In der Freiheit liegt das Wesen des Menschen – aber auf dem schwarzen Erdteil ist alles anders: Wie Hegel Geschichte verstand und warum Afrika seiner Ansicht nach nicht zur Weltgeschichte gehört

In der Geschichte erfüllt sich die Entwicklung des Weltgeistes. Doch der Geist erfasst nicht die ganze Welt: Was Hegels Bemerkungen zu Afrika über das Denken des Philosophen verraten, der vor 250 Jahren geboren ist.

Albrecht Koschorke
Drucken
«In die schwarze Farbe der Nacht gehüllt»: Afrika war Teil der Welt, auch für Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831). Aber Teil der Geschichte – das konnte es nach seiner Konzeption von historischer Entwicklung nicht sein. Ein Schafzüchter mit seiner Hausangestellten in Namibia um 1940.

«In die schwarze Farbe der Nacht gehüllt»: Afrika war Teil der Welt, auch für Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831). Aber Teil der Geschichte – das konnte es nach seiner Konzeption von historischer Entwicklung nicht sein. Ein Schafzüchter mit seiner Hausangestellten in Namibia um 1940.

Scherl / SZ Photo / Keystone

Hegels späte Vorlesungen waren Hauptstadtereignisse. 1818 durch den damaligen preussi­schen Kultusminister Altenstein nach Berlin berufen, hatte sich der in Württemberg gebürtige Philosoph schon in seiner Antrittsvorlesung dem Projekt einer geistigen Erneuerung Preussens nach den Wirren der Napoleonischen Kriege verschrieben. Die unter den politischen Re­for­mern kursierende Idee einer Wiedergeburt des Staatswesens unter humanistischen Vorzeichen unterlegte er mit einem breiten ge­schichts­philosophischen Fundament. Weltgeschichte heisst für Hegel: Entwicklungsgang des Welt­geistes, dem er in Anlehnung an die alte Lehre von den Lebensaltern der Menschheit eine Art Biografie mit wechselnden Schauplätzen zuschreibt.

Diese Heldensaga überspannt einen Bogen von Osten nach Westen: Der Weltgeist nimmt seinen Ausgang in China und Indien, durchwandert den Orient, verkörpert sich in seiner schönsten Jugendblüte im antiken Griechenland, über­schrei­tet in der Zivilisation des Römi­schen Reiches die Schwelle zur Mannbarkeit und erreicht schliesslich das moderne, protestan­tische Europa, in dem sich seine Reife vollendet.

Deutsch­land und Preussen, die sich eben erst von ihrem politischen Zusammenbruch unter dem Ansturm der Napo­leo­ni­schen Truppen zu erholen beginnen, ist es aufgegeben, ihm eine Heimstatt zu bieten. Denn die Philosophie, ver­kündet Hegel anlässlich seiner Berufung an die neu gegrün­de­te Berliner Universität, habe sich «zu den Deutschen geflüchtet und lebt allein noch in ihnen fort». Und er fährt mit priesterlicher Feierlichkeit fort: «Uns ist die Bewahrung dieses heiligen Lichtes anvertraut, und es ist unser Beruf, es zu pflegen und zu nähren und dafür zu sorgen, dass das Höchste, was der Mensch besitzen kann, das Selbst­bewusstsein seines Wesens, nicht erlösche und untergehe.»

Der Geist weht aus dem Osten

Man durfte sich als Hegels Hörer in Berlin im Zentrum des Ge­schehens fühlen, zumal an der Berliner Universität als neuer Wahlheimat des Geistes, und besonders in der philosophischen Fakultät, wo dieser Geist zum «Selbstbewusstsein seines Wesens» findet. So erklärt sich, dass nicht nur die Studenten sich um Hegel scharten und eifrig mitschrieben, was er lehrte, sondern dass sich auch hochrangige Amtsträger und Militärs im Hörsaal sehen liessen.

Und dies trotz dem be­rüchtigten Vortragsstil, über den eine beredte Klage überliefert ist: «Abgespannt, grämlich sass er mit niedergebücktem Kopf in sich zusammengefallen da und blätterte und suchte immer­fort sprechend in den langen Folioheften vorwärts und rückwärts, unten und oben; das stete Räuspern und Husten störte allen Fluss der Rede in schwäbisch breitem Dia­lekt.» Es ist eine schöne Ironie der Geschichte, dass den Repräsentanten des preussischen Staates dessen welt­historische Bestimmung in einer ihnen fremden mundartlichen Färbung dargelegt wurde.

Hegels Weltgeschichte trägt sich, mit einer klaren Entwicklungstendenz Richtung Westen, aus­schliesslich im eurasischen Raum zu. «Europa ist schlechthin das Ende der Weltgeschichte, Asien der Anfang», lautet ein vielzitierter Satz. Für die übrigen drei Kontinente hat sein System keine Verwendung. Australien, erst spät entdeckt und von Europäern besiedelt, findet keine Erwähnung.

Keine Religion, nur Zauberei

Amerika wird zwar von Hegel als «Land der Zukunft» gepriesen, passt deshalb aber nicht recht in Hegels auf die Vollendung in der Gegenwart abzielen­des System. Auch den dortigen Kolonialismus streift er nur en passant: Die durch Unterdrückung und eingeschleppte Infekte dezimierten amerikanischen Ureinwohner, heisst es an einer bezeichnen­den Stelle, seien an dem «Hauch der europäischen Tätigkeit» zugrunde gegangen; mehr war über ihr geschichtsphilosophisches Los nicht zu sagen.

Und Afrika? Der Kontinent im Süden Europas kommt bei Hegel nur am Rande vor, am ausführ­lichsten in den während der 1820er Jahre mehrfach gehaltenen «Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte». Die wenigen diesem Erdteil und seinen Bewohnern gewidmeten Darlegungen gehören jedoch streng genommen noch gar nicht zur Geschichtsphilosophie.

Den «Negern», wie Hegel sie nach der damals üblichen Sprachpraxis nennt, fehlen laut ihm nämlich alle Eigen­schaften, die sie dazu qualifizieren würden, Subjekte der Geschichts­schreibung zu sein: Sie verzeichnen keinen Fortschritt, verfügen über keine Schrift, keine Verfassung, keinen Staat. Auch auf die Kulturstufe der Religion sind sie nicht gelangt, sondern im Glauben an blosse Zauberei befangen.

Nichts, was an das Menschliche anklingt

Zauberei ist aber noch Menschenwerk und trägt «keine Vorstellung von einem Gott, von einem sittlichen Glauben» in sich. Besonders stört sich Hegel an einer afrikanischen Eigenart, die auch nach ihm noch viele Religions­forscher irritierte: dass die Afrikaner ein instrumentelles Verhältnis zu ihren Göttern haben, sie also kurzerhand abschaffen, wenn sie sich nicht bewähren. Überhaupt stellt der «Neger» für Hegel «den natür­lichen Menschen in seiner ganzen Wildheit und Unbändigkeit dar; von aller Ehrfurcht und Sitt­lichkeit, von dem, was Gefühl heisst, muss man abstra­hie­ren, wenn man ihn richtig auf­fas­sen will; es ist nichts an das Menschliche An­klingende in diesem Charakter zu finden».

Auffällig an derartigen Bemerkungen, mit denen Hegel den Ausschluss Afrikas aus der Welt­geschichte untermauert, ist der Wechsel des Stilregisters. Sobald Hegel auf die Afrikaner zu sprechen kommt, erteilt er sich eine Lizenz zur Kolportage. Man kann sich gut vorstellen, wie sich sein Auditorium, von der sauren Mühe des Gedankens etwa der «Phäno­menologie des Geistes» oder der «Logik» entlastet, beim Zuhören an einem Wechselbad aus Frösteln und Schmun­zeln ergötzt.

Wo vom «Weiberstaat» der Afrikaner die Rede ist, dessen Königinnen ihre eigenen Söhne in einem Mörser zerstampfen, gesellt sich zum kolonialen auch noch ein gruseliges Geschlech­ter­klischee. Dabei versagt sich der bekennende Klassizist Hegel jede Faszination für das Exotische, wie sie sonst mit dem kolonialen Diskurs durchaus vereinbar war.

Befangen im natürlichen Geist

Hegels Fremdzeichnung der Afrikaner ist total, und zwar auf zwei ganz unter­schied­lichen Niveaus: auf der Ebene eines kolonialen Schauerromans, von dem er Elemente in seine Vorlesung übernimmt, und auf der Ebene seiner geschichts­philosophi­schen Systematik, die auf eine im Gang des Weltgeistes zu sich selbst kommende Einheit geeicht ist, in der Afrika nichts zu suchen hat. Die Welt der «Neger» ist der Naturzustand. Sie sind unbändig und im­pul­siv; ihre «sinnliche Roheit kann nur durch despoti­sche Gewalt gebändigt werden».

Ent­sprechend unwirsch wendet sich Hegel von diesem Gegenstand ab: «Wir verlassen hiermit Afrika, um späterhin seiner keine Erwähnung mehr zu tun. Denn es ist kein geschichtlicher Weltteil, er hat keine Bewegung und Entwicklung aufzuweisen, und was etwa in ihm, das heisst in seinem Norden geschehen ist, gehört der asiatischen und europäischen Welt zu. [. . .] Was wir eigentlich unter Afrika verstehen, das ist das Geschichtslose und Unaufgeschlossene, das noch ganz im natürlichen Geiste befangen ist und das hier bloss an der Schwelle der Weltgeschichte vorgeführt werden musste.»

Dass von dem «Kin­derland» Afrika, «das jenseits des Tages der selbstbewussten Geschichte in die schwarze Farbe der Nacht gehüllt ist», kein Weg ins Erwachsenenalter der Mensch­heit führt, hat für Hegel eine unmittelbar politische Konsequenz. Sie betrifft die Rechtfertigung der Sklaverei.

«Sie werden verkauft und lassen sich verkaufen»

Er hält seine Vorlesungen in einer Zeit, in der in Grossbritannien, dem damals führenden europäischen Land, die abolitionistische Bewegung erstarkt. 1808 setzt dort ein Gesetz dem Sklavenhandel ein Ende, 1834 werden schliesslich alle Sklaven in den britischen Besitzungen für frei erklärt. Zwar blieb die Sklavenhaltung in anderen Ländern rechtlich noch über Jahr­zehnte bestehen; in Frankreich wurde sie 1848, in den USA 1865, in Brasilien sogar erst 1888 formell abgeschafft.

Doch stand Hegel, der die britischen Verhältnisse genau be­obach­tete, die dort aus aufklärerischen wie aus religiösen Motiven heraus betriebene Kampagne gegen die Sklaverei deutlich vor Augen. In Deutschland, wo mangels Kolonien kein ökono­misches Interesse an der Sklavenwirtschaft bestand, hatte sie schon im 18. Jahr­hun­dert em­pör­te Miss­billigung auf sich gezogen.

Zu einer so glatten Verurteilung ringt Hegel sich nicht durch, zumal die Afrikaner, wie er meint, selbst noch gar nicht über ein entsprechendes Rechtsempfinden ver­fügten. Die «Neger», teilt er sei­nem Berliner Auditorium mit, «sind als eine aus ihrer uninteressierten und interesse­losen Un­befangen­heit nicht heraustretende Kindernation zu fassen. Sie werden verkauft und lassen sich verkaufen, ohne alle Reflexion darüber, ob dies recht ist oder nicht.»

Noch nicht reif für die Freiheit

Aus dieser angeb­lichen Unmündigkeit der Opfer leitet Hegel eine Art Kompromissposition zur Ab­schaffung der Sklaverei ab. Sie sei zwar «an und für sich Unrecht, denn das Wesen des Men­schen ist die Freiheit, doch zu dieser muss er erst reif werden. Es ist also die allmähliche Abschaffung der Sklaverei etwas Angemesseneres und Richtigeres als ihre plötz­liche Auf­hebung.» Auf diese Weise wird selbst die Sklavenhaltung zu einem Bestandteil der europäi­schen Zivilisierungsmission.

Solche Äusserungen zu Afrika, von Hegel nur in widerwilliger Beiläufigkeit getätigt, sind ausser­halb Euro­pas mit kritischerer Aufmerksamkeit rezipiert worden als in den Kreisen deutscher Hegel-Forscher. Sie haben ihm den naheliegenden Vorwurf eingetragen, ein euro­zentri­scher Rassist gewesen zu sein. Der aus Äthiopien stammende Historiker Teshale Tibebu bezeichnet Hegel sogar als «Nemesis», nach dem heutigen Verständnis dieses Wortes also gerade­zu als einen «Todbringer» Afrikas und der Dritten Welt.

Doch auch in rein syste­mati­scher Hinsicht ist Hegels Haltung zu Afrika ein Problem. Sie trägt einen unauflöslichen Widerspruch in sein Gedanken­gebäude hinein. Wenn das «Wesen des Menschen» in seiner Freiheit besteht, welche Gründe kann es dann geben, die Bewohner eines ganzen Kontinents in Abhängigkeit zu halten? Wie passt andererseits der wohlmeinende Vorsatz, sie zur Reife zu führen, zu der wieder­holten Behauptung, dass ihr Zustand «keiner Entwicklung und Bildung fähig» sei?

An der Entwicklung der Menschheit teilnehmen

«Entwicklung» ist das Zauberwort, das künftige Teilhabe verspricht, das aber auch dazu dienen kann, sie aufzuschieben oder ganz zu verweigern. Dieser weit über die Philosophie hinaus folgenreiche, für die Selbstbeschreibung moderner Gesellschaften unentbehrliche Begriff erlaubt es, gewissermassen zweigleisig zu argumentieren. Zwar werden grundsätzlich allen Menschen die gleichen Rechte zuerkannt; aber der unterschiedliche Stand ihrer Ent­wick­lung stellt auf der Zeitachse den Rangunterschied wieder her. Ganz unten in der Hierar­chie finden sich diejenigen, deren Teilnahme am Entwicklungsprozess der Menschheit überhaupt infrage steht, konkret: die sich nicht in eine Genealogie des europäischen Selbstbewusstseins einfügen lassen.

In seinem geschichtsphilosophischen Vorlesungen beliefert Hegel die Berliner Zuhörer mit einer europäisch-protestantisch-deutsch-preussischen Grandiositätsphantasie. Sie erschöpft nicht den Gehalt von Hegels Denken. Seine bleibende Leistung besteht darin, die Welt im Ganzen geschichtlich begreifbar zu machen. Aber er hat das Geschichtsdenken mit Implika­tionen versehen, von denen es sich bis in unsere Tage hinein nur mühsam löst.

Albrecht Koschorke lehrt neuere deutsche Literatur und allgemeine Literaturwissenschaften in Konstanz. 2015 erschien bei Suhrkamp sein Buch «Hegel und wir».