza lebende Hassan Eslaiah schon früh auf den Beinen. Sein erstes Bild, das die Agentur AP vom freischaffenden Fotografen rund um die Welt verbreitete, trägt den Zeitstempel 7 Uhr 3o (Ortszeit). Es zeigt einen brennenden Panzer der israelischen Armee, der umringt wird von Terroristen der Hamas, einige winken triumphierend vom Geschützturm.

Gemäss Bildlegende wurde das Foto am Grenzzaun zu Israel gemacht, östlich von Khan Yunis. Was mit den israelischen Soldaten geschehen ist, die auf dem Bild nicht zu sehen sind, berichtet Hassan Eslaiah in einem kurzen Video, das er auf seinem X-Account gepostet hat (dort ist das Video inzwischen gelöscht). Übersetzt aus dem Arabischen, sagt er im Video: «Jeder, der in diesem Panzer war, wurde vor kurzem von der Kassam-Brigade gekidnappt, wie wir mit eigenen Augen gesehen haben.»

Bei der Kassam-Brigade handelt es sich um den militärischen Arm der Hamas. Hassan Eslaiah war also Augenzeuge einer der ersten Kampfhandlungen auf israelischem Boden, nachdem erste Einheiten der Hamas den Grenzzaun durchbrochen hatten.

Die israelische Plattform «Honest Reporting» hat nun die Frage aufgeworfen, ob es Zufall gewesen sei, dass sich Hassan Eslaiah zu einem so frühen Zeitpunkt am Tatort eingefunden habe – oder ob er nicht eher von Anfang an Teil des Hamas-Stosstrupps gewesen sei. Eine abschliessende Antwort liefert «Honest Reporting» nicht. Nach eigenen Angaben durchforstet die Plattform, die sich über Spenden finanziert, die internationalen Medien seit mehr als zwanzig Jahren nach Artikeln, in denen sie eine Voreingenommenheit gegenüber Israel erkennt.

Filmen im Auftrag des Terrors

Dass sich nicht nur offizielle Streitkräfte, etwa in Form von «embedded journalists», sondern auch Terrorgruppierungen der Macht der Bilder bewusst sind und diese gezielt einsetzen, ist kein neues Phänomen. Als im September 1970 die palästinensische Volksbefreiungsfront PFLP drei Flugzeuge nach Jordanien entführte – darunter eines der Swissair –, beorderte sie zwei Kameraleute in die Wüste. Diese hielten die Sprengung der Flugzeuge fest, welche die Geiseln erst kurz zuvor hatten verlassen dürfen.

Etwas mehr als dreissig Jahre später war ein solcher Auftrag zum fotografischen Festhalten einer Schreckenstat nicht mehr nötig. Der Flug zweier Passagierflugzeuge in die Twin Towers in New York und der folgende Einsturz der zwei Türme wurden am 11. September 2001 wohl mit zahllosen privaten Kameras festgehalten.

Beim Pogrom der Hamas vom vergangenen 7. Oktober filmten die Schlächter ihre Grausamkeiten gleich selber, mit Handys und mit Go-Pro-Kameras, die sie auf ihren Köpfen trugen. Die so entstandenen Videosequenzen verbreiteten sie noch am selben Tag in Dutzenden der sozialen Netzwerke. Oder die Terroristen schickten die Schreckensbilder den Angehörigen von Opfern und Geiseln, um sie zusätzlich zu demütigen.

Derart brutal sind die Bilder von Hassan Eslaiah nicht, die von der Fotoagentur AP übernommen wurden. Im Bestand der Schweizer Partneragentur Keystone-SDA finden sich weiterhin 17 Aufnahmen des freien Fotografen von der Terrorattacke. Kurz nach der Szene mit dem ausgebrannten Panzer am Grenzzaun, um 7 Uhr 43, machte Hassan Eslaiah das erste Foto im Kibbuz Kfar Azza. Dieser befindet sich rund drei Kilometer von der Grenze zu Gaza entfernt und sollte zu einem Ort des Grauens werden.

Das erste AP-Foto vom Gelände des Kibbuz zeigt eine Leiche in einer Blutlache. Etwas später, kurz vor 8 Uhr, fotografierte Hassan Eslaiah in Kfar Azza brennende Häuser aus verschiedenen Perspektiven. All diese Aufnahmen stammen aus der ersten Phase des Massakers, in der die Bewohner des Kibbuz den mordenden und brandschatzenden Terroristen wehrlos gegenüberstanden.

Um 7 Uhr 43 fotografiert Hassan Eslaiah auf dem Gelände des Kibbuz Kfar Azza eine Leiche.

Um 7 Uhr 43 fotografiert Hassan Eslaiah auf dem Gelände des Kibbuz Kfar Azza eine Leiche.

Hassan Eslaiah via AP
Das Bild mit dem brennenden Haus trägt den Zeitstempel 7 Uhr 55.

Das Bild mit dem brennenden Haus trägt den Zeitstempel 7 Uhr 55.

Hassan Eslaiah via AP
Während auf dem Gelände Dutzende von Bewohnern getötet werden, kann sich Hassan Eslaiah offenbar frei bewegen. Dieses Bild stammt von 8 Uhr 04.

Während auf dem Gelände Dutzende von Bewohnern getötet werden, kann sich Hassan Eslaiah offenbar frei bewegen. Dieses Bild stammt von 8 Uhr 04.

Hassan Eslaiah via AP

In Kfar Azza wurden in dieser Zeit ganze Familien bei lebendigem Leib verbrannt, Babys auf brutale Weise getötet. Die vorläufige Opferbilanz: 52 Tote und 20 Vermisste. Die israelische Armee brauchte zwei Tage, um die vollständige Kontrolle über den Kibbuz zurückzugewinnen.

Doch Hassan Eslaiah konnte sich zu Beginn des Massakers, am frühen Morgen des 7. Oktober, auf dem Gelände offenbar frei bewegen, wie die Chronologie seiner Aufnahmen zeigt. Sein letztes Bild aus dem Umfeld des Kibbuz, das AP verbreitete, trägt den Zeitstempel 8 Uhr 23. Daraufhin kehrte er nach Khan Yunis in Gaza zurück, wie weitere Bilder von diesem Tag dokumentieren.

AP trennt sich von Hassan Eslaiah

In einer schriftlichen Stellungnahme hielt die Fotoagentur AP am Donnerstag fest, sämtliche Bilder, die von freischaffenden Fotografen am 7. Oktober angeboten worden seien, seien mindestens eine Stunde nach Beginn der Hamas-Attacke aufgenommen worden.

Die AP tritt damit der Vermutung entgegen, die Fotografen seien von der Hamas vorab über das geplante Massaker informiert und an die Grenze geschickt worden. Weiter schreibt AP, auf den Freelancer habe man zurückgegriffen, weil sich zum Zeitpunkt der Attacke kein festangestellter AP-Fotograf am Grenzzaun zu Israel befunden habe.

Diese Darstellung entlastet zumindest die Bildagentur vom Verdacht, bereits im Vorfeld über den bewaffneten Angriff der Hamas auf die israelische Zivilbevölkerung informiert gewesen zu sein.

Ob auch Hassan Eslaiah nichts davon gewusst hat, bleibt allerdings offen. Die AP hält in ihrer schriftlichen Stellungnahme einzig fest, sie arbeite nicht mehr mit ihm zusammen. Die Nachfrage der NZZ, wieso es zu dieser Trennung gekommen sei, wollte ein Vizedirektor der Bildagentur nicht beantworten.

Bei der Bildagentur AP sind die Bilder von Hassan Eslaiah weiterhin abrufbar, allerdings wurde sein Name aus der Bildunterschrift gelöscht. Laut Auskunft von AP erfolgte dies bereits vor einigen Wochen. Bei der Schweizer Partneragentur Keystone-SDA hingegen sind die Bilder weiterhin mit «Hassan Eslaiah / AP» gezeichnet.

Dass sich AP von ihrem freien Mitarbeiter getrennt hat, ist möglicherweise auf ein Bild zurückzuführen, das Hassan Eslaiah zusammen mit Yahya Sinwar zeigt. Der Hamas-Chef von Gaza gilt als einer der Drahtzieher des Massakers vom 7. Oktober und ist eine der primären Zielpersonen der israelischen Armee bei ihrer Bodenoffensive. Yahya Sinwar wurde von Israel einst im Rahmen eines Gefangenenaustauschs freigelassen. Auf dem undatierten Bild scheinen sich der Hamas-Chef und der freischaffende Fotograf sehr nah zu sein: Eslaiah lässt sich von Sinwar auf die Wange küssen.

Mit denselben Vorwürfen wie AP sieht sich Reuters, eine ebenfalls renommierte Bildagentur, konfrontiert. Reuters hat Bilder von zwei freischaffenden Fotografen aus Gaza in ihrem Angebot, die sogar noch etwas früher an der durchbrochenen Grenze zu Israel waren. Ein erstes Bild trägt den Zeitstempel 7 Uhr 26.

Das erste Reuters-Bild von 7 Uhr 26 zeigt, wie mit einem Bulldozer der Grenzzaun zu Israel durchbrochen wird.

Das erste Reuters-Bild von 7 Uhr 26 zeigt, wie mit einem Bulldozer der Grenzzaun zu Israel durchbrochen wird.

Mohammed Fayq Abu Mostafa / Reuters
Ein weiteres Bild zeigt, wie rund eine Stunde später Männer durch den aufgebrochenen Grenzzaun nach Israel stürmen.

Ein weiteres Bild zeigt, wie rund eine Stunde später Männer durch den aufgebrochenen Grenzzaun nach Israel stürmen.

Yasser Qudih / Reuters

In einer Stellungnahme dementiert Reuters kategorisch, im Vorfeld von der Attacke gewusst oder Journalisten in die Hamas eingebettet zu haben. Im Weiteren hält sie fest, die Bilder der freischaffenden Fotografen aus Gaza, mit denen sie zum ersten Mal zusammengearbeitet habe, seien mindestens 45 Minuten nach der ersten Meldung zum Hamas-Angriff gemacht worden. Eigene Reuters-Fotografen hätten sich nicht am Tatort befunden.

Mit Hassan Eslaiah konnte die NZZ keinen Kontakt aufnehmen. Inzwischen sind er und andere Fotografen im Visier der israelischen Regierung. Benny Gantz, Mitglied des Kriegskabinetts, schrieb auf X, Journalisten müssten wie Terroristen behandelt werden, falls belegt werden könne, dass sie vom Massaker gewusst hätten. Auch Ministerpräsident Benjamin Netanyahu äusserte sich zu den Enthüllungen. Für ihn stehe fest, dass Journalisten Komplizen von Verbrechen gegen die Menschlichkeit gewesen seien.

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